Inklusion als Ideologie

Inklusion wird enthusiastisch vorangetrieben und Integration verdammt.

Inklusionsquoten werden wie ein Hau den Lukas gehandelt: je höher, desto inklusiver und besser, denn Inklusion ist ja Menschenrecht. Und die Quoten steigen schuljährlich. Spitzenreiter Bremen hatte im Juli 2017 — laut dpa — bereits 88,9 Prozent erreicht und löst schon fast das Klingelsignal aus: „Seit Inkrafttreten des neuen Schulgesetzes 2009 haben sich die Bremer Schulen auf den Weg der inklusiven Beschulung begeben. Die Umsetzung gelingt in Bremen, da der Blick auf einen Prozess in seiner gesamten Komplexität gerichtet ist“ (1). Richten wir ihn dorthin.

Der Blick der Bremer Senatorin für Kinder und Bildung war dabei nicht auf Bremen-Nord gerichtet. Der Weser-Kurier berichtete am 17. Dezember 2017 von katastrophalen Verhältnissen an den dortigen Grundschulen. Die Elternschaft an der Grundschule Wigmodistraße hat sogar 2016 eine „AG Notstand“ gegründet: Die Inklusion sei dort an der aktuellen Personalausstattung gescheitert, konstatiert sie bitter. Aber der Glaube an sie wird allenthalben hochgehalten: Eine Ideologie muss sich nicht an der Realität messen.

Der Lehrer Michael Felten klärt mit seinem Buch „Die Inklusionsfalle: Wie eine gut gemeinte Idee unser Bildungssystem ruiniert“ (2017) mit Berichten aus der Schulpraxis (vorwiegend aus NRW) auf und lässt wenig Raum für Verklärung der Inklusion in der Schule. Schon seit 2012 lautet der Tenor vieler Kritiker: „Gut gedacht, aber schlecht gemacht“. Mit diesen Worten kritisierte etwa 2015 die CDU-Fraktion in NRW fehlende Sonderpädagogen an den weiterführenden Schulen in Neuss – und die Worte wurden wiederholt in einer Haushaltsrede der CDU-Ratsfraktion Augustdorf 2017 in NRW. Und so fort.

Aber war die Idee von Inklusion wirklich gut gemeint oder gut gedacht? Und ging es tatsächlich um eine Verbesserung der gesellschaftlichen Teilhabe von Behinderten? Nein. Das erkennt man daran, dass Behinderung eigentlich postmodern nicht mehr beim Namen genannt werden soll – alle seien divers, jeder auf seine Weise. Gegen diese Dekategorisierung, die letztendlich in unterlassener Hilfeleistung mündet, hatte sich schon der Sonderpädagoge Bernd Ahrbeck in seinem Buch „Inklusion - Eine Kritik“ gewandt. Nicht nur ihm muss es erscheinen, dass es bei dem ganzen Inklusionsdiskurs unterschwellig noch um etwas anderes geht:

„Die alten Kämpfe für die Einheitsschule erhalten nunmehr neue Nahrung. In der Hoffnung, dass sich die schulische Inklusion behinderter Kinder als hilfreicher Bündnispartner erweisen kann.“

Institutionsbezogene und voreingenommene Sichtweisen

Der Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) von 1972 zur Ordnung des Sonderschulwesens sah 10 verschiedene Kategorien für Sonderschulen vor (für Blinde, Gehörlose, Geistigbehinderte, Körperbehinderte, Kranke, Lernbehinderte, Schwerhörige, Sehbehinderte, Sprachbehinderte und Verhaltensgestörte), die auch noch nach den Empfehlungen der KMK zur sonderpädagogischen Förderung aus dem Jahre 1994 Bestand hatten. Letztere Empfehlungen setzten auf eine weitgefächerte Umsetzung sonderpädagogischer Maßnahmen, die unter anderem auch Förderung im gemeinsamen Unterricht in allgemeinen Schulen betrafen, wobei die Förderung aller Schüler sichergestellt sein musste.

