Im Bezirk der Begierde
Das Rotlichtgeschäft als Sinnbild einer traurigen Zivilisation.
Kapitalismus en miniature: Dirk C. Fleck zeichnet mit seinem Amsterdam-Soziopoem aus dem Rotlichtbezirk nicht nur das Bild einer „bunten“ kapitalistischen Gesellschaft, vielmehr auch ihrer Verlogenheit und einer darin enthaltenen Poesie der Leere, die spätestens im Stillstand nach Geschäftsschluss durchschimmert. Eine sprachliche Liebeserklärung an eine Gesellschaft, die der Liebe unfähig ist, ein Poem, das den Hunger nach etwas, das im Materialismus nicht zu haben ist, auf sublime, bilderstarke und zärtliche Weise zeigt und so die Leere fast gefährlich wieder füllt.
Er geht auf fantastische Weise aufrecht, als würde ihn ein Engel am Band führen. In der Hand jongliert er einen weißen Spazierstock mit goldenem Knauf. Die gepflegten Rastalocken fallen auf den Samtkragen seines langen schwarzen Mantels, und unter der hohen Stirn blitzen Augen von solcher Klarheit, dass man glauben möchte, der Erlöser selbst habe im Sündenpfuhl Einzug gehalten. In seinem Gefolge schlendern vier Jünger über die Brücke am Voorburgwal, jeder für sich ein Star, aber keiner nur annähernd mit jener Strahlkraft ausgestattet, wie sie dieser braune Prinz zur Schau trägt. Er merkt, dass mich seine smarte Darstellung eines Zuhälters und Drogenbosses beeindruckt. Er schenkt mir sein strahlendstes Lächeln. Natürlich hat er einen Diamanten im Schneidezahn …
Es ist die Zeit der Metamorphose im Amsterdamer Redlight District. Die roten Vorhänge in den schmalen, sich der Straße zuneigenden Häuser beginnen sich nach und nach zu öffnen. Lieferwagen rücken ab, Baustellen werden geschlossen. Der geschäftige Alltag zieht seine Finger zurück und überlässt das Terrain den Tätern und Opfern, den Begierigen und Raubrittern. Dealer und Taschendiebe formieren sich an den strategisch wichtigen Stellen wie Geier.
Bei Tage wirkt die Keimzelle Amsterdams mit ihren engen Gassen, mit ihren Grachten und Brücken wie ein Anachronismus, ein Pfahl im Fleische der Moderne. Dann besitzt sie die Autorität des Historischen, die schlagartig verloren geht, sobald die Neonzeichen erglühen und die Musik aus den Coffeshops dröhnt. Wenn die Touristenbusse kommen, verwandelt sich das gewachsene Ambiente rund um die Oude Kerk in eine absurde Puppenstube der Lust. Plötzlich verströmt das Viertel diesen mittelalterlichen Lebkuchencharme, der die menschliche Ursünde in einer Art Zuckerguss zu konservieren scheint. Trotzdem ist den Touristen nicht wohl bei der Ankunft. Sie bilden kleine Pulks, als suchten sie den Schutz der Herde, während die Taschendiebe bereits um sie herumtänzeln.
Wer Zeit hat, sich auf dem buckeligen Kopfsteinpflaster an die besondere Gangart des Viertels zu gewöhnen, wird bald dieses gläserne Ticken im Ohr haben. Es ist das Geräusch, das die Ringe der Mädchen auf den Fensterscheiben machen. Die Freier, die dieses Ticken auslösen, rekrutieren sich aus fünf Männertypen: dem gut situierten Angestellten im Trench, Hände in den Taschen, hier und dort ein Preisangebot einholend; dem Spanner, der in respektierlichem Abstand zu den Fenstern bleibt und die Mädchen aufreizend langsam mit den Augen beleckt; dem jungen Hüpfer, der seinem Freund imponieren möchte, welcher schüchtern an der nächsten Ecke wartet; natürlich sind auch die internationalen Proleten in ihren senffarbenen Lederjacken vor Ort. Und schließlich die Träger der schweren Traurigkeit: Männer, die verlassen wurden oder die Last einer unerfüllten Sehnsucht mit sich herumschleppen. Sie sortieren das Angebot wie in einem Pralinenladen.
The Girls In The Windows, wie sie dem Besucher an den Hotelrezeptionen als Attraktion empfohlen werden, spiegeln wider, was sich Holland in den Ländern, wo der Pfeffer wächst, unter den Nagel gerissen hat. Die Frauen sind nicht nur jung und schön, sie wissen auch zu animieren. Dabei agieren sie zwischen schüchternem Verlangen und lustvoller Zuneigung, ohne dass Routine erkennbar wäre. Sie hocken in rot beleuchteten engen Zellen, ausgestattet mit einem Bett und einem Waschbecken, unter dem sich bald nach Dienstbeginn eine feuchte Lache in die Auslegeware frisst.
Wenn sich in der Dämmerung die Mäntel und Jacken der Gaffer am Rauputz der Wände scheuern, wird der Gulden vergoldet. Bis zu zweitausend pro Schicht streicht so ein Freudenmädchen für ihren Zuhälter ein. Und die Freier, die ihre Favoritin hinter vorgezogenen Gardinen noch in anderen Händen wissen, hocken beim Bierchen im Amsterdamned, im Dreadlock, der Loading Zone oder im Bulldog. Hier warten sie, dass die Kleine endlich fertig wird. Das regelmäßige Glockenspiel der mächtigen Oude Kerk, um die die Wohnkäfige der dunkelhäutigen Transvestiten gruppiert sind, scheint der ganzen Angelegenheit ihren Segen zu geben.
Im Morgengrauen, wenn das Wasser in den Grachten wie gebügelt da liegt, wenn die Betrunkenen stieren Blickes davonwanken, wenn schließlich nur Geschöpfe mit Schorfwunden übrig bleiben, überkommt mich die Ernüchterung wie etwas, das im Preis der Nacht inbegriffen war. „Opruiming! Alles moet weg!“ steht im Schaufenster einer Lederboutique neben dem Grand Hotel Krasnapolski, dessen Eingänge seit Langem vernagelt sind. Die besseren Herrschaften wohnen nicht mehr in diesem Viertel. Sie kommen gelegentlich zu Besuch, inkognito, versteht sich. Dann benehmen sie sich, als sei das Leben eine einzige zu unterschreibende Quittung.