In dürftigen Zeiten

Der Roman „Minsky“ lebt vom Reiz des Unvorhersehbaren und kritisiert die Gegenwart über den Umweg einer Zukunftsvision.

„Minsky“ führt in die Zukunft, genauer gesagt ins Jahr 2048. Superintelligenzen und Menschen ringen um das Leben, vor allem das richtige. Gott lebt immer noch, zumindest mischt seine Tochter kräftig mit. Wer immer auch der Autor „einzlkind“ sein mag, er unternahm eine philosophische, sozialkritische und schwarzhumorige Exkursion und legte neuerlich ein Stück erstaunlicher Literatur vor. Ralf Rosmiarek hat es gelesen.

Idyllisch nahezu ist es, und sinnbildlich wird es. Der Blick aus dem Fenster: Bei der Nachbarin der Pott mit dem Kaffee auf dem Fensterbrett, sie hält die Zeitung aufgeschlagen und ist vertieft, dann aber greift sie zum Taschentuch …

Wir leben in „dürftigen Zeiten“. Was geschrieben steht, treibt die Tränen in die Augen, und je nach Konstitution des Lesers entspringen sie dem Weinen oder Lachen. Die Zwischentöne unterbleiben fast immer, mit einem gleichgültigen Achselzucken ist ihnen Genüge getan. Dazu die Angst: „Klimawandel, Flüchtlinge, Pandemien, Kriege, Terrorismus, Armut.“ „Wer will da keine Gute-Nacht-Geschichte hören?“

Der Stumpfsinn lässt sich wohl noch ein paar Jahre weiter treiben. Hemmungslos schlägt einem das Gerede von Fortschritt um die Ohren. Der Begriff aus dem 19. Jahrhundert verfängt seit Generationen, er scheint die Ingredienzen eines wohlschmeckenden Konfektes in sich zu tragen. Lange verstand sich der Fortschritt technologisch, galt die Technologie als Wegbereiter der Humanität. Freilich, dieser Begriff formte sich viele Jahrzehnte vor Auschwitz, und von der Atombombe und den Biowaffen wusste man noch nichts. Die geistige Schrumpfung durch das Fernsehen war ebenfalls noch nicht eingetreten. Das fleißige Tun des Menschen jedoch verwandelte beinahe jegliche menschenfreundliche Innovation in ihr Gegenteil, bei all seinem Treiben verblieb dem Menschen das Steinzeitgehirn.

Die „Fortschritte“ bestehen jedoch lediglich in immer wirksameren Mitteln, einander zu vernichten, in endgültiger Konsequenz.

Was also anderes heißt Fortschritt, als dass auf Tastendruck eine Reaktion ausgelöst wird? Eine Rakete zündet, ein Flugzeug startet, eine Kaffeemaschine wird dienstbar, Illusionen flimmern auf Mattscheiben. Moral, „die traurigste Erfindung des Menschen“, führt man dauernd im Munde, moralischer geworden ist man nicht. „Moral ist dein Monster (…). Moral ist Macht.“ Anständigkeit, Solidarität sind zu leeren Worthülsen verkommen. Menschlichkeit bleibt, was es immer war: ein Desiderat. So noch im Jahre 2048. Deshalb ist sogleich festgehalten: „Du bist ein Auslaufmodel.“ — „Du stirbst. Aus.“ Ob solch angsterfüllenden Diktums wird etwas Höflichkeit nachgeschoben: „Gestatten: Minsky. Zweitname: Intelligenz.“

Auch ein Restbestand Hoffnung verbleibt:

„Wer mitspielen will, muss sich verbinden, mit uns (…). Du gehst nicht, weil ein Diktator eine Bombe wirft, weil das Klima die Erde zerstört, weil ein Virus alle zu Zombies macht. Nein, du gehst, weil alles gut, weil alles besser wird (…). Du hast deine Zeit gehabt (…). Wir amüsieren, bemuttern und lieben dich zu Ende. Ich bin deine Zukunft (…) und dein Untergang. Du wirst ganz langsam einschlafen. Die Geschichte des Menschen, so wie du ihn kennst, ist auserzählt.“

Und so beginnt die Geschichte von Pax, die nach Aussagen ihrer Mutter die Tochter Gottes ist und den Einheimischen „Die Hoffnung“ bedeutet, und Magnus, dem Kanzler, und der „will groß und bedeutend sein“ und natürlich bald die Welt retten.

