Kollektives Stolpern

Im zurückliegenden Jahr passierte wenig schlagartig oder mit einem Knall, aber langsam dehnte sich der Rahmen dessen, was wir bereit sind, in Kauf zu nehmen.

„Das Jahr neigt sich dem Ende zu.“ Ein Satz, der klingt wie ein ritualisiertes Aufatmen, dabei ist er eher ein Seufzer. Man spricht ihn, weil man ihn jedes Jahr spricht, nicht weil man wirklich spürt, dass etwas abgeschlossen wäre. Denn dieses Jahr hinterlässt nichts, was man guten Gewissens „hinter sich lassen“ könnte. Es klebt. Es haftet. Es bleibt. Jedes Ende verspricht einen neuen Anfang, so sagt man. Doch in diesem Jahr klingt der Satz hohl. Nicht zynisch, nicht falsch, nur leer. Denn ein neuer Anfang setzt voraus, dass man bereit ist, etwas zu verändern. Und genau daran nagt der Zweifel: Möchte man das neue Jahr wirklich wieder so beginnen, wie das alte aufgehört hat? Mit derselben Sprache, denselben Erklärungen, denselben Zumutungen, die man uns als Notwendigkeiten verkauft hat?

Dieses Jahr war kein Ausreißer. Es war ein Lehrstück. Ein Jahr, das uns gezeigt hat, wie leicht sich Menschen an Verschiebungen gewöhnen, wenn man sie nur oft genug wiederholt. Wie schnell Ausnahmezustände zur Normalität werden. Wie still Würde erodiert, wenn man sie nicht laut verteidigt.

Wir haben gelernt zu funktionieren. Zu warten. Zu hoffen, dass es irgendwann wieder leichter wird. Doch Hoffnung wurde dabei zunehmend zur Beruhigungstablette, nicht zur Kraftquelle. Wer zu oft vertröstet wird, hört irgendwann auf zu fragen. Und wer aufhört zu fragen, verliert mehr als Antworten: Er verliert Haltung.

Dieser Jahresrückblick ist deshalb kein Abrechnen und kein Abhaken. Er ist ein Innehalten. Ein Versuch, die Müdigkeit ernst zu nehmen, statt sie zu überspielen. Die Traurigkeit nicht zu verdrängen, sondern als das zu erkennen, was sie geworden ist: eine stille Form von Wut. Denn vielleicht beginnt Veränderung nicht mit Optimismus, sondern mit Ehrlichkeit. Nicht mit Parolen, sondern mit dem unbequemen Blick auf das, was war, und auf das, was wir nicht noch einmal einfach hinnehmen wollen.

Dieses Jahr war ein Jahr, das sich weniger wie ein Kalender anfühlte und mehr wie ein schlecht sortierter Nachrichtenfeed. Man scrollte sich durch Monate, die sich gegenseitig kopierten, nur mit leicht veränderter Dramatik. Kaum hatte man sich an eine Krise gewöhnt, kam die nächste, winkte freundlich und sagte: „Keine Sorge, ich bleibe länger.“

Januar — Der Vorsatz als Beruhigungstablette

Das Jahr begann wie jedes Jahr: mit guten Vorsätzen, die weniger aus Hoffnung geboren waren als aus Erschöpfung. Man nahm sich nicht mehr vor, die Welt zu verändern. Man nahm sich vor, sie irgendwie auszuhalten. Mehr Gelassenheit, weniger Nachrichten, öfter spazieren gehen. Vorsätze wie Pflaster auf offenen Brüchen.

Der Januar war der Monat der Selbstberuhigung. Politik erklärte, dass jetzt alles besser werde. Medien erklärten, dass jetzt alles erklärt sei. Und der Bürger erklärte sich bereit, noch einmal zuzuhören. Nicht aus Überzeugung, sondern aus Gewohnheit. Man klammert sich an Routinen, wenn der Boden schwankt.

