Im Widerstand

Interview mit dem Arzt Ulrich Franz Nettig, der wegen der aktuellen Corona-Maßnahmen in den Hungerstreik getreten ist.

Der Arzt und Psychotherapeut Ulrich Franz Nettig ist so erschüttert über das derzeitige medizinische Szenario, das sich in Deutschland und der Welt abspielt, dass er Anfang Mai in den Hungerstreik getreten ist. Als ehemaligen Pathologen empört ihn vor allem, dass — vorgeblich zum Schutz des medizinischen Personals — die meisten Länder zu Beginn der Epidemie darauf verzichteten, Sektionen durchzuführen. Auch hat man versäumt, repräsentative Stichproben zu nehmen, um festzustellen, wie hoch der Durchseuchungsgrad ist, wie schnell die Infektionszahlen ansteigen, wie viele der Infizierten erkranken und wie viele der Erkrankten sterben. Dazu kommt, dass die heutigen Tests nicht validiert sind und keine sicheren Ergebnisse erkennen lassen. Aus Entsetzen über die einschneidenden und menschenunwürdigen Maßnahmen setzt Ulrich Franz Nettig ein Zeichen, bei dem es um sein Leben geht.

Kerstin Chavent: Lieber Ulrich Franz Nettig, Hungerstreik hat eine lange Tradition. Mahatma Gandhi verweigerte mehrfach die Nahrungsaufnahme, um einen Bürgerkrieg zu verhindern. In Gefängnissen wird auf diesem Wege für bessere Bedingungen gekämpft. Flüchtlinge hungern, um gegen einen unangemessenen Umgang mit Asylsuchenden zu protestieren. Was hat Sie dazu bewogen, in diese Form des Widerstands zu gehen?

Ulrich Franz Nettig: Ich war mein gesamtes Leben gesellschaftlich, politisch engagiert. Erst bei den katholischen Pfadfindern, später in verschiedenen Parteien. Ich trat ein für eine bessere Welt, ohne Hunger, ohne Krieg, für Gerechtigkeit, ja für liebevolle Verhältnisse. Als ich Joachim Gauck, unseren damaligen Bundespräsidenten, auf der 50. Sicherheitskonferenz in München sagen hörte, dass Deutschland mehr Verantwortung in der Welt übernehmen müsse, wusste ich: Deutschland wird sich an immer mehr Kriegen beteiligen. So kam es auch. Jetzt muss ich erleben, wie eine mediale Macht ein Volk in Todesangst versetzen kann, ohne der journalistischen Sorgfaltspflicht zu genügen. Ärztliche Kapazitäten werden nicht mehr gehört, teilweise verleugnet.

Ich finde es widerlich, was diesem Volk angetan wird. Ich liebe das Land und die Menschen. Ihre Sorge, ihr Mitgefühl für Alte und Kinder, ihr Wohlwollen wird pervertiert und auf den Arm genommen. Für mich ist das Staatsterrorismus.

Was aber soll man tun in solch einer Situation? Parteien sind alle gleich, keine Opposition. Mein Hungerstreik geschieht aus einer tiefen Liebe zu meinen Kindern, zu Deutschland, zur Wahrheit, zur Vernunft. Die Botschaft ist: Wacht auf, werdet vernünftig, interessiert euch, lasst euch nicht länger für dumm verhöhnen.

Was ist Ihre Kritik an der Vorgehensweise des Robert Koch-Instituts und an den getroffenen Maßnahmen der Regierung? Was hätte von Anfang an geschehen müssen, um eine Situation zu verhindern, in der wir alle massiv in unseren Rechten eingeschränkt werden und in der Menschen an den vorgeblichen Schutzvorkehrungen zugrunde gehen?

Ich habe nach dem Studium als junger Assistenzarzt ein Jahr in der Pathologie gearbeitet. Doch man muss noch nicht einmal Arzt sein, um zu begreifen, dass bei einer neuen, gefährlichen Erkrankung alles getan werden muss, um die Zusammenhänge zu verstehen, um diese todbringende Sache zu durchdringen und zu untersuchen. Für mich ist es grob fahrlässig, um milde zu urteilen, wenn das tonangebende, die Regierung beratende Institut, das Robert Koch-Institut, empfiehlt, nicht zu sezieren.

Es ist unglaublich! Nur dadurch, dass man die Toten aufschneidet, hineinschaut, die einzelnen Organe anschaut, aufschneidet, mikroskopisch untersucht, laborchemisch untersucht, kann man doch herausbekommen, wie und woran jemand verstorben ist. Und warum ging kein Aufschrei durch die Gemeinschaft der deutschen Pathologen, die das doch alle wissen? Jetzt nach sieben Wochen empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Pathologie alle corona-positiv Getesteten und Verstorbenen aufzuschneiden und entsprechend zu untersuchen.

