Habgier erzeugt Widerstand

Der Wohlstand, um den es seit Jahrhunderten geht, kommt in der breiten Bevölkerung — also bei denen, die ihn erarbeiten — nicht an. Exklusivabdruck aus „Unmöglicher Wandel?“.

Der 1. Mai, der „Tag der Arbeit“, ist der Feiertag, an dem man mit ein paar Leuten und einem Bollerwagen umherzieht, den Grill anschmeißt und sich dabei meist betrinkt. Doch der Tag nennt sich auch „Internationaler Kampftag der Arbeiterklasse“, und er soll daran erinnern, wie sich das Proletariat weltweit den Achtstundentag erkämpft hatte. Eine Errungenschaft. Was hat sich seitdem geändert? Wie steht es heute um die Arbeiterklasse — gerade in einem reichen Land wie Deutschland? Ein Streifzug durch Geschichte und Gegenwart. Ein Text zur Sonderausgabe „Armut in Deutschland“.

Wie „Monopoly“ — nur schlimmer!

„Nennen Sie ein Brettspiel, das jeder hasst“. Natürlich: „Monopoly“. Neben „Mensch ärgere dich nicht“ das wahrscheinlich meist gehasste, aber auch eins der erfolgreichsten Brettspiele weltweit. Ursprünglich wurde es 1903 von Elizabeth Magie unter dem Namen „The Landlord’s Game“ patentiert und sollte die Ungerechtigkeit des Kapitalismus deutlich machen (1).

Das Spielprinzip basiert auf dem Zufall, die Vermögensanhäufung wird durch das Werfen zweier Würfel entschieden. Natürlich starten alle Mitspieler unter denselben Bedingungen. Wer allerdings das Glück hat, sich die besten oder die meisten Straßen zu sichern, der wird nach und nach so reich, dass die anderen Spieler irgendwann aus Verzweiflung aufgeben, weil sie völlig pleite sind. Großartig, oder?

Der US-amerikanische Psychologe Paul Piff hat mit seinen Kollegen verschiedene Studien zum Thema soziale Ungleichheit durchgeführt. Bekannt ist er besonders für sein „Monopoly-Experiment“, das er mit über hundert Probanden durchführte (2). Der Ablauf war folgendermaßen: Je zwei fremde Personen spielten 15 Minuten lang gegeneinander. Der Clou war, dass vor Spielbeginn ein Münzwurf entschied, welcher der beiden Spieler der Arme und welcher der Reiche ist. Konkret heißt das: Der reiche Spieler bekam doppelt so viel Startkapital, bekam doppelt so viel Geld, wenn er über „Los“ ging und bekam zwei Würfel, statt einen. Klingt unfair? Ist es auch.

Die Probanden wurden dabei mit versteckter Kamera gefilmt, um zu beobachten, wie sie sich während des Spiels verhielten. Interessanterweise verhielten sich die Spieler auch deutlich unterschiedlich. So bewegte der reiche Spieler seine Spielfigur nicht nur lauter auf dem Spielbrett, er begann sogar „regelrecht mit seiner Spielfigur auf das Spielbrett einzuhämmern“, so Piff. Weiterhin zeigten die reichen Spieler häufiger dominantes und nonverbales Verhalten — jubelten zum Beispiel häufiger.

Auch unterschied sich das Konsumverhalten, das heißt sie bedienten sich deutlich häufiger an der Schale mit Salzbrezeln, die auf dem Tisch neben ihnen stand. Im Verlauf des Spiels wurden die reichen Spieler zudem immer unhöflicher und gaben mit ihrem Erfolg an. „Ich kann mir alles leisten“, hieß es von einem Spieler oder „Ich kaufe das ganze Brett auf“ sagte eine andere Spielerin. Der wichtigste Befund war allerdings, dass die Spieler gar nicht ihre vorteilhaften Bedingungen für ihren Erfolg verantwortlich gemacht hatten, sondern der Ansicht waren, ihr eigenes Spielverhalten habe dazu geführt. Doch in Wirklichkeit wurde ihr Erfolg einzig und allein durch einen Münzwurf entschieden!

Diese Ungleichheit und Ungerechtigkeit erkannte auch schon Thomas Morus (1478 bis 1535) in seinem 1516 veröffentlichten Roman „Utopia“, der den Begriff Utopie prägte. Der Begriff stammt übrigens aus dem Altgriechischen und besteht aus den Wörtern οὐ für „nicht“ und tópos für „Ort“ — zusammengesetzt also „Nicht-Ort“. Im Roman beschrieb Morus eine Insel namens Utopia, ein paradiesischer Ort mit einem perfekten Gesellschaftssystem.

