Knechte der Pharmaindustrie

Bei Medikamententests herrscht meist das Motto „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“. Exklusivabdruck aus „Der betrogene Patient“.

Wenn ich ein Heilmittel einnehme, muss ich Vertrauen haben können, dass mein verschreibender Arzt nicht nur guten Willens ist – auch die Informationen, auf denen seine ärztliche Entscheidung beruht, müssen absolut zuverlässig sein. Davon kann im modernen kommerzialisierten Medizinbetrieb jedoch keine Rede sein. Die Forschung über Nutzen und Nebenwirkungen von Medikamenten ist zum großen Teil „gesponsert“, ihre Ergebnisse sind durch kommerzielle Interessen somit vorgeprägt. Auch der einzelne Arzt hat kaum mehr die Möglichkeit, Wahrheit von profitgetriebener Suggestion zu unterscheiden. Das medizinische Wissen wird zunehmend privatisiert und standardisiert. Ärzte nutzen nicht mehr Medikamente, um ihren Patienten zu dienen; vielmehr benutzt die Pharmaindustrie Mediziner, um Patienten ihre Erzeugnisse aufzuschwatzen.

Man muss der in Deutschland meist nebenberuflichen Forschung abends und an Wochenenden sowie einer klinischen Medizin außerhalb von Forschungslabors mit methodischen Defiziten zwar mildernde Umstände zubilligen, doch der Hund liegt ohnehin anderswo begraben. Mehr als 90 Prozent der randomisierten Medikamentenstudien werden finanziell von der Pharmaindustrie beeinflusst (1, 2). Das ist kein neues Phänomen: Jüngst aufgetauchte Dokumente belegen, dass die amerikanische Zuckerindustrie schon 1967 Studienautoren mit 50.000 US-Dollar kaufte, um Zucker als Risikofaktor für gefäßbedingte Erkrankungen zu verschleiern. Seither hat die Sugar Research Foundation mindestens über zwei Jahrzehnte Studienergebnisse gefördert, die Zucker aus der Schusslinie nehmen und Cholesterin und Fette als Verursacher der Arteriosklerose identifizieren (3).

Mit Verlagerung nicht nur der Produktion von Arzneimitteln, sondern zunehmend auch klinischer Studien nach Indien oder China ist ein weiterer Verfall der Integrität erhobener Daten zu befürchten. Die Kontrolleure der chinesischen Aufsichtsbehörde CFDA stellten bei der Überprüfung von 1.622 Zulassungsanträgen für Arzneimittel fest, dass 81 Prozent (!) aufgrund gefälschter, fehlerhafter oder unzureichender Daten zurückgezogen werden müssten (4). Da eine Suche in einer amerikanischen Datenbank (5), deren Daten zumindest auch teilweise in China erhoben werden, sind dortige Studien auch für Zulassungen in den USA und Europa relevant.

Die Einflussnahmen gehen noch weiter und beinhalten auch, dass für vorhandene Substanzen neue Anwendungsgebiete jenseits ihrer ursprünglichen Zweckbestimmung gesucht und mit Hilfe von Ärzten neue Krankheiten erfunden werden.

Es werden Einschlusskriterien und Umfang der Studiengruppen manipuliert, klinisch irrelevante Zielwerte definiert, nachträgliche Untergruppenanalysen vorgenommen und mathematische Signifikanz als patientenrelevante Signifikanz ausgegeben. Immer, wenn die eigentliche Anwendung eines Medikaments zweifelhaft ist oder wird, tauchen aus dem wissenschaftlichen Nebel Studien auf, die einen trotz gezielter Suche „unerwarteten“ positiven Nebeneffekt aufgedeckt haben wollen: Bei regelmäßiger Einnahme des Antidiabetikums Metformin sei das Risiko für das Nachwachsen von Polypen im Dickdarm reduziert (6)! Auf diese Weise ließe sich ein geringeres Risiko genauso gut für die Untergruppe der Smartphone-Nutzer nachweisen …

Trotz mathematischer Signifikanz sind diese „Evidenzen“ Zufallskorrelationen ohne Kausalität und daher lebensweltlich irrelevant. Kommerziell sind sie dagegen höchst bedeutsam, wenn ein altes Medikament eine neue Anwendung bekommt.

