Handlanger einer Täuschung
In „Vereinnahmte Wissenschaft“ versammelt Bastian Barucker die Analysen von Autoren unterschiedlicher Disziplinen zu den RKI-Protokollen und leistet damit einen wertvollen Beitrag zur Aufarbeitung dieses weisungsgebundenen Wegduckens.
Wer in Deutschland einen Kittel trägt, der hat immer recht. Er ist ein Gott in Weiß. Allein schon die Farbe vermittelt eine gewisse Reinheit. So rein und unbefleckt wie das Wissen der Person, die den Kittel trägt. Dass es sich so verhält, ist kein Hirngespinst, sondern ein Erfahrungswert: „In Weiß wird man plötzlich gesehen.“ (1) Und wer nun von mehr Menschen gesehen wird, dem werden auch mehr Fragen gestellt, von dem werden mehr Wissen und mehr Antworten erwartet. In der Coronazeit waren die Wissenschaftler besonders gefragt. Zumindest die Wissenschaftler, die immer wieder vor die Kamera gezogen wurden. Egal, welche TV-Sendung eingeschaltet wurde, welcher Radiobeitrag lief oder welche Zeitung aufgeklappt wurde, immer waren die gleichen Gesichter zu sehen und die gleichen Stimmen zu hören. Wahrscheinlich mussten nicht alle Wissenschaftler im wahrsten Sinne des Wortes aus dem akademischen Elfenbeinturm vor das Mikrofon gezogen werden. Denn schmeichelt es nicht dem Ego, wenn man, solange man der Politik nach dem Mund redet, plötzlich dauernd in der Öffentlichkeit steht und befragt wird? Denn genau hier, an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik, setzt das Buch „Vereinnahmte Wissenschaft“ an. Die Protokolle des Robert Koch-Instituts (RKI) zeigen, wie sehr das RKI intern mit einigen Coronamaßnahmen und Sichtweisen der ehemaligen Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und Karl Lauterbach (SPD) gerungen hat. Und trotzdem hat das RKI letzten Endes doch alles mitgetragen. Das liegt zum einen an der Struktur, in die das RKI eingebettet ist: Als weisungsgebundene Bundesoberbehörde hatte immer der jeweilige Gesundheitsminister das letzte Wort. Und in den Protokollen wird noch etwas anderes deutlich: Wenn das RKI an einigen Stellen doch einmal Zweifel geäußert hat, dann hat sich der Gesundheitsminister über sie hinweggesetzt oder einfach eigene Vorgaben eingeführt. Dann haben sich die Politiker den weißen Kittel übergestreift und so getan, als würden sie „der Wissenschaft“ folgen. Eine Rezension.
Es fing alles mit Paul Schreyer und Stefan Korinth an, den Herausgebern des Magazins multipolar. Im März 2024 haben sie die von ihnen „freigeklagten Protokolle des Krisenstabs des Robert Koch-Instituts“ veröffentlicht. Doch leider, so schreiben die Herausgeber weiter, wurden diese „mehr als 200 Dokumente (...) in erheblichem Umfang durch das RKI geschwärzt“.
Dank einer/s Whistleblowerin/s hat sich das Problem mit den Schwärzungen einige Monate später erledigt. Denn am 23. Juli 2024 veröffentlichte die freie Journalistin Aya Velázquez die RKI-Protokolle in Gänze ungeschwärzt.
Der Leak fand durch eine Pressekonferenz am selben Tag weitere Beachtung. Neben Velázquez saßen der Professor für Öffentliche Finanzen, Dr. Stefan Homburg, sowie der Wildnispädagoge und Journalist Bastian Barucker. Letzterer ist der Herausgeber des Sammelbandes „Vereinnahmte Wissenschaft“, der am 18. Juli 2025 erschien. Der Untertitel macht deutlich, dass das Werk dort ansetzt, wo die Arbeit und Analyse vor bereits einem Jahr begonnen hat: „Die Corona-Protokolle des Robert-Koch-Instituts“.
Die Zeit vor und nach dem Leak
Das Buch ist in zwei Teile gegliedert. Der erste Abschnitt trägt die Überschrift „Was steht in den RKI-Protokollen?“ Von den insgesamt 17 Beiträgen fallen 11 in diese Kategorie. Die restlichen Texte befinden sich im zweiten Teil, „Reaktionen und Deutungskämpfe um die RKI-Protokolle“. Neben Velázquez und Barucker stammen die Beiträge, um nur einige Autoren zu nennen, von Elke Bodderas (Redakteurin bei DIE WELT), Ruth Schneeberger (zuletzt bei der Berliner Zeitung tätig), Philippe Debionne (Chefredakteur beim Nordkurier und der Schweriner Volkszeitung), Valeria Petkova (Neurowissenschaftlerin und Psychotherapeutin), Dr. med. Kai Kisielinski (Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie), Prof. Dr. rer. nat. habil. Oliver Hirsch (Lehrstuhlinhaber für Wirtschaftspsychologie), Dr. med. Alexander Konietzky (Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin), Svenja Flaßpöhler (Philosophin und Chefredakteurin des Philosophie Magazin) sowie dem FDP-Politiker und Juristen Wolfgang Kubicki.
Ein Teil der 17 Beiträge erschien bereits 2024 in der Berliner Zeitung, im Nordkurier, im Cicero, bei der WELT und im Falle von Wolfgang Kubicki auf seiner Webseite. Für den Sammelband wurden diese Texte mitunter gekürzt und überarbeitet. Einige der Texte, die übernommen wurden, sind vor dem Leak der ungeschwärzten RKI-Protokolle erschienen, befassen sich aber bereits mit den von multipolar freigeklagten Protokollen. Das nicht alle Texte vollkommen neu sind, tut dem Sammelband aber keinen Abbruch. Im Gegenteil, die übernommenen Texte und die, die für das Buch neu geschrieben wurden, bilden eine Chronologie der Ereignisse. So können sich die Leser ein genaues Bild von der Lage machen. Außerdem analysieren einige Autoren nicht nur die für sie markanten Stellen aus den Protokollen, sie gehen auch auf die Reaktionen der Politiker und Leitmedien ein.