Allerdings fiel ihm auch etwas auf, was bis heute seine Gültigkeit nicht verloren hat. Er stellte nämlich fest, dass „das seiner Natur nach ganz unnütze Gold jetzt in der Werthschätzung aller Völker so hoch stehe, daß der Mensch selbst, durch den und dessen Gebrauch es erst jenen Werth erhalten hat, viel niedriger geschätzt wird“ (3).

Das heißt also, dass das Gold — etwas an sich wertloses — von den Menschen überschätzt und der Wert der Menschen selbst aber unterschätzt wurde. Eine unglaubliche Bankrotterklärung! Weiterhin stellte er noch eine andere Tatsache fest. Denn diese Überschätzung des Goldes gehe so weit, „daß irgend ein Dummkopf, der nicht mehr Verstand hat als ein Holzklotz, und ebenso schlecht als dumm ist, viele weise und brave Männer in seiner Dienstbarkeit hat, und das nur deswegen, weil er zufällig einen größeren Haufen gemünzten Goldes besitzt“. Die Betonung liegt hier wieder auf „zufällig“!

Durch Habgier entsteht Widerstand

Mit der französischen Revolution im Jahre 1789 und der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte galt der Feudalismus als besiegt. Leider entstand daraus ein System, was bis heute vorherrschend ist. Mit der industriellen Revolution Mitte des 18. Jahrhundert begann die Geschichte des (industriellen) Kapitalismus.

Ursprünglich ging es darum, den Menschen die Arbeit zu erleichtern, indem Maschinen ihnen viel körperliche Arbeit abnehmen sollten. Eigentlich etwas Gutes. Das Problem dabei war, dass die kapitalistischen Fabrikbesitzer den Vorteil erkannten, dadurch auch mehr produzieren zu können — genauer gesagt, produzieren zu lassen. Sie hatten also zwei große Dollarzeichen in den Augen. Die Situation war folgendermaßen: Entweder man wird in der Klasse des Proletariats (Arbeiterklasse) oder in der Bourgeoisie (wohlhabendes Bürgertum) geboren — der Zufall entscheidet.

Wer also wohlhabend war, konnte andere für sich arbeiten lassen und damit seinen Wohlstand vermehren. Wer allerdings kein Geld hatte, musste für einen Hungerlohn reinknüppeln, was das Zeug hält, um irgendwie zu überleben — meist weit über 12 Stunden täglich. Natürlich waren auch Kinder nicht davon ausgeschlossen.

„Aber es gab doch auch freie Kleinbauern, die sich selbst versorgen konnten und sich nicht ausbeuten lassen mussten“, wird es jetzt heißen. Die gab es bis dahin auch. Doch wurde das Land der Kleinbauern weitestgehend von den wohlhabenden Kapitalisten aufgekauft — oder einfach eingezäunt und beansprucht (4). Auf der Suche nach finanziellen Mitteln, blieb den nun besitzlosen Kleinbauern also nichts anderes übrig, als in die Städte zu ziehen, um dort für wenig Geld schuften zu gehen — unter schlimmsten Bedingungen. Zur Erinnerung: Artikel 1 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 24. Juni 1793 lautete: „Das Ziel der Gesellschaft ist das allgemeine Glück“ (5).

Die Arbeiterklasse ließ sich diese Ungerechtigkeiten allerdings nicht gefallen. Es entstand mit dem Sozialismus ein Klassenkampf gegen die Ausbeutung. Deshalb kam es in der Zeit zu verschiedenen bürgerlichen Revolutionen. In Deutschland waren Karl Marx (1818 bis 1883) und Friedrich Engels (1820 bis 1895) wichtige Akteure der Revolution 1848/49. Im Jahre 1848 veröffentlichten die beiden ihr „Manifest der kommunistischen Partei“ und begründeten damit den Kommunismus.

Die Geschichte des Kommunismus — und die spätere Auswirkung — ist gut bekannt. Weniger bekannt dagegen ist die Geschichte des Anarchismus. Deshalb ein kleiner Exkurs. Um hier einen Mythos beiseite zu schaffen: Nein, Anarchismus bedeutet nicht Chaos! Der Anarchismus hat einen sehr schlechten Ruf. In Wirklichkeit ist der Anarchismus die Utopie schlechthin. Denn es ist eine Ideologie, die alle wichtigen Begriffe wie Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit miteinander in Einklang bringt — nur ohne Herrschaft!

