Keine Rache in meinem Namen

Die Mutter eines am 7. Oktober 2023 von der Hamas ermordeten jungen Mannes widersetzt sich der vermeintlichen Pflicht, die Täter zu hassen.

Die meisten Angehörigen der Opfer des Massakers wollen die Täter nicht ungestraft davonkommen lassen. Viele wünschen Vergeltung, ja Rache. Aber was würde das bedeuten? Doch nur, dass auf der Gegenseite andere Mütter um ihre Kinder weinen. Und dass sich die Spirale der Gewalt weiterdreht, was weitere Opfer auf beiden Seiten fordern wird. Die Israelin Michal Halev hat das Schlimmste erlebt: Sie verlor ihren geliebten Sohn. In einem beeindruckenden Video stellt sie klar: Eine Vergeltungsaktion geschähe nicht in ihrem Namen. Charles Eisenstein, der Autor dieses Artikels, macht sich seine Stellungnahme nicht leicht. Er weiß, dass es für Außenstehende viel leichter ist, Vergebung zu fordern. Aber er weiß auch, dass es im Interesse einer friedlichen Zukunft keine Alternative gibt zum Verzicht auf Rache. Ein Friedenswunder im Nahen Osten, sagt er, könne das Schicksal der Menschheit für immer zum Besseren wenden.

Für Außenstehende wie mich ist es ein Leichtes zu fordern, dass der Rache-Teufelskreis beendet wird, der ungebremst womöglich in einem weltweiten Blutbad enden könnte. Etwas ganz anderes ist es, Rache abzulehnen, wenn man selbst unmittelbar und direkt von Gewalt betroffen ist.

Dieses Video ist von Michal Halev, der Mutter eines jungen Mannes, der am siebten Oktober von der Hamas ermordet wurde.

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Ein Beitrag geteilt von Maya Rimer (@mayarimer)

Maya posting for Michal; these are HER words; von mayarimer. Übersetztes Transkript des Videos am Ende des Beitrages

Am Schluss sagt sie: „Ich will keine Rache in meinem Namen.“

Warum? Weil sie eine Mutter ist. Weil sie nicht möchte, dass irgendeine andere Mutter, ob sie nun in Israel oder in Gaza lebt, durch den vernichtenden Schmerz gehen muss, den sie erlebt. Die Einfachheit ihrer Worte lichtet den Nebel des Verstandes, der jederzeit einen nächsten Krieg rechtfertigt. Ich möchte, dass alle, die sich möglicherweise in diesen Nebel verirrt haben, anhören, was diese Frau zu sagen hat.

Wenn diese Mutter Rache ablehnt, wer maßt sich dann das Recht dazu an?

Das ist die Art Führung, die wir heute brauchen. Wir brauchen Führungspersönlichkeiten, die Demut zeigen angesichts des Mutes von Frauen wie Michal. Ein wahrer Anführer ist jemand, der einen neuen Kurs einschlägt, nicht jemand, der sich einfach an die Spitze der immer gleichen Dynamik stellt.

Ich wünsche mir, dass alle, die in eine Führungsposition streben, sich Michals Worte zu Herzen nehmen.

Beim Ansehen dieses Videos wird ein schlichter, naiver Anteil in uns denken: “Natürlich. Es ist so einfach. Hört einfach auf. Keine Bomben mehr. Kein Töten. Hört einfach auf.“ Denn aus ihren Worten sprechen eine unleugbare Wahrheit und moralische Autorität. Aber schon einen Augenblick später verhöhnen zynische und verächtliche innere Stimmen diesen Impuls als naiv, realitätsfern, illusionär und dumm. Sie tragen ein riesiges Reservoir an Kummer, Wut und ungeheiltem Trauma in sich. Sie verleihen dem Schmerz über unsere verratene Unschuld eine Stimme. Und sie lassen sich von außen bestätigen: durch Politikexperten, die von Abschreckung und Eindämmung reden, von Rechtfertigung und Strafe, von nationalen Interessen und dem Kalkül konkurrierender Konfliktparteien.

Manche unter uns sind empfänglicher für die Stimmen von Zynismus und Spott, für die Bequemlichkeit, das menschliche Drama einfach als gegeben hinzunehmen. Manche lehnen die Stimme des Friedens vollständig ab. Andere begegnen ihr mit Misstrauen und wagen es nicht, sie durch ihren eigenen Mund sprechen zu lassen. Oder sie stecken sie in eine „spirituelle“ Schublade oder beschränken sie auf die Beziehungsebene und trauen sich nicht daran zu glauben, dass sie der Grundstein einer neuen Politik sein könnte.

Es ist mir egal, wie naiv, wie wenig politisch umsetzbar, wie unmöglich es scheinen mag, das Feuer von Hass und Schuldzuweisung und Rache auszulöschen, das sich durch das Pulverfass Naher Osten frisst. Im üblichen Lauf der Dinge wäre das unmöglich. „Sie werden es nie akzeptieren. Sie werden es nie tun. Sie sind wild entschlossen … von der Landkarte zu tilgen. Und selbst wenn ein paar Führungspersonen ihre Meinung änderten, würden sie doch davor zurückschrecken sich gegen die öffentliche Meinung zu stellen, die nach Rache verlangt.“ Ich weiß, ich verlange eine Menge. Ich verlange Führungspersönlichkeiten, die sich dem Tornado aus Kriegshysterie und dem Blutdurst der Massen entgegenstellen und die ihr Volk gegen den Wind aus dem Sturm führen, anstatt selbst davon mitgerissen zu werden. Ich verlange eine Menge, aber es ist nicht unmöglich. Hoffnung liegt in der Tatsache, dass alle Beteiligten menschliche Wesen mit lebendigem Herzen sind, die die moralische Kraft von Michals Aufruf empfangen können. Das kann sie in eine neue Wirklichkeit versetzen, in der Wunder möglich sind.

Wir können den Teufelskreis der Rache beenden. Die Lage in Israel/Palästina stellt eine große Gefahr für die Welt dar, ist aber eine ebenso große Chance für eine Umkehr. Ein Friedenswunder an diesem Ort würde durch die gesamte Schöpfung widerhallen. Wenn Michals Worte diejenigen erreichen können, die den Finger auf dem Abzug haben, und sie dazu bewegen mutig naive Entscheidungen zu treffen, dann ist ihr Sohn nicht umsonst gestorben.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „In my name, I want no vengeance“ auf dem Blog von Charles Eisenstein. Er wurde von Ingrid Suprayan ins Deutsche übersetzt, von Vanessa Groß korrekturgelesen und auf dem deutschen Ableger des Blogs unter dem Titel „Keine Rache in meinem Namen“ zweitveröffentlicht.