Der zweite unverzeihliche Punkt ist, dass zu Beginn keine repräsentative Studie gemacht wurde. Es ist eine leicht zu lösende Aufgabe, 1.000 Patienten, die deutschlandweit repräsentativ ausgewählt werden, sofort per Abstrich zu testen. Man hätte dann sofort gewusst, wie viele positiv auf den Test antworten, unabhängig von der Güte des Testes. Aber man hätte gewusst, dieser Test misst, als Beispiel 0, 5 oder 10 Prozent coronapositiv Getestete. Der Test eine Woche später wiederholt hätte uns sofort Aufschluss gegeben über Neuinfizierte. Aber Nein, man testet in einer Woche 1.000, die nächste Woche 100.000. Und dann verkündet die Tagesschau, wir haben als Beispiel in der zweiten Woche, 1.000 Neuinfizierte. Das begreift doch ein Schulkind, dass es hier nicht um Neuinfizierte geht, sondern um einen bestimmten Prozentsatz an Neugetesteten. Und das wurde dem Volk Tag für Tag suggeriert, wird es ja immer noch, als Neuinfizierte. Absoluter Blödsinn.

Man hat keine Studien gemacht. Die Heinsberg-Studie ist nicht repräsentativ, weil dort eine Virushäufung aufgetreten war. Dass viele Menschen durch die Maßnahmen zugrunde gehen, sagte jetzt, bezogen auf Kinder in den Entwicklungsländern, der Tübinger Oberbürgermeister. Aber auch bei uns sterben vermutlich mehr Menschen an den Folgen der Maßnahmen als an dem Virus. Und es scheint auch allen egal zu sein, denn es wird nicht untersucht. Bei den Lungenembolien, die jetzt immer häufiger vorkommen, halten sich die Pathologen ja noch zurück. Zum Tode führende Lungenembolien entstehen fast immer durch tiefe Beinvenenthrombosen, die durch Bewegungsmangel entstehen.

Viele alte Menschen leiden durch die Isolierung, durch die Einschränkung ihrer Bewegungsmöglichkeiten an Bewegungsmangel. Wer zwei und zwei zusammenzählen kann, könnte hier Todesursachen erkennen.

Abgesehen von der zunehmenden Zahl der Arbeitslosen, von den isolierten Angstpatienten, Depressiven, Schizophrenen. Wer weiß und wer will wissen, wie viele zusätzliche Selbstmorde stattfinden?

Wie erklären Sie sich, dass gegen besseres Wissen entschieden und gehandelt wurde, dass die Menschen in Panik geraten sind? Wie war es Ihrer Meinung nach möglich, dass alle Instanzen, die einen globalen Lockdown hätten verhindern könne, ausgeschaltet waren?

Ich glaube nicht, dass viele Menschen, die es hätten wissen können, ausgeschaltet waren. Ich denke schon, dass viele überrascht waren und in eine Art Schockstarre verfielen, auch die es hätten besser wissen müssen. Aber wie genau erkundigt man sich als Arzt, als Politiker, als Verantwortlicher? Ich glaube, es war sehr viel Unwissen, das scheint mir immer noch der Fall zu sein, Feigheit, Gleichgültigkeit und Arroganz.

Ich kenne ja die Kollegen noch vom Studium. Schauen sie mal bei Lehmanns Online, der Mediziner Buchhandlung, und schauen Sie, was aktuell die Bestseller sind? Glauben Sie, dass sich jemand über Infektiologie informiert? Nein, Intensivmedizin, Beatmung, das sind die Renner. Die Gefährlichkeit einer Infektion ist nicht interessant, die kennen doch alle, oder? Man braucht doch nur die unfähige Tagesschau zu sehen. Dazu kommt die Unsicherheit vor neuen Situationen. Das ist schwierig für Ärzte. Sie stehen in der Schusslinie, sie müssen vieles schnell entscheiden, es geht oft um Leben und Tod. Ein Arzt darf seine Unsicherheit aber nicht so ohne weiteres öffentlich bekennen. Also: schnell beatmen, alles richtig machen. Sich in solch einer Situation aus dem Fenster zu lehnen ist schwierig. Diejenigen, die es dennoch getan haben, werden heute als Spinner, Verschwörungstheoretiker und so weiter dargestellt.