In dem Beschluss von 1994 wurden die Vielfalt der Organisationsformen, Orte und Vorgehensweisen in der pädagogischen Förderung als „Zeichen für eine personenbezogene, individualisierende und nicht mehr vorrangig institutionenbezogene Sichtweise sonderpädagogischer Förderung“ interpretiert. Diese Vielfalt ist nunmehr von einigen Bundesländern per Handstreich weitgehend beseitigt worden, ohne dass dabei für die betroffenen Kinder ein Mehr an Unterstützung herausgekommen ist. Die radikale Form der Inklusion setzt allein auf Zusatzbetreuung innerhalb der Regelschulen – stellt also eigentlich einen Rückfall in das andere Extrem einer institutionenbezogenen Sichtweise dar. Das einzelne Kind mit seinen Bedürfnissen zählt nicht mehr, sondern muss sich dem Inklusionsprinzip unterordnen, ob behindert oder nicht.

„Nun, die UN-Behindertenrechtskonvention wollte in der Tat dafür sorgen, dass auch Kinder mit Handicaps freien Zugang zum Bildungswesen haben – aber sie verlangt pikanterweise gerade nicht, unsere Förderschulen abzuschaffen“, so schrieb Michael Felten in einem Beitrag (Süddeutsche Zeitung, 22 April 2017). In Absatz (2) des Artikels 24 lauten die entscheidenden Passagen in der offiziellen deutschen Übersetzung jener Konvention: Es ist das Ziel, dass

„Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden; (...) Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben; (...) in Übereinstimmung mit dem Ziel der vollständigen Integration wirksame individuell angepasste Unterstützungsmaßnahmen in einem Umfeld, das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet, angeboten werden.“

Das ist klar und deutlich: das Bestmögliche und kein Ausschluss aus dem Bildungssystem und keine Benachteiligung auf dem Weg zur Integration! Wie im Einzelfall diese Integration am besten zu bewerkstelligen ist, darüber sagt die UN-Konvention, die 2008 in Kraft trat und in Deutschland 2009 ratifiziert wurde, nichts. Hingegen heißt es in der „Übersetzung“ der UN-Konvention in Leichte Sprache (durch die Lebenshilfe Bremen) unter dem Stichwort Bildung auf Seite 119 der Broschüre der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen: „Behinderte und nicht behinderte Kinder sollen zusammen in eine Schule gehen. Keine Schule darf sagen, dass ein Kind wegen einer Behinderung nicht dort lernen darf.“ Unter dem Vorwand einfacher Sprache werden hier eigene Forderungen untergeschoben.

Die Linke drehte 2012 gar den Spieß um und behauptete in einer Schrift der Berliner Rosa-Luxemburg-Stiftung (Petra Leuschner & Jens-Peter Heuer) dreist, dass bei der deutschen Übersetzung ein bemerkenswert grober Fehler passiert wäre, weil hier eben gerade nicht von Inklusion, sondern weiterhin von Integration die Rede wäre. Für die Fraktion Die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus war es gemachte Sache: „Der Idealtyp einer inklusiven Schule ist die Gemeinschaftsschule. Alle werden akzeptiert, das heißt so angenommen, wie sie in der Schule ankommen.“ Die Idealvorstellung lässt einen die neoliberale Realität für einen Wimpernschlag überträumen. „Man findet einen schönen Begriff, ,Gemeinsames Lernen‘, um das Empfinden von Unterschieden zu reduzieren. Tatsächlich wird dieses dadurch aber verstärkt“, sagte Michael Felten kürzlich in einem Interview.

Bereits im Jahre 2010 posaunte die Bertelsmann Stiftung: „Das deutsche Schulsystem muss inklusiv werden“ – im Sinne des radikalen Inklusionsprinzips. Wollte man dort jene Konvention nicht im originalen Wortlaut gelesen wissen? Warum wird sie mit ihrer Ratifizierung 2009 in Deutschland bewusst falsch interpretiert, sodass die Inklusionsbefürworter sich auf ein hohes moralisches Podest setzen und verkünden „Inklusion ist Menschenrecht“? War also „Die Inklusionslüge“ (so der Buchtitel des Sozialethikers Uwe Becker) inszeniert, damit wir alle und Die Linke und insbesondere die Neue Linke in die Inklusionsfalle tappen sollten?

