Greifbares Utopia

Zwei Schreibende mit unterschiedlichem Hintergrund sprechen über unsere Chancen, schon jetzt Schritte in eine lebenswertere Zukunft zu gehen.

Die Autoren Katrin McClean und Lino Zeddies stammen aus unterschiedlichen Generationen. Als einstige Aktivistin, die den DDR-Sozialismus reformieren wollte, erinnert Katrin McClean (56) in ihrem gerade erschienenen Roman „Aus dem Takt — ein Ost-West-Roman“ an die idealistische Erziehung ihrer Kindheit, die ihre Hauptfigur noch immer prägt und mit den heutigen Verhältnissen in starke Konflikte bringt. Lino Zeddies (29) dagegen trommelt für Optimismus und schildert in seinem ersten Roman „Utopia 2048“ eine Welt, in der viele soziale und ökologische Utopien bereits umgesetzt wurden. In einem Gespräch suchen beide Autoren nach positiven Ansätzen in einer eher deprimierenden Zeit.

Katrin McClean: Lino, du hast für dein Buch sehr viele zukunftsweisende Konzepte verarbeitet, die über eine große Bandbreite reichen. Dabei bist du selbst gerade 29 Jahre jung, und es wirkt, als hättest du in kurzer Zeit mindestens fünf Mal studiert. Wie kam es zu diesem vielfältigen Wissen?

Lino Zeddies: Allgemein lerne ich sehr gut autodidaktisch und verschlinge Bücher zuhauf. Angefangen habe ich ganz klassisch mit einem VWL-Studium. Damit war ich jedoch sehr unzufrieden, da ich dort überwiegend weltfremde Formeln und Theorien gelernt habe. Mein Wissensdurst, die Welt zu verstehen, wurde stattdessen durch alternative ökonomische Ansätze bedient, die aber im Studium so gut wie gar nicht vorkamen. Gleichgesinnte habe ich dann im Netzwerk Plurale Ökonomik e.V. gefunden. Etwas später wanderte meine Faszination zum Geldsystem und den Ansätzen für eine Geldreform, und ich engagierte mich für Monetative e.V. und im International Movement for Monetary Reform.

Schließlich merkte ich jedoch, dass es nicht reicht, tolle Ideen für gesellschaftlichen Wandel zu haben, sondern dass die Organisationen neue Formen der Zusammenarbeit und Kommunikation brauchen, um wirklich wirksam zu werden. Weiterhin erfordert die Transformationen von Organisationen auch eine Transformation der dort wirkenden Menschen. So beschäftigte ich mich mit Organisationsentwicklung, Psychotherapie und Coaching.

In meinem Buch „Utopia 2048“ konnte ich meine Erfahrungen aus diesen vielfältigen Bereichen zusammenfügen, und im Rückblick ergibt mein Ritt durch diese unterschiedlichen Themen nun endlich Sinn.

Wie konntest du diesen Erkenntnisweg finanzieren? Kurz gesagt, wovon lebst du eigentlich?

Das war ganz unterschiedlich. Ich hatte nach dem Studium so eine Art Grundeinkommensmentalität und das hat letztlich funktioniert.

Das heißt, du hast von Grundsicherung gelebt?

Nein, gar nicht. Ich habe ziemlich radikal nur Projekte gemacht, auf die ich Lust hatte, also zum Beispiel nur für progressive Organisationen gearbeitet und sinnstiftende Projekte gemacht. Wundersamerweise habe ich trotzdem immer gerade so viel Geld verdient, wie ich zum Leben brauchte. Ich brauche auch nicht allzu viel, das machte die Sache natürlich einfacher. Allerdings hätte ich im Notfall bei meinen Eltern finanzielle Unterstützung bekommen können, die habe ich letztlich zwar nicht gebraucht, aber ohne das große Privileg eines solchen Sicherheitsnetzes im Rücken hätte ich die Unsicherheit eines solchen Lebensstils wahrscheinlich nicht gewagt.

Ich habe auch wirklich nicht viel verdient, weil sich Vereine wie Monetative e.V. über Spenden erhalten und das sind nicht sehr viele. Wenn man das Geldsystem verändern will, ist es schwer, Geld dafür zu bekommen.

