Innerer Frieden als Lösung?

Eine Replik auf Elisa Gratias' „Die Furcht vor der Freiheit“.

Elisa Gratias‘ Text „Die Furcht vor der Freiheit“ (1) hat etwas von einem wohltemperierten Vollbad mit einem Schuss Vanille-Mandarine-Essenz. Man fühlt sich behaglich umhüllt von einer Wolke des Verstanden-Seins, angenehm angeregt, manchem entlockt die Lektüre vielleicht sogar einen kleinen Seufzer.

Ja, das alles kennt man doch, und es ist hier trefflich beschrieben — das Erschrecken über die bitterböse Welt da draußen, die Beklemmungen, die die Realität hervorruft, das Hadern mit der eigenen Ohnmacht.

Alle diese Gefühle des Missbehagens löst der Text dann auf, indem er unseren Blick weg lenkt von den harten politischen Tatsachen, die uns so irritieren: „Doch die Bequemlichkeit ist unser größter Feind und nicht der Russe, die NATO oder Terroristen. Es ist ein Teil in uns selbst."

Abgesehen von der etwas eigenwilligen Grammatik — was heißt das nun? Etwa — ade Bequemlichkeit? Raus aus dem herrlichen Bad, ab in die feindliche Kälte gar, aber dalli dalli? Nein, wir dürfen uns wieder beruhigt zurücklehnen und den Vanille-Duft in uns aufnehmen: Denn der Aufbruch, zu dem wir hier sanft aufgefordert werden, versteht sich – jedenfalls in meiner Lesart – vor allem als Aufbruch „in unser eigenes Innenleben“. Nicht die Auseinandersetzung mit „den Russen, der NATO und den Terroristen“ (ohnehin eine krude Reihung) sei anzustreben, sondern mit unserem „Gefühls- und Innenleben“.

Heißt das, frei nach Werther: „Ich kehre in mich selbst zurück und finde eine Welt.“? Ein solcher Ansatz birgt in meinen Augen eine große Gefahr: Die Gefahr, es bei innerer Einkehr, im Versenken in die eigenen Befindlichkeiten zu belassen und darin einen Ausweg aus dem Unbehagen angesichts der gegenwärtigen Missstände zu finden; und — schlimmstenfalls und zugespitzt formuliert: die Weltflucht als Lösung der massiven handfesten Probleme unserer Zeit zu sehen.

Das aber wäre ein Irrweg.

In meinen Augen ist eine allzu innige Hinwendung zum eigenen Ich das Gegenteil dessen, was unserer Gesellschaft Not tut. Zu allen Zeiten, vielleicht aber gerade heute — angesichts der wachsenden Spannungen in den internationalen Beziehungen, der zunehmenden Drangsalierung der Armen, der rücksichtslosen Beschneidung von Menschenrechten — gilt es, die eigene Bequemlichkeit zu überwinden. Ja, damit hat die Autorin unbedingt recht! Aber bitte nicht, um dann mit Verve den zartesten Seelenwindungen nachzuspüren. Vielmehr, um raus auf die Straße zu gehen, die Gemeinschaft mit Gleichgesinnten zu suchen, oder solchen, die es werden könnten, in Solidarität zu den Mühseligen und Beladenen stehen!

Denn wären wir alle aktiver und kritischer, wacher und aufmüpfiger, hätten wir als „kritische Masse“ das Zeug, wirklich etwas zu bewirken. Selbst gegen Aufrüstung, gegen Demagogie, gegen Hetze.

Viele einzelne „Seelchen“ dagegen, die ihrer Angst nachspüren, spielen den Mächtigen in die Hände.

Meine Sorge ist: Während wir mehr Innerlichkeit wagen, verteilen sie das Fell des Bären unter sich.

Gegen maßlose Gier, Machtbesessenheit und Verantwortungslosigkeit hilft nur massenhafter Protest. Die Feinde und die Gefahren sind ja real – die mächtigen Profitinteressen, die Unterdrückung der Schwachen, die Versuche, Mitbestimmung und freie Meinungsäußerungen einzuschränken, prägen und zerstören unsere Realität. Ihr müssen wir uns stellen, ehe es zu spät ist.

Der Gegner ist nicht in uns, der Gegner ist das imperialistische Großkapital und die kapitalistische Verwertungslogik, die Mensch und Natur, Empathie und Solidarität zermalmt.

Natürlich müssen wir unsere Trägheit und unseren Kleinmut überwinden. Wir müssen uns aus der Deckung wagen und können dann aus dem Austausch mit anderen über die wirklich existentiellen Themen Kraft gewinnen. Kraft, um uns unser Leben zurückzuholen, unser seelisches Gleichgewicht wieder zu erlangen und das Überleben des Planeten zu sichern.

Die intensive Hinwendung zur eigenen Psyche birgt zudem die Gefahr, dass wir dem neoliberalen Mantra auf den Leim gehen: Wenn nur jeder an sich selbst arbeitet und sich nur ordentlich anstrengt, sich optimiert, nicht nur äußerlich, sondern auch psychisch, wird alles gut.

Nein, es gibt kein richtiges Leben im falschen. Wir müssen schon in den sauren Apfel beißen und raus ins Leben, in die Aktion, ja – raus in den Kampf! Kampflos und nur mithilfe feinsinnigen Hineinhorchens in sich selbst wird sich in der Welt nichts ändern – jedenfalls nichts zum Besseren der Menschen.

Es sei jedem/r unbenommen zu versuchen, die Welt dadurch zu verbessern, dass er/sie erst einmal bei sich anfängt. Nur: Angesichts der sich zuspitzenden Krisen und Verteilungskämpfe wird das nicht reichen.


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.rubikon.news/artikel/die-furcht-vor-der-freiheit