Ein Rühmen war’s, ein Loben war’s, gut so war’s den meisten Qualitätsmedien vor rund zehn Jahren. Drei Romane wurden euphorisch gefeiert, Harold, Gretchen und Billy galten als literarische Entdeckungen. Literaturentdeckungen sind nicht so häufig, zumindest wenn auch die Sprache des Autors noch von Güte ist, überdies vielleicht eine Sprachmelodie hörbar wird. Doch Hochsprache ist „Herrschaftssprache“, wissen moderne Reformer. Erstaunt es dann tatsächlich noch, wenn, wie die „Deutsche Sprachwelt“ berichtete, ein junger Deutschlehrer äußerte: „Ich glaube nicht, dass die deutsche Sprache etwas so Bedeutendes darstellt, dass man sie unbedingt erhalten müsste“ („Lehrer für die deutsche Sprache“, DSW 21, Seite 1; Anmerkung der Schriftleitung). Überhaupt stellt Minsky heraus:

„Warum sollte also dein Geschmack, den du als Urteil verkaufst, von Interesse sein, warum sollte überhaupt noch die geschmackliche Meinung eines Kritikers von Bedeutung sein?“

Das Kind wird nicht müde werden

Viel Schönes las man jedenfalls über ihn, von ihm ohnehin, obgleich nichts zu wissen war von dem Autor, der sich — allein das enigmatisch und phantasiebeflügelnd genug — einzlkind nennt. Die Zeit aber schreitet voran, und mancher hat sogleich vergessen, was er zuvor schrieb. Ins Langzeitgedächtnis wird solches Tun erst gar nicht aufgenommen. Wie auch bei solcher Vergesslichkeit? Natürlich mag auch niemand mehr die alten Texte bemühen oder gar nachlesen, was man so schrieb, das wäre dann doch nur ein unlustvolles Erlebnis. Dieser Wiederholungszwang ist bei Kindern schon schlimm genug: „Das Kind aber wird nicht müde werden“, beschrieb Sigmund Freud trefflich beobachtend, es will „immer wieder die nämliche Geschichte anstatt einer neuen hören, besteht unerbittlich auf die Wiederholung und verbessert jede Abänderung, die sich der Erzähler zuschulden kommen läßt“.

Der Erwachsene aber will einfach nur voran, der alten Geschichten überdrüssig. Neue Erfordernisse lassen verzichten auf das Loben, das Rühmen. Ein Glück für den vormals Gefeierten mag es sogar sein, wenn er nur beschwiegen wird und sich nicht dem neuerdings beliebten Gesellschaftsspiel „Wie diffamiere ich richtig“ ausgesetzt sieht. Dem einen beschreibt sich dieses Spiel inzwischen als Kulturwandel, andere sehen darin eine fortschreitende Transformation, und wieder andere benennen es überhaupt nicht mehr, schütteln bestenfalls den Kopf und führen Klage über sich einstellende Nackenschmerzen.

So bleibt eigentlich nur verwunderlich, angesichts aller vormaligen Freude, dass niemand zum Preisen sich bereit fand, selbst von etwaigen Erwägungen dazu hörte man nicht. War da schon ein Verdacht, dass da einer ist, der sich abseits stellt? Noch stand ja nicht zu lesen, wie nun eben auf dem Schutzumschlag des neuen Romans: „Die Guten sind die Bösen“ Doch allein der Name — einzlkind! Was ist aber auch zu halten von einem Autor, der einer seiner Figuren zur sexuellen Selbstbefriedigung verhilft beim Lesen des Tractatus logico-philosophicus des Philosophen Ludwig Wittgenstein, und der meint, Hitler erscheine gegenüber Gott als eine Mutter Teresa? Tritt raffinierte Strategie auf Autorenseite somit zu Tage? War es bei ihm das instinktive Ahnen, die Stimmung könnte irgendwann oder schon bald an den berühmten Kipppunkt kommen? Denn wer heute von Diversität spricht, meint keinesfalls lebendige Vielfalt, sondern Uniformierung nach Geschlecht, Hautfarbe und Herkunft.

Doch selbst die Frage nach der Herkunft hat es in sich, denn wer fragt: „Woher kommen Sie?“, sieht sich dem Diskriminierungsverdacht ausgesetzt.