Klingt irgendwie logisch.

Deshalb hab ich auch ziemlich bald weitere Jobs gemacht, etwa als Organisationsentwickler oder Workshop-Leiter bis hin zum Coach und Heilpraktiker für Psychotherapie.

Was sich ja auch in deinem Buch widerspiegelt. Die Helden Lena und Jannis, die nach 30 Jahren Komaschlaf in einer neuen Welt aufwachen, lernen unter anderem, wie die Menschen in dieser Zukunft ihre Probleme mit einfachen und praktischen Tools lösen. Zum Beispiel, indem sie nicht mehr den Konsens suchen, sondern „nur“ den Konsent, also die Einigung darauf, welche Lösung die wenigste Ablehnung findet, womit also alle am besten leben können. Nicht das Optimum, sondern das harmonische Miteinander steht im Vordergrund.

Gerade diese sehr praktischen Lösungen haben mir wieder neues Vertrauen in solche Utopien vermittelt. Für mich ist das wirklich von biografischer Bedeutung. Ich bin ja in der DDR groß geworden. Und in dieser Gesellschaft waren immerhin schon einige Dinge dessen verwirklicht, was auch in deiner Utopie eine Rolle spielt. Also etwa, dass Gewinne, die von vielen Menschen erwirtschaftet wurden, nicht privatisiert werden konnten. Profitstreben als Triebkraft der Gesellschaft fiel da mehr oder weniger aus. Entwicklungen kamen vor allem durch den Idealismus Einzelner voran. Ich habe in der DDR allerdings die Erfahrung gemacht, dass sich nicht gerade viele Menschen freiwillig für idealistische Ziele engagiert haben. In deiner Gesellschaft scheint eine gewisse Portion Idealismus aber zu jedem Menschen zu gehören. Was glaubst du, warum das dieses Mal funktionieren soll?

Meine Intuition zum Leben in der DDR ist eher grau und uninspirierend, vielleicht lag es daran, dass man wenig Anreize für idealistische Gedanken hatte. Hast du das anders erlebt?

Für mich ist das ein Blick von außen. Ich selbst kannte es nicht anders. Und für mich war es gerade dieser Mangel, der Kreativität erzeugt hat und gerade die relativ erstarrten Verhältnisse Ende der Achtziger Jahren beflügelten bei uns die Sehnsucht nach Veränderung.

Als ich zum ersten Mal im Westen war, hatte ich dagegen das Gefühl, dass es viel zu viel von allem gab. Ich empfand das überhaupt nicht als angenehm. Im Gegenteil, dass man bei diesem Warenüberfluss kein Wirtschaftswachstum mehr braucht, war für mich geradezu körperlich spürbar.

Deshalb noch mal meine Frage: Was glaubst du, was kann Menschen von heute dazu motivieren, egoistische Beweggründe aufzugeben und sich für idealistische oder zumindest gemeinschaftliche Ziele einzusetzen?

Mein eigener Aktivismus hat nach einem Auslandssemester in Kalifornien begonnen. Ich hatte dort eine wunderbare Zeit mit einer inspirierenden internationalen Gemeinschaft von Studierenden, mit tief berührenden Naturerfahrungen und so vielen besonderen Momenten und Erlebnissen, dass ich mich davon reich beschenkt fühlte und den Wunsch entwickelte, der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Ich glaube, solche Erfahrungen sind ein guter Antrieb für Idealismus.

Wir müssen es schaffen, dass sich noch viel mehr Menschen von ihrem Leben so beschenkt fühlen, dass auch sie etwas zurückgeben möchten. Ich schätze, durch ein bedingungsloses Grundeinkommen könnte man zumindest in Ansätzen für viele Menschen einen solchen Impuls erzeugen.