Spareffekt

In Niedersachsen wurde zum Schuljahr 2013/14 mit dem Schulgesetz erlassen: „Die öffentlichen Schulen ermöglichen allen Schülerinnen und Schülern einen barrierefreien und gleichberechtigten Zugang und sind damit inklusive Schulen.“ Die niedersächsischen Grundschulen erhalten seitdem eine sonderpädagogische Grundversorgung mit 2 Förderlehrerstunden pro Woche in den Bereichen Lernen, Verhalten und Sprache. Für die Bereiche Hören und Sehen gibt es zusätzlich 3, für körperlich-motorische Entwicklung ebenso 3 und für geistige Entwicklung 5 Förderlehrerstunden. In den jeweils verbleibenden Stunden wird offenbar erwartet, dass die Mitschüler und der Regellehrer die Förderarbeit leisten, auch wenn sie das gar nicht können oder dafür nicht ausgebildet sind.

Ein Mädchen im Freistaat Bayern, das in ihrer Kommunikation auf Gebärden angewiesen ist und nicht lautsprachlich kommunizieren kann, sollte im Jahre 2011 nach Elternwillen eine Regelschule besuchen und einen Dolmetscher zur Seite gestellt bekommen. Die Kostenübernahme wurde jedoch abgelehnt. Und auch das Sozialgericht Augsburg entschied (S 15 SO 110/11 ER), dass sich bei Besuch der Regelschule hieraus nicht zwingend auch die Verpflichtung des Sozialhilfeträgers ergebe, die Beschulung an der Regelschule im Rahmen der Eingliederungshilfe zu unterstützen. Die 2. Instanz sah das genau so (L 8 SO 164/11 B ER). Ähnlich gelagerte Fälle gab es auch andernorts.

Es ist eben zu teuer. Der anvisierte Weg in die inklusive Gesellschaft war also in Wirklichkeit nur der Zuruf an die Allgemeinheit „Wir schaffen das“ und die Aufforderung an die Betroffenen, selbst aktiv zu werden: Empowerment. Um das Wohl junger Menschen mit Behinderung unterschiedlichster Art ging es staatlicherseits nicht, sondern eine Systemänderung sollte zügig durchgezogen werden, kurzfristig gerne kostenneutral. Uwe Becker merkte an, dass die UN-Konvention auf der Basis einer gewissen politischen Ahnungslosigkeit im Deutschen Bundestag ratifiziert wurde, zumindest schien jeden Parlamentarier zu beruhigen, dass ein solches Projekt doch keinerlei Mehrkosten verursache (2).

Es ist schon so, wie Michael Winkler in seinem Essay „Kritik der Inklusion – oder: Über die Unvermeidlichkeit von Dialektik in der Pädagogik“ (Widersprüche, Heft 133, 2014) schreibt:

„... nun wird den Behinderten deutlich gemacht, dass sie doch gar nicht wirklich behindert, sondern nur kategorisiert und damit stigmatisiert sowie ausgegrenzt seien. Wie immer bei Ideologien trifft das zu: die Gesellschaft grenzt Behinderte aus – nun schließt sie diese ein, als billige Arbeitskräfte, vor allem als Menschen, die ihre Arbeitskraft verkaufen und sich an den Normalarbeitsverhältnissen messen lassen müssen.“

Das neue Bundesteilhabegesetz wird schon dafür sorgen, dass die wenigen beruflich erfolgreichen, in ein versicherungspflichtiges Berufsleben eingegliederten Behinderten nicht aus der unteren Mittelschicht weiter aufsteigen können und schlussendlich in Altersarmut enden müssen (Raul Krauthausen, Die Zeit, 26. November 2017). Die schöne Metapher von der unsichtbaren Aufstiegsbarriere als gläserner Decke wird hier greif- und sichtbarer als die fest gemauerte Decke eines Kriechkellers.