Schlimmer noch: Diese Pseudoevidenzen, die keiner Überprüfung standhalten, können einen wirklichen Erkenntniszuwachs über Jahre und Jahrzehnte aufhalten und unsinnige Behandlungen verursachen. Es gilt im Interesse der Geldgeber und der eigenen Fachgebietsansprüche: Was vorteilhaft wäre, kann doch auch einmal sein! Wie ist es sonst zu erklären, dass sich selbst in den angesehensten internationalen Fachzeitschriften die Rate positiver Ergebnisse für Studien mit und ohne Industrieunterstützung erheblich, um knapp 20 Prozentpunkte (!), unterscheidet: 67 Prozent positive Ergebnisse bei Industrieunterstützung und 49 Prozent ohne dieselbe (7)?

Industrieunterstützung macht es fünfmal so wahrscheinlich, dass ein untersuchtes Medikament als Mittel der Wahl empfohlen wird – was natürlich nicht heißt, dass es auch fünfmal so wirksam wäre … Und wenn 100 % der „wissenschaftlichen“ Poster – Kongressbeiträge, die nicht als Vorträge angenommen wurden, sondern nur in Plakatform ausgestellt werden – mit Industrieunterstützung Positives zu vermelden haben, verkommt „Wissenschaft“ in den Untiefen der nationalen Fachgesellschaften zur Lachnummer (8).

Negative Studienergebnisse mit Industriefinanzierung werden vorzugsweise dann publiziert, wenn es unerwünschte Nebenwirkungen von Medikamenten zu vernebeln gilt.

In den letzten zehn Jahren finden sich zahlreiche Publikationen, die für Statine, die das LDL-Cholesterin im Blutserum senken, keinen positiven Effekt auf Demenzen vermelden – eine Fragestellung, die den primären Einsatz dieser Mittel zur Verhütung einer Arteriosklerose eigentlich gar nicht betrifft. Wie Duftspuren zur Ablenkung einer Hundemeute bei einer Fuchsjagd sollen diese „Studien“ einem Zusammenhang zwischen der Einnahme von Statinen und der Entstehung einer Demenz vorbeugen. Zwei Veröffentlichungen eines amerikanischen Autors aus den Jahren 2000 und 2004 hatten auf eine Einschränkung der kognitiven Leistungen unter Statinen hingewiesen (9).

Auch ein früherer Direktor der WHO findet es unwahrscheinlich, dass Substanzen, die den Cholesterinstoffwechsel beeinflussen, keinerlei Auswirkungen auf das Gehirn, das Organ mit dem höchsten Cholesterinumsatz, haben sollten (10). Kognitive Beeinträchtigungen mit Gedächtnisausfällen sind jedenfalls nicht nur als Einzelfälle bei der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA, sondern auch in randomisierten Studien erkennbar (11).

Publikationen in Journalen mit hohem Impact-Faktor (Kennziffer für den Einfluss einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift) garantieren keineswegs wissenschaftliche Integrität und zweifelsfreie Evidenz (12). Methodisch schlechte und tendenziöse Studien können so zu hochrangig publizierten Pseudoevidenzen aufgewertet werden. Der Impact-Faktor einer Fachzeitschrift steigt mit der Zahl der veröffentlichten Pharmastudien (13).