Bis heute erlebe ich idealistisches Engagement für eine schönere Welt als ausgesprochen erfüllend, insbesondere wenn man Erfolge erlebt. Vielen Menschen fehlt allerdings die Erfahrung solcher positiver Selbstwirksamkeit für eine gute Sache und viele der typischen Strukturen, wie zum Beispiel Mitgliedschaft in Parteien oder in Vereinen sind ja häufig eher Beschäftigungstherapie als wirklich aktivierend und inspirierend. Prinzipiell sehe ich da aber ein enormes Potenzial, an das die Menschen nur herangeführt werden müssen und dann eigentlich begeistert aufspringen dürften.

Mit der Umkehr vom Profitstreben zu solchem Idealismus treibst du es in deinem Buch auch ziemlich auf die Spitze. Du erzählst zum Beispiel, Bill Gates und Warren Buffet hätten als erste ihren Reichtum abgegeben, um ihn zur Finanzierung des Grundeinkommens durch Landverpachtung zu verwenden. Und dieser Initiative sind dann zahlreiche Superreiche dieser Welt gefolgt. Ganz im Ernst: Glaubst du, dass so etwas wirklich möglich sein könnte?

Im Moment halte ich das auch für sehr abwegig, aber ich denke, es ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Wenn sich Normen und Werte in einer Gesellschaft verändern und sich eine andere Kultur verbreitet, dann würden Dinge, die wir jetzt noch für normal halten, plötzlich ganz anders aussehen.

Vielleicht würden dann auch ein Bill Gates oder ein Warren Buffet erkennen, dass es mehr Freude und Freiheit schafft, Kontrolle, Geld und Macht loszulassen und mit einer demokratischen Gesellschaft zu teilen.

Ich habe jedenfalls das Gefühl, dass in der gegenwärtigen Gesellschaft viele Dinge so hohl und sinnlos sind, dass der Moment aussteht, wo endlich jemand ganz laut ruft: Der Kaiser ist nackt.

Auf der anderen Seite stehen natürlich all die vielen Menschen, denen nichts weiter übrig bleibt als der Wunsch nach einer besseren Gesellschaft. Wobei die meisten wohl auch das Gefühl haben, so eine Gesellschaft wäre eigentlich unerreichbar. Doch es ist ja auch so, dass man Wünsche erst einmal denken muss, bevor sie wahr werden können. Wer in einer besseren Welt leben will, muss sie sich erst einmal vorgestellt haben. Inwieweit spielte dieser Gedanke beim Schreiben deines Buches eine Rolle?

Das halte ich für ganz zentral. Dabei ist ja auch klar, welche enorme Kraft das Unterbewusstsein spielt. Wir können Gedanken unbewusst mit uns tragen und sie können unser Leben sehr stark beeinflussen. Gerade deshalb ist es wichtig, dass sich positive Visionen in uns verankern, die wirken, auch wenn wir gerade nicht an sie denken. Doch zurzeit herrscht ein schmerzlicher Mangel an inspirierenden Zukunftsbildern. Ich hoffe, dass sich neue ganzheitliche Visionen durchsetzen werden, die eine große Strahlkraft bekommen und zum Wandel einladen.

Außerdem erlebe ich, dass zu viel Aktivismus primär gegen das bisherige System gerichtet, aber visionslos ist. Das ist ein historischer Fehler, den wir endlich begreifen müssen. Alle Bewegungen, die nur gegen etwas waren, sind am Ende wieder selbst destruktiv geworden. Weil sich so die Logik unserer Gesellschaft nicht oder kaum geändert hat und weil die Erkenntnis in die Notwendigkeit des inneren Wandels vollkommen gefehlt hat. Hier will ich mit meinem Buch eine positive Motivation setzen.

Außerdem hoffe ich, dass die einzelnen AkteurInnen erkennen, dass sie Teil eines großen Bildes des Wandels sind. AktivistInnen stehen momentan noch zu sehr miteinander im Wettbewerb. Es gibt noch viel zu oft dieses Phänomen wie im Monty-Python-Film, wo die Volksfront von Judäa gegen die judäische Volksfront kämpft. Aber eigentlich wirken der Permakultur-Landwirt, die Demokratieaktivistin und der progressive Lehrer an der gleichen Vision einer schöneren Welt voller Frieden, Freiheit und Einklang mit der Natur. Zu erkennen, dass wir an unterschiedlichen Facetten des gleichen Wandels wirken und so Teile einer wichtigen Gesamtheit sind, kann viel Kraft entfalten.