Vernebelung und Ideologie

Inklusion zusammen mit Gender & Diversity wirken als Ideologie, die die Realität mit ihren teils entwürdigenden Bedingungen vernebelt und sich auf Nebenschauplätzen abarbeitet. Die Utopie einer inklusiven Gesellschaft, in der alle Menschen gleich wertgeschätzt sind – Frauen wie Männer, Fremde wie Einheimische, Behinderte wie Nichtbehinderte – wird gepredigt wie einst die Vorstellung des Paradieses von der Kirchenkanzel. Oder beschworen wie einst die Volksgemeinschaft, die realiter niemals eine war. Öffentliche Bildungsmaßnahmen werden nur nach ihrem utopischen Prosagehalt beurteilt, und Kritik an der Praxis wird durch Tabus ausgehebelt.

Regina Mönch schrieb 2017 auf der Webseite Schulforum-Berlin: „Verhaltensauffällige Kinder zahlen heute einen hohen Preis für den Machbarkeitswahn ideologischer Schulreformer, die exklusive Förderkonzepte gerade für psychosoziale Störungen geringschätzen, sie gar als Diskriminierung, als ,Abschiebepädagogik‘ denunzieren – ein Störfaktor auf dem Weg ,in eine neue Welt‘, in der alle mit allen können sollen, koste es, was es wolle.“ Es muss überhaupt erst einmal die Voraussetzung dafür geschaffen werden, dass diese Schüler einen Weg ins normale, selbstbestimmte Leben finden, wozu später wieder eine Regelschule oder eine Berufsausbildung gehört.

„Eine buntgemischte Klasse – womöglich noch mit traumatisierten Flüchtlingskindern – kann diesen Schülern nicht die sicheren Rückzugsräume bieten, die sie brauchen, um ihre Störung zu überwinden” (Heike Schmoll, F.A.Z., 28 Mai 2017). „Räume, die sich als nischenhafte Exklusionssphären jenseits der breiten Korridore der Inklusionspaläste platzieren, könnte man auch als innergesellschaftliche ,Schonräume‘ verstehen, die sich der zentralen Funktionslogik einer auf Leistung und Konkurrenz gegründeten Gesellschaft entziehen“ (Uwe Becker, Exklusionen im Inklusionszeitalter, NDV, März 2015).

Größtmögliche Heterogenität wird wider jeder pädagogischen Vernunft in den schulischen Einschließungsmilieus angestrebt, und durch Inklusion ist unter dem obligaten Spardiktat das absolute Maximum erreichbar. Schulischer Unterricht in der Buntmischung lässt sich dann nur durch niveaugestufte Arbeitsaufträge an Schüler zur Kleingruppen- oder Einzelarbeit realisieren. Individualisierung des Unterrichts und Selbstlernkräfte sind die neuen Zauberformeln. Die begabten Schüler fungieren dabei als unbezahlte Hilfslehrer und Sozialarbeiter. Für die bezahlten Coaches, Lehrkräfte wie Inklusionsbegleiter, steigt der Vorbereitungs- und Verwaltungsaufwand ins Unermässliche. Ihr kollektiver euphorische Glaube an die Inklusion wird schließlich in Burnout umschlagen.

Als Erlösung von allem Übel erscheint da – vom Hause Bertelsmann konzipiert – das total digitale Klassenzimmer mit dem zentral gesteuerten individualisierten digitalen Lernen am Horizont. Inhumaner kann man sich die neue Lernwelt beziehungsweise Abrichtungswelt gar nicht vorstellen. Die „Lehrerdämmerung“, so der Titel des Buches von Christoph Türcke, hat längst eingesetzt. Und solange der private Bildungssektor die Funktionselite ausbilden kann (und sei es in der Schweiz oder in England oder Irland), wird die Zweiteilung der Gesellschaft im Neoliberalismus zementiert. Das neoliberale Herrschaftssystem stabilisiert sich weiter – die gesellschaftliche Revolution wird unmöglich (Byung-Chul Han, Süddeutsche Zeitung, 3. September 2014).


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Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.bildung.bremen.de/inklusion-4417
(2) siehe Ausgabe 1-2017 auf www.inklusion-online.net