Gesänge ohne Punkt und Komma
Die Poetik-Ecke XXXVIII gibt in vier Gesängen den Toten und den Lebenden die Sprache zurück.
Die Sprache ist auch ein Wesen. Sie leidet. Dass sie von der Macht und ihren Zöglingen an die Wand gefahren wird, versteht sich. Doch auch beim Versuch, gegen die Macht anzuschreiben und dem repressiven Zeitenlauf zu widerstehen, erfährt sie oft keine Heilung. Wenige sind es — dies ist nicht als Vorwurf gemeint —, denen es gelingt, Sprache „zu pflegen“. Und zwar gerade bei der Verarbeitung von Wirklichkeit. Der Lyriker Werner Köhne gehört zu diesen wenigen. Selbst wenn der Inhalt das Dunkle und Ausweglose fasst, schafft er etwas, das darüber hinaus weist. Aus der Schönheit, die dabei entsteht, wächst die andere Hoffnung, die nicht die Verlängerung des Leidens bedeutet. Werner Köhnes Lyrik bezieht sich bewusst auf Formen des 20. Jahrhunderts und führt diese weiter ins Noch-nicht-Bestimmte. Auf diese Weise zieht er auch die „Toten von Bergamo“ vom journalistischen Schlachtfeld ab und gibt ihnen die Würde zurück. Ein Lesegenuss für Menschen, die an kein Programm für eine andere Welt glauben, die aber gleichzeitig in ihrem tiefsten Inneren niemals aufhören, Kinder dieser anderen Welt zu sein.
Gesang 1
An die Toten von Bergamo
Ihr bleibt die der Welt Abgewandten
die Sollbruchstelle der Epoche
Opfer eines Wahns
der euch überleben lässt
im Auf und Ab der Bilder
Am Anfang Klinik-Flure
in verschorftes Licht getaucht
Bett an Bett gereiht
von einer Kamera zynisch herangezoomt
wurdet ihr zu Statthaltern
verminter Meinung auserkoren
eingebettet in einem vermumten Plan
einer Zukunft
jenseits der Menschen
mit ungelenken Leibern
und in aufreizendem Starrkrampf
wandelte man euch
— schon in Todesnähe —
zur Biomasse
dagegen erhob sich euer lautloser Schrei
von denen
die zu wenig gelebt haben
und Maientage einfordern
die heftigen Ausschläge des Glücks
des einmal nur einmal gewesen seins
wer hört euch noch
in euren Rohrstangen-Betten
an denen der Schweiß des Ungefähren klebt
der Angst vor der Angst
wie mit euch umgehen
wie eurer noch gedenken können
wo die neue Normalität und die genormte Zeit
von allen
auch euch
glatte Schnitte verlangte
selbst in totgesagten Parks wurdet ihr nicht heimisch
stattdessen stieß der längst verfemte Gemein-Sinn euch noch
einmal in ein schuldhaftes Vergessen
eingefriedet
von allzu friedfertigen
Predigern ent-sorgt
aufgebahrt in kalten Domhallen
eingehegt in einem stählernen Wahrheitsdiskurs
in jenen Tagen
hinter Trennwänden
lockte euch kein Andachts-Weihrauch
kein Kinderstaunen trieb euch hinaus
in die Zukunft
gefangen in der quälenden Notdurft eures Atems
fiel kein begütigendes Wort auf euch
kein verstohlener Blick galt euch
auch trat kein Erlkönig in stürmischer Nacht
euch einsilbig und fiebernd zur Seite
ein vermessenes Maßnehmen war es
das an euch Grenzgängern exekutiert wurde
und euch noch einmal in den Tod trieb
uns aber blieb verwehrt
über den Todesfluss mit Charon euer Begleiter zu sein
viel zu schnell verschwandet ihr im Nebel der Ereignisse
wurdet in den Schauer einer Idee vom entlebten Überleben gestellt
in kriechende Schwaden von Meinungen gehüllt
seither wandelt ihr dort
wo niemand je war
und schmerzvolle Wucherungen
im Leerraum der Diskurse
künden davon
dass es euch gab
Gesang 2
An die Sterblichen
Passanten sind wir
Wesen im Vorübergehn
halb unbemerkt
halb absichtslos
dem Gleichmaß streben wir entgegen
im Treibgut des Zufalls
was blieb von uns denn je
wohin wir uns auch wenden:
kein Wort, das währt, kein Tun
steht ein für Sinn
Antennen, die ins Leere gehn
im Stau verhetzter Ewigkeit
wer spürt da noch
den Wimpernschlag der Stille
den müde werdenden Tag
sucht nach der Erde flüsternde Früchte
dem Echo verstreuter Winde
und — ach zuletzt —
dem Klang verspielter Nächte,
worin das Leben uns umschloss
auf tönender Haut
um endlich
hinüberdämmern zu dir
Gesang 3
Erinnerung an Vergleichbares
Oh ihr Menschenkörper aus alter Zeit
wo man euch noch Leiber nannte
rauer erschienet ihr einst —
damals noch weit ausgreifend in die Kunft
unverstellter Erwartung
gekrümmt und vorgebeugt
das Gesicht verwunschen und verwundert
so wie sie uns
den Nachgeborenen heute noch entgegengehn
aus nackten Kirchennischen
sich lösend
ohne die eifernde Scham der allzu Ge-Rechten
in einer uns
abgewandten Innerlichkeit,
kehren sie zurück in ihre Ursprungsbilder
Leiber wart ihr und bleibt ihr
im Schlund des Nie wieder
Leiber die einst eher an einen Torso erinnern
von Pestbeulen und Verschürfungen übersät
ach ihr Kleinwüchsigen
in Gebein und Pein gegossen
auf das Rad gespannt
oder gepfählt auf Holzpfosten
wie littet ihr an schaudernder Unendlichkeit
anders als wir
die wir zur Vorläufigkeit geschrumpft sind
Wie sollten wir da zusammenkommen?
Gesang 4
Verwiesen in die Dunkelgänge des Verschweigens
wer sucht da noch nach dem was geschah — der
Grauzone morgens
dem Lichtzwang über den schwelenden Rauch über
dem Ausritt in die Welt des es war als ob …
jenseits des bunten Markts des Bessermachens
des Höher Hinaus
Aus tausend Richtigkeiten
bespielen wir unseren Alltag:
letzte Zeugen einer Gleich-Gültigkeit
die sich nahtlos fügt den Verlockungen
der Empfindsamkeit