Oh ja, dieses Gegeneinander kenne ich. Als ich 2014 in die Friedensbewegung eingestiegen bin, ist mir ziemlich bald aufgefallen, wie schwierig es ist, zu einem gemeinsamen Standpunkt zu gelangen. Ich hatte oft das Gefühl: Jetzt haben wir es doch eigentlich und es fehlt nur noch, dass jetzt einfach alle einmal nicken, aber es kam immer noch irgendjemand, der noch etwas hinzufügen oder sagen musste, und die Sache nahm kein Ende. Ich konnte mir das nur als Folge eines ständigen Lebens im Wettbewerb erklären.

Ich würde sogar behaupten, dass solche Entscheidungsfindungen mit DDR-Leuten einfacher waren und vielleicht sogar bis heute sind, weil sie noch nicht so tief von einer Konkurrenzgesellschaft geprägt sind.

Und dabei steigt der Konkurrenzdruck in den neuen Arbeitswelten noch. Also, wenn man etwa als Fahrradkurier nur noch von Auftrag zu Auftrag rast, und dabei über Bewertungssysteme ständig in Konkurrenz zu „Mitbewerbern“ steht, werden aus einstigen Kollegen Gegner.

Das wurde in dem Film „Der marktgerechte Mensch“ eindrücklich gezeigt. Da wird bereits nachgewiesen, dass junge Menschen weniger Partnerschaften eingehen oder Formen des gemeinschaftlichen Lebens immer weniger pflegen, stattdessen aber Depressionen und psychische Störungen allgemein zunehmen.

Besonders da, wo Arbeit immer stärker digitalisiert wird und Jobs auf Abruf inzwischen über Algorithmen vergeben werden. Menschen werden regelrecht in den Egoismus hineingetrieben. All das ist doch eigentlich das genaue Gegenteil von dem, was du in deinem Buch beschreibst.

Es heißt ja: Die Nacht ist am dunkelsten, bevor die Sonne aufgeht. Ich sehe diese negativen Tendenzen genauso.

Ich habe aber auch das Gefühl, dass immer mehr Menschen merken, wie absurd diese Gesellschaft ist und daher auch offener für Alternativen werden.

In den 1970ern hatte der Kapitalismus und sein Narrativ von Wachstum und Fortschritt noch Strahlkraft, aber wer glaubt denn heute noch daran? Das gegenwärtige System ist in seinen Grundfesten marode.

Noch fehlen in der Öffentlichkeit überzeugende gesamtgesellschaftliche Alternativen. Viele scheinen zu glauben, der Kapitalismus ist zwar höchst problematisch, aber der Kommunismus hat ja auch nicht funktioniert, also gibt es keine Alternative. Dabei gibt es zahlreiche Entwicklungspfade für Gesellschaften. Wenn ein Land Vorreiter werden würde und zum Beispiel Gemeinwohlökonomie und Grundeinkommen zugleich einführen würde, und das dann klappt, dann glaube ich schon, dass sehr viele andere Länder diesem Beispiel sehr schnell folgen würden.

Ich sehe das meiste Potenzial im Moment darin, dass sich die verschiedenen Wandelbewegungen zusammenschließen: Permakultur, Geldreform, Demokratiebewegungen, alle zusammen bilden eine neue Systemlogik, die gut funktionieren könnte.

Das klingt wunderbar optimistisch. Ich muss jetzt aber doch noch mal mit Pessimismus kommen. Für mich hatte das sozialistische System, also zumindest das in der DDR der 1970er- und 1980er-Jahre, ein sehr großes Potenzial für eine soziale und gerechte Gesellschaft. Andererseits ist nicht zu leugnen, dass die sozialistische Ländergemeinschaft von Anfang an starke Gegner hatte, die dem Erfolg des sozialistischen Experimentes massiv entgegenwirkten. Militärische Bedrohung, Wirtschaftsembargos und permanenter politischen Druck des Westens verstärkte entsprechende Abwehrmechanismen, die das Entstehen einer friedlichen Staatengemeinschaft wesentlich behinderten. Niemand weiß, wie sich dieses Experiment ohne die ständige Bedrohung von außen weiter entwickelt hätte.