Politik vor Wissenschaft
Es ist erschreckend zu lesen, wie sehr sich das RKI von der Politik einspannen ließ, obwohl das Institut intern an einigen Stellen sogar Zweifel geäußert hat. Um nur einige Beispiele zu nennen (2):
„Es soll diese Woche hochskaliert werden.“ (16. März 2020)
„Während zu Beginn der Epidemie die Testung asymptomatischer Personen nicht empfohlen wurde, so sollen nach Ankündigung von BM Spahn und Anweisung aus dem BMG vom 17. April 2020 auch asymptomatische Kontaktpersonen getestet werden.“ (Mai 2020)
„Es wird angemerkt, dass das Tragen von Masken ‚Kern jedes Unterrichts torpediere‘ (Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes Susanne Lin-Klitzing).“ (8. Juni 2020)
„Impfung von Kindern: Auch wenn (von der) STIKO die Impfung für Kinder nicht empfohlen wird, BM Spahn plant trotzdem ein Impfprogramm.“ (19. Mai 2021)
„In den Medien wird von einer Pandemie der Ungeimpften gesprochen. Aus fachlicher Sicht nicht korrekt, Gesamtbevölkerung trägt bei. (...) Dient als Appell an alle, die nicht geimpft sind, sich impfen zu lassen. Sagt Minister bei jeder Pressekonferenz, vermutlich bewusst, kann eher nicht korrigiert werden.“ (5. November 2021)
An keiner Stelle hat das RKI öffentlichkeitswirksam protestiert. Und es zeigt sich, dass es in den Protokollen offenbar noch so einiges zu entdecken gibt.
In einem Text, der für den Sammelband geschrieben wurde, geht Aya Velázquez näher auf die „AG Impflicht“ ein. Es handelt sich um eine AG, „deren Existenz erst im Februar 2025 durch die RKI-Protokolle ans Tageslicht kam“. Diese AG wird mit der „Zuarbeit zur Gesetzesbegründung der allgemeinen Impfpflicht“ in Verbindung gebracht.
Velázquez schreibt weiter: „Mit der AG Impfpflicht ließ sich das RKI vollends politisch vereinnahmen – für ein Vorhaben, das sich mit eigenen, fachlichen Erkenntnissen nicht deckte.“
Die Würde des Menschen
Obwohl in dem Sammelband neben Kubicki noch weitere Juristen wie Sebastian Lucenti und (ehemalige) Richterinnen wie Franziska Meyer-Hesselbarth, Elisa Hoven und Juli Zeh schreiben, wird die Würde des Menschen erstaunlich selten erwähnt. Und wenn der Begriff fällt, dann nicht in den Texten, die die Juristen und Richterinnen geschrieben haben. Sondern ein Mal in einem Beitrag der Journalistin Aya Velázquez und ein weiteres Mal im Nachwort von Bastian Barucker.
Wie ich bereits in dem Text „Die angetastete Würde“ geschrieben habe, hat das RKI in seinen Corona-Protokollen selbst nie die Würde des Menschen erwähnt (3). Doch das wäre aufgrund der Geschichte dieses Instituts mehr als notwendig gewesen. Für den vorliegenden Sammelband wäre es eine Bereicherung gewesen, wenn mindestens eine Person in einem Text näher auf die Würde des Menschen eingegangen wäre. Der Professor für Öffentliches Recht, Medien- und Telekommunikationsrecht, Volker Boehme-Neßler, von dem in dem Sammelband ebenfalls ein Text zu finden ist, hat im Januar 2024 für Cicero einen Beitrag über die Würde des Menschen in der Coronazeit geschrieben.
Fazit
Der Sammelband „Vereinnahmte Wissenschaft“ informiert die Leser umfassend über die markantesten Stellen in den RKI-Protokollen. Angefangen bei den freigeklagten Dokumenten des Magazin multipolar, über den Leak der ungeschwärzten Mitschriften und den Fundstellen wie der „AG Impfpflicht“, blicken Menschen aus den unterschiedlichsten Disziplinen auf diese Protokolle. Auch die Reaktionen der Leitmedien und Politiker werden erwähnt. Der Umstand, dass mitunter mehrere Autoren dieselben Stellen aus den RKI-Protokollen zitieren, führt mitunter zu Wiederholungen ebendieser Zitate, auch wenn die Folgerungen daraus wiederum je nach Disziplin der Betrachter unterschiedlich ausfallen. Doch dieser Umstand ist für einen Sammelband nicht ungewöhnlich.
Dagegen hätte die Würde des Menschen mehr Raum kriegen sollen. Wenn es das RKI in den Protokollen schon nicht gemacht hat, dann doch wenigstens diejenigen, die mit einem kritischen Blick auf diese Dokumente schauen.
Wer sich kritisch mit dem auseinandersetzen möchte, was in der Coronazeit passiert ist, der kommt an diesem Buch nicht vorbei. Spätestens jetzt kann keiner mehr sagen, er hätte sich nicht über die ungeschwärzten RKI-Protokolle informieren können. Dieses Buch hat das Potenzial, die Aufarbeitung der Coronazeit voranzubringen. Davon können wir als Gesellschaft nur profitieren.
Hier können Sie das Buch bestellen: „Vereinnahmte Wissenschaft “