Kafkas Augen

Wenn der Herr durch den Gang kommt, beginnt die Zeit der Hoffnung.

In dieser irrlichternden Zeit, in der die Richtungen abhandengekommen sind, auferstehen die Orte der Ankunft in der Poesie. Das ist keine Weltflucht, das ist ein Auftanken. Damit die Kräfte reichen, um auch in Wirklichkeit eine Richtung wiederzuerkennen. Kafkas Augen, wie viele andere Texte des Autors, sind ein solcher Ort der Ankunft. Bald beginnt die Adventszeit, also passend ...

Es existieren nicht viele Fotos von ihm, aber dies eine, auf dem Franz Kafka ohne Regung die Welt anblickt, als sei sie wundervoll und selbstverständlich zugleich, bringt einen Satz von Friedrich Hebbel in Erinnerung. Der Dichter der Nibelungen brachte die Faszination, der wir bei der Betrachtung eines solchen Bildes erliegen, schon vor zweihundert Jahren auf den Punkt: „Das Auge ist der Ort, in welchem Seele und Körper sich vermischen.“

Kafkas Augen schienen ihm nicht zu gehören, sie waren ein Neurotransmitter im Dienste einer höheren Instanz, die ein Licht verwaltet, das jenseits aller Sonnen seinen Ausgang nimmt.

Sein dokumentierter Blick ist wie ein Leitstrahl in die jenseitige Welt. Der französische Dichter François de La Rochefoucauld (1613—1680) schrieb, dass man weder die Sonne noch den Tod fest anblicken kann. Das gilt nicht für Kafka, der seine Aufgabe als Künstler darin sah, das isoliert Sterbliche ins unendliche Leben hinüber zu führen. Er malte mit den Augen. Seine Augen führten über jede Sekunde Protokoll. Er sparte sich den Verlust, welchen Maler auf dem langen Weg vom Auge durch den Arm in den Pinsel erleiden.

„Franz Kafka war eine elegante Erscheinung mit gewählter Unauffälligkeit“, heißt es in den Erinnerungen seines Freundes Max Brod. „Er war von einer bezaubernden Witzigkeit und Spitzigkeit, der in großer Gesellschaft allerdings verstummte.“ Eine Episode, die Brod in einem Fernsehgespräch zum Besten gab, lässt mich die Person Kafkas am deutlichsten spüren. Kafka kam eines Tages zu Besuch. Brods Vater schlief auf der Couch im Wohnzimmer. Kafka schlich auf Zehenspitzen hindurch, aber der Vater wurde wach. „Betrachtern Sie mich als einen Traum“, flüsterte Kafka und verschwand im Nebenzimmer.

Max Brod fand nach dem Tod Kafkas in dessen bescheidener Stube einen Zettel vor, auf dem er gebeten wurde, die gesammelten Werke seines Freundes zu vernichten. Er tat es nicht, was uns heute erkennen lässt, über welch prophetische Gaben der früh Verstorbene verfügte.

Wir bezeichnen private wie gesellschaftliche Verrenkungen, deren Ursprung und Ziel wir nicht zu erkennen vermögen, als kafkaesk. Im Grunde hätte das ganze Zeitalter, in dem wir uns bewegen, diese Bezeichnung verdient.

Für Brod war Kafka ein Moralist, der ausschließlich durch sein auf Aufrichtigkeit, Wahrheit und Natürlichkeit gerichtetes Sein zu überzeugen wusste. Der Drang zur Wahrheit war in ihm so stark ausgeprägt, dass er sich in Gesellschaft zunehmend isoliert fühlte, was in seinem Werk sehr qualvoll zum Ausdruck kommt. Franz Kafka zahlte seine Wahrhaftigkeit mit einer gehörigen Portion Einsamkeit. Vielleicht gehören solche Menschen deshalb zu den ersten Anwärtern auf die Gnade. Kafka jedenfalls hoffte inständig darauf. Wie anders wäre dieser späte Text zu deuten?

„Ein erstes Zeichen beginnender Erkenntnis ist der Wunsch zu sterben. Dieses Leben scheint unerträglich, ein anderes unerreichbar. Man schämt sich nicht mehr, sterben zu wollen; man bittet, aus der alten Zelle, die man haßt, in eine neue gebracht zu werden, die man erst hassen lernen wird. Ein Rest von Glauben wirkt dabei mit, während des Transportes werde zufällig der Herr durch den Gang kommen, den Gefangenen ansehen und sagen: ‚Diesen sollt ihr nicht wieder einsperren. Er kommt zu mir.’“