Heute gibt es diese verschiedenen Systeme so nicht mehr. Mit Corona erleben wir wohl zum ersten Mal, wie auf der ganzen Welt dieselben restriktiven Maßnahmen durchgesetzt werden. Wir sind diesem System in jedem einzelnen Land ausgeliefert. Das ist beängstigend. Aber manchmal frage ich mich, ob genau das auch unsere Chance ist, dass es im Grunde keine Fluchtmöglichkeiten mehr gibt und wir gezwungen sind, uns mit dem auseinanderzusetzen, was jetzt ist.

Müssten wir dann aber nicht als erstes das enorme Ungleichgewicht zwischen dem „reichen“ Norden und dem „armen“ Süden dieses Planeten auflösen?

In meinem Buch ist die Vormachtstellung der USA thematisiert beziehungsweise der Machtfall der USA als Ermöglichung für eine neu erstarkte demokratische und friedliche internationale Gemeinschaft. Hier liegt für mich ein ganz wesentlicher Schlüssel zur Lösung. Von den USA werden gegenwärtig sehr viele positive Entwicklungen verhindert, die von internationalen Organisationen immer wieder angestrebt werden.

Die USA sind ja vor allem Sitz der mächtigsten multinationalen Konzerne und der Finanzindustrie, sie dominieren mit einem gigantischen militärischen Übergewicht den Planeten und sind zudem auch Sitz und Geldgeber der wichtigsten internationalen Organisationen wie WHO, IWF oder UNO.

Richtig. Und leider weiß man auch, dass die USA schon mehrfach Versuche von sozialen Reformen in anderen Ländern zum Scheitern gebracht haben und dass progressive Regierungen destabilisiert wurden, wenn sie den Interessen der USA im Wege standen.

Gerade jetzt ist es doch auch schon wieder so, dass die größten Profiteure der Corona-Krise in den USA sitzen. Also die Unternehmen des Silicon Valley, von Amazon bis Microsoft machen derzeit gigantische Rekordumsätze und planen bereits die weitere Digitalisierung der gesamten globalen Gesellschaft.

In deiner Gesellschaftsutopie ist die Welt ebenfalls hoch technologisiert. Lena macht etwa eine Reise durch Singapur, die unter Verwendung einer Drohne rein digital stattfindet, sich aber bis auf die Funktionen Schmecken und Berühren vollkommen echt und lebensnah anfühlt. Andererseits wissen wir, dass digitale Technologien den höchsten Ressourcenverbrauch überhaupt haben,und dass der Preis dafür noch immer in den ärmsten Ländern der Erde gezahlt wird. Etwa durch den Raubbau von Ressourcen unter extremster Ausbeutung von Natur und Arbeitskräften. Wie geht das mit deiner sozialen ökologischen Utopie zusammen?

Ich muss zugeben, dass diese technologischen Utopien mehr aus dem Motiv kamen, den Roman auch ein bisschen unterhaltsam zu gestalten. Solche technischen Spielereien lesen sich einfach gut. Aber prinzipiell könnte ich darauf verzichten. Mein Hauptanliegen sind die gesellschaftlichen Entwicklungen.

Gleichzeitig denke ich, dass technologischer Fortschritt nicht zwingend Mehrverbrauch bedeuten muss. Zum Beispiel, indem man immer stärker nach recycelbaren Materialien strebt oder indem das Sharing von Technologien künftig den Privatbesitz immer mehr ablöst. Wenn Lena also mit einer geliehenen Drohne virtuell nach Singapur reist, besitzt sie diese Drohne nicht, sondern teilt sie mit zahlreichen anderen Nutzern, für die Langstreckenflüge inzwischen zur absoluten Ausnahme geworden sind. Wobei in meinem Buch vorwiegend mit schadstoffarmen und relativ langsamen Zeppelinen geflogen wird. Und natürlich dürfen Ressourcen dann nicht mehr in Sklavenarbeit abgebaut werden.

