Gott ist doch nicht tot

Die Kraft des Geistes wirkt auch in dunklen Zeiten.

Gott hat die Welt doch nicht ganz verlassen. Es gibt sie noch, die kleinen Geschichten, die gut enden. Und wenn sie Menschen betreffen, die Sand im Getriebe sind und nicht Öl, dann ist die Schönheit doppelt. Marina Silalahi erzählt eine solche kleine Geschichte, die jemanden betrifft, der seine Sprache auch im Rahmen dieses Magazins immer wieder mal zur messerscharfen Schönheit formt.

Vier Etagen keuchte ich mit zwanzig Kilogramm Gepäck die steile Treppe hinauf. Die Tür zur Wohnung war wie immer einen Spalt geöffnet. Dieses Mal wurde ich nicht mit überschwänglicher Freude begrüßt. Eingesunken und blass stand er vor mir im Flur, als hätte er das Leben wie ein schmutziges Hemd ausgezogen. Mit eingeknickten Beinen wankte er auf das Sofa zu, um vielleicht noch den letzten Hauch Leben von sich zu lassen.

„Sprich nicht, sag nichts“, sagte er mit leiser, kaum vernehmbarer Stimme. Er gestikulierte mit den Händen, als wollte er nach Wörtern greifen, die ihn verlassen haben. Entsetzt und mit aufgerissenen Augen starrte er ins Leere und legte sich auf die Couch. „Ich geh jetzt …“, hörte ich ihn stammeln.

Ich saß auf dem Sofa, schaute in sein eingefallenes, blasses Gesicht. Ein Joghurt, unangerührt, wahrscheinlich noch vom Vortag, stand auf dem Tisch. Ich erinnerte mich daran, dass Todgeweihte die Nahrungsaufnahme verweigern, und wunderte mich, wie ruhig ich blieb. Keineswegs wollte ich den Notarzt rufen. Außer einigen unsinnigen lebensverlängernden Maßnahmen wäre ihnen ohnehin nichts eingefallen.

Ich ging ins Schlafzimmer und packte meine Sachen aus. An meinem Bett stand eine dunkelrote Rose in einer Vase. Als würde in dieser vom Tode gezeichneten Umgebung das Leben sich eindringlicher und intensiver zeigen, präsentierte sich die Rose in einer Schönheit, wie ich sie noch nie wahrgenommen hatte. Die Blütenblätter waren wie von Samt überzogen. Die Farbe so rot wie ein geschliffener Rubin. Wehmütig steckte ich meine Nase in die Blüte und inhalierte ihren Duft.

Mir war mit einem Mal klar, was der Autor Andrew Pacholyk über das Mysterium sagte, das sich mit der Rose verbindet:

„Die sanfte Rose bietet eine mächtige Freude, die nur das Herz kennt.“

Ich ließ mich wenig später auf der Sofakante meines Freundes nieder und versuchte seine kalten Hände zu wärmen. In unzusammenhängenden Worten gab er mir zu verstehen, dass er die Rose vorhin für mich gekauft hatte, wobei er sich sowohl beim Runter- als auch beim Raufsteigen mehrmals auf den Treppen ausruhen musste. „Ostfriesland … nur noch einmal“, sagte er kaum vernehmbar.

Natürlich möchte ich einem Sterbenden den letzten Wunsch erfüllen. Aber wie? Vom Betreten der Wohnung an bis jetzt war ich gefasst, ruhig. Meine einzige Sorge war, wie ich die Fahrt mit ihm nach Ostfriesland stemmen sollte. Vor meinem geistigen Auge sah ich Streckensperrungen, defekte Oberleitungen, ausgefallenes Personal, und Rinder auf der Fahrbahn, die eine reibungslose Fahrt unmöglich machen. Intuitiv, fast wie ein aufkommender Befehl, formte ich meine beiden Hände zu einer Schale. Vorsichtig umhüllte ich damit seinen Hinterkopf. Wiederholend, wie ein Mantra, sagte ich innerlich Bibelverse auf und bemerkte dabei, wie meine Hände heißer wurden, ja fast brannten. Diese Prozedur hielt ich eine knappe halbe Stunde durch. Dann ließ ich ihn schlafen. Er schlief bis zum nächsten Morgen.

Kraft und Leben waren wieder in seinen Körper zurückgekehrt. Was mich besonders freute, war das Wiedergewinnen seiner Sprache. Das Grab, das seine Wörter begraben hatte, öffnete sich langsam, und heraus sprangen ganze Sätze, wie nur er sie zu formulieren vermag. Es wunderte mich nicht einmal, als er am Abend einen großen Teller Spaghetti aß. Das war Sonntag, ein Tag nach meiner Ankunft. Ich buchte zwei Tickets mit der Bahn nach Ostfriesland für den Dienstag. Das Risiko galt es einzugehen.

Eine Horde Engel mussten wohl dem Befehl Gottes gehorcht haben, als sie uns unbeschadet und auf direktem Weg und ohne Umstände nach Hause begleiteten. Der ICE fuhr pünktlich in Hamburg ab. Unser Wagen war fast leer. Der Zug sollte in Gleis 9 in Bremen einfahren. Allerdings funktionierte der Aufzug ausgerechnet auf Gleis 9 nicht. Was soll ich sagen? Der Zug wurde umgeleitet und fuhr pünktlich auf Gleis 7 ein. Ausgerechnet hier aber funktionierte der Fahrstuhl. Das Umsteigen war gut zu bewältigen. Ankunft in Ostfriesland pünktlich, und sogar die Stufen des Wagens waren auf Gleishöhe gestellt worden. Mein Fahrzeug wartete auf dem Bahnhofsparkplatz. Bequemer habe ich die Fahrt noch nie erlebt.

Und jetzt, zwei Tage später, ist er wieder der „Alte“ und freut sich seines Lebens. Ich danke. Ohgottohgott.