Am besten lässt sich Anarchismus mit Ordnung ohne Herrschaft beschreiben. Es geht sogar um die Abschaffung des Staates überhaupt. Die Idee ist eine Gesellschaft, in der alle Menschen gleich sind — im ökonomischen und rechtlichen Sinne! — und in der sich alle völlig selbst organisieren. Denn wenn jedes Gesellschaftsmitglied seine Aufgabe hat und man wirklich gemeinwohlorientiert wirtschaftet — wozu braucht es da noch Unterdrückung und Ausbeutung?

Selbst der bekannte — Sie sollten ihn kennen — US-amerikanische Intellektuelle, Linguist und Aktivist Noam Chomsky ist Anarchist. Genauer gesagt beschreibt er sich als libertären Sozialisten. In einem Interview mit Zeit Campus sagte er mal:

„Sobald jemand illegitime Macht erkennt, herausfordert und überwindet, ist er Anarchist. Die meisten Menschen sind Anarchisten. Mir ist egal, wie sie sich nennen“ (6).

Es gibt allerdings viele verschiedene Strömungen des Anarchismus, von denen einige diesen Namen nicht verdienen sollten. Ein Beispiel ist der „Anarcho-Kapitalismus“, der sich von den ursprünglichen sozialistischen Strömungen unterscheidet und der eher eine Extremform des Kapitalismus ist.

Die Geschichte des Anarchismus und des Kommunismus verlief ursprünglich zusammen. Während Marx und Engels die Protagonisten der kommunistischen Strömung waren, wurde die anarchistische Strömung besonders von Michail Bakunin (1814 bis 1876) angeführt. Zusammen gründeten sie 1864 die erste internationale Arbeiterassoziation (IAA; auch Erste Internationale genannt), deren Ziel es war, „den Schutz, den Fortschritt und die vollständige Emanzipation der Arbeiterklasse“ zu erreichen (7).

Wegen der Differenzen zwischen Anarchisten und Kommunisten (die Kommunisten wollten eine zentralistische Regierung, während die Anarchisten, gemäß ihres Ideals, den Staat und die Regierung abschaffen wollten), kam es schließlich zum Streit zwischen Marx und Bakunin und damit 1872 zur Spaltung der Ersten Internationalen — in einen „roten“ (kommunistischen) und einen „schwarzen“ (anarchistischen) Block. Die Erste Internationale löste sich 1876 beziehungsweise 1877 endgültig auf, wurde aber 1922 von den sogenannten „Anarchosyndikalisten“ neu gegründet und besteht noch heute unter dem Namen „International Workers Association“.

Der 1. Mai, der „Tag der Arbeit“, dürfte Ihnen bekannt sein, oder? Das ist der Feiertag, an dem man mit ein paar Leuten und einem Bollerwagen umherzieht, den Grill anschmeißt und sich meist dabei die Hucke vollsäuft. Doch kennen Sie die Geschichte dahinter? Der Tag nennt sich auch „Internationaler Kampftag der Arbeiterklasse“ und er soll daran erinnern, wie sich das Proletariat weltweit den Achtstunden erkämpft hatte. Dabei spielte die Erste Internationale eine wesentliche Rolle.

Bereits 1840 stellte ein in London geborener Schreiner namens Samuel Parnell die Bedingung an seinen Arbeitgeber, „dass die Arbeitszeit nur acht Stunden pro Tag betragen soll“ (8). Und weiter merkte er an:

„Uns sind vierundzwanzig Stunden pro Tag gegeben; acht davon sollten für die Arbeit sein, acht für den Schlaf, und die restlichen acht für die Erholung und in denen die Männer die kleinen Dinge tun können, die sie für sich selbst wollen. Ich bin bereit, morgen früh um acht Uhr aufzubrechen, aber es muss unter diesen Bedingungen geschehen oder gar nicht.“

Das nenne ich äußerst selbstbewusst. Er überzeugte auch die anderen Arbeiter in Wellington davon und schließlich wurde der erste Achtstundentag beschlossen — von 8:00 Uhr morgens bis 17:00 Uhr abends (eine Stunde Pause inklusive). Wer das nicht akzeptieren wollte, der wurde angeblich einfach in den Hafen geworfen. Den ersten Achtstundentag mit vollem Lohnausgleich erkämpften die australischen Steinmetze in Melbourne im Jahre 1856. Der Text eines Arbeiterliedes lautete:

„Acht Stunden zum Arbeiten, Acht Stunden zum Spielen, Acht Stunden zum Schlafen, Acht Schilling am Tag. Ein fairer Tag Arbeit, für einen fairen Tageslohn“ (9).