Kommen wir noch mal auf die Coronakrise zurück, die sich ja zunehmend als Demokratiekrise erkennen lässt und eine beispiellose Selbstermächtigung aller Regierungen offenbart.

Die ersten Maßnahmen wurden kurz vor der geplanten Veröffentlichung deines Buches vorgenommen. Dabei hast du, was ich ziemlich bewundernswert finde, kurzfristig reagiert, und diese Krise in die Erzählungen deines Buches eingearbeitet. Sie erscheint rückblickend als globale Welle der Solidarisierung und praktisch als ein wichtiger Auslöser der Umwälzungen in den folgenden Jahren.

Wir haben inzwischen Juni, es werden immer weiter Maßnahmen aufrechterhalten, wie Maskenpflicht und Hygienekonzepte für jede Art von Veranstaltung, deren Sinn und Notwendigkeit von immer mehr Menschen bezweifelt wird. Wie schätzt du die Lage heute ein? Immer noch so optimistisch wie in deinem Buch?

Ich denke, dass wir die Folgen noch lange zu spüren bekommen. Ein Beispiel ist der massive Rückgang der Textilindustrie, der für einen großen Teil der Bevölkerung in Asien oder Nordafrika Jobverlust und drohende Armut bedeutet. Die Entscheidungen, wie man damit umgeht, sind aber noch offen. Wird das abgefedert? Kommt man endlich zu der Einsicht, dass unser Wirtschaftssystem eine grundlegende Veränderung braucht? Manche politischen Entscheidungen lassen leichte Hoffnung aufkommen.

Mehrwertsteuersenkung ist zumindest besser als eine neue Abwrackprämie, aber dennoch nicht zielgerichtet genug, um beispielsweise die gesteckten Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Noch sind wir mitten drin in der Krise und alles ist offen.

Was ich im Nachhinein im Buch gern noch aufgenommen hätte, wäre, dass die Regierungen sich in der Coronakrise viel mehr auf die aktive Stärkung der Gesundheit konzentriert hätten. Also anstelle nur Schutzmaßnahmen anzuordnen alles für eine Stärkung des Immunsystems zu tun, etwa starke Anreize für gesunde Ernährung zu setzen, Fast-Food-Ketten hoch zu besteuern oder mehr Wissen über Gesundheitsmaßnahmen wie Yoga und Meditation zu verbreiten.

Stattdessen wird Angst vor Corona geschürt, doch permanente Angst schwächt das Immunsystem.

Das Immunsystem wird ja auch mit sozialen Kontakten, mit körperlicher Nähe gestärkt. Glücksgefühle entstehen am ehesten in einer echten, lebendigen Gemeinschaft und fördern nachweislich die individuelle Gesundheit. Anstatt das zu nutzen, schürt man die Angst vor den Mitmenschen.

Ja, es ist eine Tragödie. Auf jeden Fall erlebe ich die Coronakrise als großen Prozessbeschleuniger, der sehr vieles in Bewegung bringt. Ich bin gespannt, was die Zukunft bringen wird. Große Veränderungen werden kommen — by design or by desaster.

Umso mehr lohnt es sich, dein Buch zu lesen, um sich ein Leben in Vernunft und Harmonie schon einmal vorzustellen. Meditation und Entspannungstechniken gehören da zu den wichtigsten kulturellen Grundlagen. Das Buch beginnt ja schon damit, dass Lena aufwacht und in einer Nachrichtensendung sieht, wie die neue deutsche Kanzlerin am Welt-Yoga-Tag gemeinsam mit anderen den Sonnengruß übt.

Das Verblüffende an deinem Roman ist, dass die Protagonisten Lena und Jannis kaum einen persönlichen Konflikt durchleben und trotzdem ist es unheimlich spannend zu lesen, wie die beiden durch eine Welt voller Lösungen spazieren. Mir hat das richtig großen Spaß gemacht.

Danke, das freut mich zu hören!

Danke dir für das Buch und dieses Gespräch.