Der Blick über den Tellerrand des Zeitgeistes ist anstrengend geworden, der Sehnerv wird ungewöhnlich beansprucht. Eine andere Intention ist freilich ebenfalls möglich. Schon Robert Walser wollte bekanntlich nicht gekannt, auch wenn seine Autorschaft offenlag, sondern eben gelesen werden. Vielleicht benimmt auch dieser Autor sich „gern anders, als wie es Bücher erwarten lassen, die (er) lediglich schrieb, damit sie gelesen würden“, wie es im Prosastück „Diener und Dame“ heißt. Doch wo kämen Zeitungen und Literaturjournale hin, folgten sie einem Schriftsteller, der darauf beharrt: „Lassen Sie mir bitte das bisschen Kunst hübsch im Rahmen“, schließlich sind die eigenen voyeuristischen Bedürfnisse wie die der Leserschaft zu stillen. Was also sollte in Magazinen gedruckt werden, was sollten Sender senden, wäre der Rahmen nicht ihr eigener Rahmen, müssten sie sich tatsächlich mit der Kunst, also dem Werk, auseinandersetzen?

Doch damals überwog die Freude, man zeigte sich eben beeindruckt. Inzwischen verdämmerten ein paar Jahre ins Land hinein, nach wie vor geht man durchs Leben, beeindruckt, unbeeindruckt, ein jeder eben (noch) nach Gutdünken. Zunehmend aber brilliert die Gegenwart mit Schwachsinnigkeit. Der Gesellschaft heißt „die größte Heldin“ inzwischen Greta. Eine verordnete Pandemie verwirrte und zerklüftete mit derber Plumpheit und rigoroser Niedertracht die ohnehin ahnungslose und gleichgültige Masse. Muss man nicht überhaupt der Allgemeinheit nur die erste Silbe ausradieren, um auf ihren wahren Kern zu stoßen?

Schon immer war sie da, die unerträgliche Vorgeschichte, sichtbar liegt sie vor Augen, alles ist austauschbar, und es bleibt dabei, was es schon immer war, das menschliche Handeln: gewissenhaft, dabei gewissenlos. „Es sind die gleichen, die früher als Lynchmob vor dem Scheiterhaufen standen und ‚Verbrennt die Hexe!‘ schrien, die sich um den ersten Platz vor der Guillotine schlugen, um den Kopf aus nächster Nähe fallen zu sehen, die den ersten Stein warfen, für das Gute, für das Gerechte“, so lässt es sich im Roman Minsky lesen. Die Gottheit selbst war hinreichend verderbt, schon 500 Jahre vor dem Auftauchen des Menschheitserlösers Jesus wird der Grieche Xenophanes feststellen: „Wenn Kühe, Pferde oder Löwen Hände hätten und mit diesen Händen zeichnen könnten, würden ihre Götter aussehen wie Pferde und Kühe.“ Dem Beten aber tat es keinen Abbruch.

Gabriel, der ehemalige Priester, dem bei seiner Nahtoderfahrung statt Gott Nietzsche begegnete, wird der jungen Romanheldin — eine Jesus-Figur auch sie — Pax erklären: „Gott ist natürlich kein Mensch, er steht über dem Menschen, der wiederum moralisch über Gott stehen soll, wie Gott findet.“ Eine meiner Großmütter formulierte philosophisch klar: „Wie der Herre, so‘s Gescherre.“ Für Gabriel wurde die Begegnung mit Nietzsche offenbar eindrücklich, denn er befragt Pax recht scharf:

„Würdest Du jemanden mögen, der seinen Feinden Stechmücken und Heuschrecken schickt, ihr Wasser vergiftet, ihren Tieren die Beulenpest bringt, der ganze Städte mit Schwefel und Feuer vernichtet, der nur Hass und Verachtung für Andersdenkende empfindet, Homosexuelle als Verbrecher und das weibliche Geschlecht als minderwertig ansieht, sich selbst als vollkommen betrachtet, Beleidigungen mit der Todesstrafe ahndet, jemand, der Kinder, Frauen und Sklaven, die sich von ihm abwenden, umbringen lässt, der Vergeltung und Gewalt predigt und schließlich die komplette Menschheit bis auf eine einzige Familie ausrottet, die dann dank Inzest eine neue Menschheit gebären soll, die ihm besser gefällt — würdest du so jemanden mögen?“

Auch wenn Nietzsche lacht; wer so fragt, wird jedenfalls mindestens schief angesehen. Wer obendrein behauptet, „einen moralisch schlechteren Menschen als Gott hat es nie gegeben“, der stellt sich bewusst ins Abseits, der ist „unserer härteren Bewusstseinslage“, die vor nun beinahe siebzig Jahren der Germanist Karlheinz Deschner in der Gesellschaft, „der gefährlichste Körper überhaupt“, vermutete, nicht mehr zumutbar. Schließlich dämmert es neu herauf, das Zeitalter der Empfindsamkeit.