Nachdem die Bauunternehmen den Forderungen nicht nachkamen, legten die Arbeiter am 21. April 1856 ihre Werkzeuge nieder und marschierten zum Parlamentsgebäude. Damit hatten sie gemeinsam den Achtstundentag erkämpft und bekamen dafür denselben Lohn wie zuvor für zehn Stunden Arbeit!

Der internationale Durchbruch wurde erst zehn Jahre später eingeleitet. Im August 1866 verfasste Marx die „Instruktionen für die Delegierten des Provisorischen Zentralrats zu den einzelnen Fragen“, die er auf dem Genfer Kongress vorstellte (10). Darin hieß es:

„Wir schlagen 8 Arbeitsstunden als gesetzliche Schranke des Arbeitstages vor. Diese Beschränkung wird bereits allgemein verlangt von den Arbeitern der Vereinigten Staaten Amerikas, und der Beschluß des Kongresses wird sie zur allgemeinen Forderung der Arbeiterklasse der gesamten Welt erheben“ (11).

Erst 1884 führte der Frankfurter Chemiekonzern Degussa (heute Evonik) als erstes deutsches Unternehmen den Achtstundentag ein. Ab dem 1. Mai 1886 kam es dann zu einem großen mehrtägigen Generalstreik in den USA, an dem zwischen 300.000 und 500.000 Arbeiter beteiligt waren. Besonders in Chicago ging es zur Sache. Auf dem Haymarket Square kam es zu Aufruhen, die als Haymarket Riot oder auch Haymarket Affäre in die Geschichte eingingen.

Dies war ein Schlüsselereignis der Arbeiterbewegung. Empfehlenswert dazu ist der Arte-Dokumentarfilm „Kein Gott, kein Herr! Eine kleine Geschichte der Anarchie“, welcher dieses und weitere wichtige Ereignisse der Anarchismus-Bewegung sehr anschaulich darstellt (12).

Der Generalstreik wurde von der örtlichen Polizei gewaltsam aufgelöst. Die Arbeiter reagierten daraufhin mit einer Protestkundgebung. Wieder versuchte die Polizei die Demonstration aufzulösen, als plötzlich eine Bombe explodierte, die ein Dutzend Polizisten tötete und weitere schwerverletzte. Die Situation eskalierte.

Die Polizei reagierte mit Waffengewalt, schoss um sich und tötete dabei mehrere Demonstranten — sie gaben den Anarchisten die Schuld für den Anschlag, obwohl es keine Beweise dafür gab. Trotzdem wurden Dutzende Anarchisten festgenommen, die angeblich für den Anschlag verantwortlich gewesen seien — dabei waren einige von ihnen nicht einmal bei den Demonstrationen anwesend. Acht Anarchisten wurden angeklagt, fünf von ihnen wurden zum Tode verurteilt, einer begann Selbstmord in seiner Zelle und die anderen vier wurden gehängt — ein Exempel wurde statuiert.

Im Jahre 1893 begnadigte der Gouverneur von Illinois alle verurteilten (und gehängten) Anarchisten; sie waren unschuldig! Beschuldigt wurde stattdessen die Polizei, genauer gesagt der Polizeichef von Chicago, der diesen Anschlag angeblich organisiert und inszeniert hatte. Unglaublich, oder?

Die hingerichteten Anarchisten wurden daraufhin zu Märtyrern und internationalen Volkshelden. Doch schon im Juli 1889 wurde der 1. Mai zum Gedenktag der Opfer der Haymarket Affäre erklärt und ab 1890 kam es zum ersten Mal zu Massenstreiks an diesem Protest- und Gedenktag — der „Internationale Kampftag der Arbeiterklasse“ ward geboren! Es dauerte noch bis 1918 um den Achtstundentag in Deutschland gesetzlich zu verankern. Die USA folgten erst 1938. Was wir also für selbstverständlich halten, haben wir den jahrzehntelangen Streiks der Arbeiterklasse zu verdanken.

Ungleichheit statt Wohlstand

Die industrielle Produktionsweise schaffte viel Luxus, aber auch viel unnötigen Kram, den eigentlich keiner braucht. Das (nominelle) Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf stieg von 103 Euro im Jahr 1850 auf 302 Euro im Jahr 1900 und betrug 1950 dann bereits 1.059 Euro (13). Wichtig ist zu wissen, dass auch die Bevölkerung seit 1850 um mehr als das 6-fache gewachsen ist — was natürlich mit der Produktivität und der sonstigen technischen Entwicklung einhergeht (14).