Die Pharmaindustrie beherrscht nachvollziehbar den Wissenschaftsmarkt. Was in „höherwertigen“ Zeitschriften steht, kann von einem Leitliniengremium meist nicht ignoriert werden. Die Evidenz, die heute in der Medizin häufiger im Wort geführt wird als anderswo, droht vom Goldstandard für ein rational basiertes Handeln zum Deckmantel für unwissenschaftliches Vorgehen zu mutieren. Weniger bekannt ist, dass medizinische Wissenschaftler mit Abhängigkeit von industriellen Geldgebern zunehmend ihre Datenhoheit aufgegeben haben. Die Geldgeber sichern sich vorab alle Rechte auf Daten, Auswertung und Publikation, sodass die vermeintlichen Autoren einer Studie oft keinen Zugriff auf die von ihnen gesammelten Daten haben (14). Die Pharmakonzerne und ihre Ghostwriter erledigen die Arbeit.

Ärzte sind zu „Messknechten“ verkommen, die nicht nur die Hoheit über die Forschungsthemen, sondern auch über die Ergebnisse und deren Interpretation verloren haben.

Wer nicht mitspielt, hat ausgespielt. Die finanzstarken Industrielobbys üben zunehmend die volle Kontrolle über das medizinische Wissen aus. Sie monopolisieren die Daten durch Exklusivrechte für Studien und kontrollieren die praktizierenden Ärzte, da sich aufgrund der gesetzlichen Fortbildungsverpflichtung aller aktiven Mediziner niemand den von der Industrie unterstützten Referenten entziehen kann. Wissenschaft im eigentlichen Sinn setzt aber die Zugänglichkeit zu allen erhobenen Daten voraus, um eine Studie bewerten zu können.



Quellen und Anmerkungen:

(1) Bekelman JE, Li Y, Gross CP: Scope and impact of financial conflicts of interest in biomedical research: a systematic research. JAMA 2003; 289:454–65
(2) Jørgensen AW, Hilden J, Gøtzsche PC: Cochrane reviews compared with industry supported meta-analyses and other meta-analyses of the same drugs: systematic review. BMJ 2006; 333(7572):78
(3) Kearns CE, Schmidt LA, Glantz SA: Sugar Industry and Coronary Heart Disease Research: A Historical Analysis of Internal Industry Documents. JAMA Int Med 2016 ; 176(11):1620-5
(4) Woodhead M: 80% of China’s clinical trial data are fraudulent, investigation finds. BMJ 2016; 355:i5396
(5) ttps://clinicaltrials.gov/ct2/results?recr=Open&no_unk=Y&rslt=Without&type=Intr&Cntry1=ES%3 ACN&phase=2; letzter Zugriff am 05.10.2016
(6) Higurashi T et al.: Metformin for chemoprevention of metachronous colorectal adenoma or polyps in post-polypectomy patients without diabetes: a multicentre double-blind, placebo-controlled, randomised phase 3 trial. Lancet Oncol 2016; 17(4):475–83
(7) Als-Nielsen B et al.: Association of funding and conclusions in randomized drug trials: a reflection of treatment effect or adverse effects? JAMA 2003; 290:921–8
(8) Finucane TE, Boult CE: Association of funding and findings of pharmaceutical research at a meeting of a medical professional society. Am J Med 2004; 117(11):842–5
(9) Muldoon MF et al.: Randomized trial of the effects of simvastatin on cognitive functioning in hypercholesterolemic adults. Am J Med 2004; 117(11):823–9
(10) zitiert nach: Wenner Moyer M: It’s not dementia, it’s your heart medication: Cholesterol Drugs and Memory. Scientific American September 1 2010; https://www.scientificamerican.com/article/its-notdementia-its-your-heart-medication/; letzter Zugriff am 10.02.2017
(11) Evans MA, Golomb BA: Statin-associated adverse cognitive effects: survey results from 171 patients. Pharmacotherapy 2009; 29(7):800–11
(12) Smith R: The trouble with medical journals. Royal Society of Medicine Press Ltd; London 2006
(13) Lundh A et al.: Conflicts of interest at medical journals: the influence of industry-supported randomised trials on journal impact factors and revenue – cohort study. PLoS Med 2010; 7:e1000354 (14) Gøtzsche PC: Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität. Wie die Pharmaindustrie das Gesundheitswesen korrumpiert. riva Verlag, München 2014, S. 145ff.