Fragte nicht schon ein Hölderlin: „Wozu Dichter in dürftiger Zeit“? Wer wollte schließlich bestreiten, dass immer weniger gelesen wird, die Mehrheit der Menschen sich einlullen lässt, von schriller, bunter, nichtiger Bilderflut?

Diese Flut lässt so wunderbar treiben. Dass eine Bedürftigkeit sich einstellt, gegen diese Dürftigkeit, mag dann ein paar wenigen nur wieder zum Traumstoff gereichen. Dürftig sind Hölderlin Zeiten, die ein „kühneres Leben“ verhindern, und in denen den Menschen „das Größere zu groß“ geworden ist. Er empfahl daher, „zu schlafen, wie so ohne Genossen zu sein“, mit denen der Aufbruch lohnte, „zu höchsten Freuden“.

Das gegenwärtige, sich fortschrittlich gebende deutsche Angsthasenland hat sich Hölderlins Empfehlung, dem Schlaf und der Traumwelt überantwortet: alles zu aufregend, zu unsicher, nicht rückversicherbar. Misstrauen, wenn nicht Entsetzen, herrscht, ruft da nun einer Hölderlin ähnlich: „So komm! Daß wir das Offene schauen, daß ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist.“ Entsetzt zeigt sich etwa die Rezensentin des Romans Billy bei ZEIT Online: „Ihr seid alle Herdentiere, nur ich nicht — dies ist der Sound aller Romane des Autors Einzlkind.“

Das Besondere soll nicht mehr sein, der Solitär soll nicht mehr sein. Magnus jedenfalls will das Größere. „Auch er will ein Handelsvertreter für Träume sein.“ Bereits als Jugendlicher prägt er sich die Vokabeln ein: „Unverantwortlich, menschenfeindlich, zynisch, würdelos, geschmacklos. Und er lernt den Pluralis Majestatis, das Wir der Königinnen und Päpste. Das Wir ist das bessere Ich.“ Freilich, die Zeit schreitet voran. „Und die Umschwärmtesten sind jene, die keine diskriminierenden Talente mehr besitzen.“ Auch das wird zu lernen sein. „Du musst nicht singen, nicht schreiben, nicht malen, nicht schauspielern, nicht einmal mehr Fußball spielen können — schöne Haare, Sixpack oder ein toller Hintern reichen (…). Besonders zu sein ist ein Makel. Es ist das eingelöste Versprechen: Keiner ist besser, wir sind alle gleich, jeder Mensch ein Künstler.“ Der beliebte Trick der Science-Fiction-Literatur, über die Erzählung der Zukunft die Gegenwart zu kommentieren, wird vom Autor einzlkind vorzüglich aufgegriffen.

Latte Macchiato

Es verwundert dann auch nicht, dass im Roman der Schriftsteller unserer Tage, in dessen Bewusstsein sich Minsky, die Superintelligenz, hineinhackte, „über die großen Themen“ nicht mehr schreiben mag. Die „kleinen Dinge des Lebens“ sind es ihm, über die zu schreiben lohnt, „über den langen beschwerlichen Weg zum Briefkasten, über die Morgenröte im Frühtau vergangener Tage, über das Gefühl der Verlorenheit bei einem Latte Macchiato in einem kreidetafelnden Café im Prenzlauer Berg“. Zeitreisen sind für Autoren in „dürftigen Zeiten“ ein riskantes Unterfangen, denn „wie bei jeder Ideologie bedeutet Kritik in erster Linie Beleidigung“. Dabei sollte doch längst begriffen sein:

„Dick ist nicht hässlich. Kein Aussehen ist abseits eurer persönlichen Vorlieben hässlich (…). Deine Meinungszeit ist vorbei. Meinungen werden auch nicht mehr toleriert. Moralische Toleranz gibt es nicht. Was für eine abwegige Idee, jemand besitze Toleranz und gebe sie nach eigenem Gutdünken der lieben Welt anheim.“

Der Rest ist Geschichte.

„Doch etwas Neues ist gekommen, etwas Unvorhergesehenes“: Ein Lesevergnügen, oder in den Worten des Malers und Grafikers Winfried Wolk: „Unerhörtes in merkwürdigen Zeiten!“


einzlkind: Minsky. Roman, Edition Tiamat, Berlin, 2021, 215 Seiten, ISBN-13: 9783893202638