Im Jahr 2000 schoss das BIP pro Kopf dann hoch auf 25.892 Euro und 2021 auf sage und schreibe 42.918 Euro (15). Der Wohlstand scheint gesichert — oder doch nicht? Das tolle an Statistiken beziehungsweise Mittelwerten ist, dass sie die Realität gut verzerren können. Das sollte man immer im Hinterkopf behalten. Ein Beispiel: Zehn Menschen besitzen im Durchschnitt 100.000 Euro — klingt ja eigentlich ganz gut. Das könnte bedeuten, dass die zehn Menschen insgesamt 1 Million Euro besitzen, die gerecht auf alle aufgeteilt sind — das wäre fair. Es kann aber auch bedeuten, dass neun Menschen nur 10.000 Euro besitzen und einer besitzt 910.000 Euro — im Durchschnitt bleibt es bei 100.000 Euro pro Kopf.

So ähnlich sieht es nämlich in der Realität aus — nur viel schlimmer. Laut dem „Bericht zur weltweiten Ungleichheit“ („World Inequality Report„) besaßen 2021 die ärmsten 50 Prozent der Bevölkerung nur 2 Prozent des weltweiten Vermögens, während die reichsten 10 Prozent unglaubliche 76 Prozent des weltweiten Vermögens besaßen (16).

Das reichste Prozent teilte sich ganze 38 Prozent des gesamten Vermögens und allein die reichsten 9 Menschen auf der Erde (mit jeweils mindestens 100 Milliarden Euro Vermögen) besaßen im Jahr 2021 eine unvorstellbare Summe von 1,32 Billionen Euro — das sind ausgeschrieben 1.320.000.000.000 Euro. Man muss sich diese Zahl erstmal auf der Zunge zergehen lassen. Dagobert Duck würde staunen!

Wie sieht es mit der Einkommensverteilung aus? Das Jahr 1913 wird für die (Real-)Löhne als Referenz genutzt, das heißt dort betrug der Index also genau 100 (17). Im Jahre 1850 lag der Index der Reallöhne noch bei 58. In Zahlen ausgedrückt hatte man als Arbeiter in der Metallindustrie ein durchschnittliches Jahreseinkommen von gerade Mal knapp über 200 Euro, während es im Jahre 1900 immerhin schon bei gut 500 Euro lag (was einem Index von 89 entspricht) — klingt nicht viel, das stimmt.

1950 lag der Index bei 114, was einem durchschnittlichem Jahreseinkommen von 1.676 Euro entsprach. Im Jahr 2000 lag der Index dann schon bei 590. Allerding verlief der Anstieg der Einkommen nicht in allen Schichten gleich. Während im Jahre 1820 das Durchschnittseinkommen der reichsten 10 Prozent bereits 18-mal höher war, als das der ärmsten Hälfte der Bevölkerung, war es im Jahr 1980 sogar 56-mal höher (glücklicherweise war dies der Gipfel der ungleichen Einkommensverteilung) (18).

Im Jahr 2020 war der Faktor zwar auf 38 gesunken, das Verhältnis ist aber immer noch extrem ungleich. Auch ein interessantes Maß für die ungleiche Einkommensverteilung ist das sogenannte „CEO-to-worker pay ratio“, also das Verhältnis des Einkommens von CEO (Chef Executive Officer) beziehungsweise Geschäftsführer zu Mitarbeiter. Im Jahr 1965 lag dieses Verhältnis noch bei durchschnittlich 20 : 1, das heißt der CEO verdiente das 20-Fache des Arbeiters (19).

Das finden Sie bereits ungerecht? Das ist noch gar nichts. 1989 lag das Verhältnis schon bei 58 : 1 und 2018 bei 278 : 1. Den Höchstwert erreichte es im Jahr 2000, als es bei 368 : 1 lag! Mittlerweile sind wir wieder bei einem ähnlichen Wert angekommen. Betrachtet man die 500 größten börsennotierten US-amerikanischen Unternehmen (die sogenannten „S&P 500“) sieht das Ganze allerdings noch viel schlimmer aus.