Ich selbst habe während der Ausgangssperre in Frankreich drei Mal gefastet. Für mich war es die Entscheidung, mich von Überflüssiggewordenem zu trennen, die mir die Energie dazu gab. Nun ist Fasten nicht Hungern und ein Hungerstreik ist keine Hungersnot. Wie erleben Sie Ihren Verzicht auf Nahrung?

Heute (9. Mai 2020) ist mein 6. Tag im Hungerstreik. Ich habe Fastenerfahrung und es ist für mich vermutlich lange nicht so schlimm wie für andere. Dennoch machen sich vor allem meine Familie und nahe Freunde Sorgen um mich und meine Gesundheit. Ich will nicht sterben und werde meinen Hungerstreik auch nicht bis zum Tode führen, so wie es die Rote Armee Fraktion in Deutschland eventuell vorhatte. Die Dauer meines Hungerstreikes mache ich vor allem auch von der Wirkung abhängig. Es geht diesmal um den Aufbau einer andersgearteten Partei, Widerstand2020, die wahrscheinlich die Forderungen, die ich aufstelle, wesentlich effektiver durchsetzen kann, als sich das mit einer individuellen Maßnahme eines Hungerstreiks erreichen lässt.

Ich möchte so ja auch Öffentlichkeit erreichen, damit die Themen, die ich anspreche, öffentlich diskutiert werden und hoffentlich die Verantwortlichen dieser Situation dann auch zur Verantwortung gezogen werden können. Ich hoffe, dass ich die Kraft habe, noch eine Zeit durchzuhalten und dass die Öffentlichkeit zu einem neuen Mainstream kommt, der Ehrlichkeit, der Seriosität und des Vertrauens.

Sie sind ein friedensengagierter Mensch. Wie können wir heute den tiefen Riss, der durch die Gesellschaft geht, überwinden und zueinanderfinden? Welchen Beitrag kann die Medizin dazu leisten? Was wünschen Sie sich von Ihren Kollegen?

Ich glaube, dass wir den Riss in der Gesellschaft nur durch neues Vertrauen überwinden können. Wenn ein Volk in dieser Art und Weise in seinen Werten und Hoffnungen so tief verletzt wurde, müssen neue Strukturen geschaffen werden, die zu neuer Hoffnung Anlass geben. Ich denke, dass das Gesundheitssystem mit Krankenhäusern, die profitorientierte Wirtschaftsunternehmen sind, nicht mehr agieren darf. Wir brauchen eine Medizinerausbildung, die den ethischen Werten, der Menschlichkeit, dem Mut zum eigenen Denken viel höheren Wert beimisst.

Wir brauchen andere politische Strukturen, mit mutigen, bescheidenen Politikern, die Interesse an der Lage des Volkes haben, die wissen wollen, wie hoch die Mieten sind, wie hoch die Einkommen, was dem Volk auf der Seele brennt, die vor allem ehrlich sind und Fehler zugeben können.

Von meinen Kollegen wünsche ich mir Bescheidenheit, fachliche Kompetenz, Mut und die Entwicklung ihrer Liebe zu sich selbst, zu ihrem Beruf und zu ihren Patienten.

Wie lange werden Sie im Hungerstreik bleiben? Was könnte sein Ende bewirken? Wie gehen Sie mit den gesundheitlichen Gefahren um? Welche Hoffnung nährt Ihre Aktion?

Wie lange ich im Hungerstreik bleibe, weiß ich nicht. Ich entscheide das von Tag zu Tag. Große gesundheitliche Gefahren sehe ich nicht. Sollte die Partei Widerstand 2020 tatsächlich auf über 100.000 Mitglieder kommen, sollte dort Schwarmintelligenz, Vertrauen, Ehrlichkeit, Liebe einen hohen Stellenwert bekommen, dann könnte mein Hungerstreik schnell enden. Das ist im Grunde meine größte Hoffnung.

Martin Heidegger prägte den bedenkenswerten Satz: „Das Bedenklichste in unserer bedenklichen Zeit ist, dass wir noch nicht denken“. Und Nietzsche sagte so grausam: „Die Wüste wächst, weh dem der Wüsten birgt“. Wenn ich feststellen könnte, auch hier in meiner Umgebung, dass Menschen wach werden und Lust am Denken bekommen, wenn ich feststellen könnte, dass sich mein eigenes Denken entwickelt, wenn ich bemerken würde, dass Vertrauen und Liebe wächst, dann wäre meine Hoffnung erfüllt und ich könnte wieder Erdbeertörtchen mit Sahne essen.

*Lieber Ulrich Franz Nettig, das wünsche ich Ihnen von Herzen! Danke für diesen Austausch. *


Hier können Sie das Buch bestellen: als Taschenbuch oder E-Book.