Vielleicht sagt Ihnen der Name Amazon etwas. Der Gründer und ehemalige CEO (jetzt geschäftsführender Vorsitzender) Jeff Bezos — das ist der Wahnsinnige, der für 430 Millionen Euro eine Brücke in Rotterdam abbauen lassen wollte, damit er mit seiner Super-Jacht da lang tuckern kann. Was schätzen Sie, wie hoch ist das „CEO-to-worker pay ratio“ bei Amazon? Kleiner Tipp: es liegt weit über 1.000. Was denken Sie? Die Antwort lautet 6.474 : 1! Damit war Amazon im Jahr 2021 mit großem Abstand auf Platz 1 (20). Hier noch ein paar andere bekannte Unternehmen: McDonald’s zum Beispiel hatte ein Verhältnis von 2.251 : 1, Apple eins von 1.447 : 1 und Netflix „nur“ ein Verhältnis von 202 : 1 — und Sie fanden 20 : 1 schon schlimm.

Der Wohlstand, um den es seit Jahrhunderten geht, kommt in der breiten Bevölkerung — also bei denen, die ihn erarbeiten — überhaupt nicht an! Das ist eine wichtige Erkenntnis. Trotzdem lautet es immer wieder von Seiten der Politik „Die Wirtschaft muss wachsen“! Alles dreht sich um das Wirtschaftswachstum — um jeden Preis. „Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut“, lautete viele Jahre der Slogan der Wirtschaftskammern Österreichs (WKO). Wir wissen jetzt, dass das Blödsinn ist und der Wohlstand hauptsächlich in den Händen der Wenigen landet.

Einer der größten Mythen unseres Wirtschaftssystems ist der des „freien Marktes“, bei dem angeblich jedem dieselben Chancen für den sozialen Aufstieg zur Verfügung stehen. „Das erfolgversprechendste Mittel zur Erreichung und Sicherung jeden Wohlstandes ist der Wettbewerb“, schrieb Ludwig Erhard 1957 in „Wohlstand für Alle“ (21). Das Prinzip wird als „Soziale Marktwirtschaft“ bezeichnet. Die Neue Initiative Soziale Marktwirtschaft beschreibt die Umsetzung so:

„Kernaufgabe des Staates ist, freien und fairen Wettbewerb ohne Privilegien zu gewährleisten. Ergänzend sichert der Staat allen Bürgern durch Umverteilung eine würdige Existenz und sorgt für Chancengleichheit“ (22).

Die Behauptung lautet: „der Markt ist bereits sozial, weil er auf dem Prinzip der Konkurrenz beruht“ (23). In einem Interview erklärte die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Hermann, dass soziale Marktwirtschaft — wie viele Deutsche fälschlicherweise glauben — „Marktwirtschaft wäre mit Sozialpolitik. Aber in Wahrheit war die Idee von Erhard, dass der Markt an sich schon sozial sei. Was natürlich nichts anderes bedeutet, als dass angeblich jeder verdient, was er verdient. Was nichts anderes sagt, als: Die Reichen sind zu Recht reich“ (24).

„Vom Tellerwäscher zum Millionär“, lautet das Narrativ des „American Dream“ — die reinste Illusion! Klar, zu einem gewissen Maß mag das stimmen — „Von nichts kommt nichts“ („Nothing will come of nothing„), würde „König Lear“ jetzt sagen (25). Eine gute Bildung, viel Fleiß und der Wille sollten schon da sein, denn niemand bekommt etwas geschenkt — oder doch? Ach, stimmt, manche Menschen werden zufällig in einer reichen Familie geboren und haben dadurch viel bessere „Startbedingungen“, als der durchschnittliche Bürger.

Zuerst aber muss man überhaupt im richtigen Land geboren werden — zum Beispiel irgendwo in Europa oder in den USA —, ansonsten kann man es praktisch Vergessen zum Wohlstand zu gelangen. In einem afrikanischen Land wie Nigeria, in dem die meisten Menschen nicht mal Zugang zu Trinkwasser haben, sollten Sie auf keinen Fall geboren worden sein.

In Deutschland geht es uns schon deutlich besser, denn es ist schließlich eines der reichsten Länder der Welt! Komisch ist nur, dass trotzdem 13,8 Millionen Menschen (also ein Sechstel der deutschen Bevölkerung) in Armut leben müssen (26). 2016 konnten sich etwa 6,4 Prozent der Deutschen nicht Mal jeden zweiten Tag eine vollwertige Mahlzeit leisten — das entspricht über 5 Millionen Menschen (27). Ich betone, dass diese Zahlen noch vor den katastrophalen gesellschaftlichen Folgen der „Corona-Pandemie“ entstanden sind!


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