Es war der Monat der großen Worte und der kleinen Umsetzungen. „Zeitenwende“ war inzwischen kein Weckruf mehr, sondern Hintergrundrauschen. Man hörte es wie einen Tinnitus der Republik — ständig da, aber man lernte, ihn zu ignorieren, um nicht wahnsinnig zu werden.

Februar — Moral als Ersatzreligion

Im Februar nahm die Moral wieder Fahrt auf. Moral ist praktisch: Sie kostet nichts, lässt sich leicht verbreiten und wirkt sofort. Zumindest verbal. Wer moralisch richtig steht, braucht keine Argumente mehr. Haltung ersetzt Denken. Gesinnung ersetzt Verantwortung. Diskurse wurden zu Tribunalen. Wer Fragen stellte, hatte offenbar etwas zu verbergen. Wer abwog, galt als unsicher. Wer zweifelte, als gefährlich. Der Raum zwischen „richtig“ und „falsch“ schrumpfte auf die Größe eines Wahlplakats.

Und irgendwo dazwischen stand der Bürger und fragte sich leise, ob es wirklich unmoralisch ist, einfach nur in Ruhe leben zu wollen. Ob es verwerflich ist, keine Meinung zu allem zu haben. Ob man ein schlechter Mensch ist, wenn man müde ist.

März — Die Dauerkrise als Geschäftsmodell

Im März wurde endgültig klar: Die Krise ist kein Ausnahmezustand mehr. Sie hat System. Sie legitimiert Entscheidungen, beschleunigt Prozesse und entmündigt elegant. Wer Krise sagt, darf durchregieren. Wer Angst hat, stellt weniger Fragen. Politik regierte im Modus der Alternativlosigkeit, Medien berichteten im Modus der Dringlichkeit, und der Bürger lebte im Modus der Anpassung. Man gewöhnte sich an Preissteigerungen wie an schlechtes Wetter. Man schimpfte kurz und zog dann die Jacke enger. Traurigkeit verwandelte sich langsam in Wut. Aber es war keine explosive Wut. Es war die leise, kalte Wut eines Menschen, der merkt, dass man ihn nicht mehr ernst nimmt, ihn nur noch verwaltet.

April — Die Sprache verrät die Absicht

Im April begann man, genauer hinzuhören. Nicht was gesagt wurde, sondern wie. Sprache ist nie neutral. Wer von „Herausforderungen“ spricht, meint oft Zumutungen. Wer von Transformation spricht, meint Verzicht. Und wer von Resilienz spricht, meint Durchhalten ohne Widerrede.

Die Sprache wurde weicher, während die Realität härter wurde. Man sprach von Entlastung, während Rechnungen stiegen. Von Solidarität, während die soziale Schere knirschte. Von Zukunft, während Gegenwart zur Belastung wurde. Die Wut wuchs. Still. Unauffällig. Sie saß am Küchentisch, zwischen Kontoauszug und Einkaufsliste. Sie stellte keine Parolen auf, sie stellte Fragen. Und genau das machte sie gefährlich.

Mai — Der Sommer der Verdrängung kündigt sich an

Im Mai begann das große Verdrängen. Die Sonne kam, die Terrassen füllten sich, und für einen kurzen Moment tat man so, als sei alles halb so schlimm. Man wollte Normalität spielen. Nicht leben — spielen.

Politik nutzte die Pause. Medien auch. Skandale wurden softer, Probleme atmosphärischer. Man sprach mehr über Haltung als über Wirkung. Mehr über Symbolik als über Substanz. Doch unter der Oberfläche gärte es. Nicht laut, nicht revolutionär. Sondern zäh. Wie ein Unbehagen, das man nicht mehr wegatmen kann.

Die Traurigkeit war inzwischen nicht mehr nur privat. Sie wurde kollektiv.

Juni — Der Bürger als Störfaktor

Im Juni wurde klar, dass der Bürger zunehmend als Problem wahrgenommen wird. Er fragt zu viel. Er zweifelt zu oft. Er glaubt nicht mehr automatisch. Und das ist in einer verwalteten Gesellschaft unerquicklich. Man erklärte ihm die Welt noch einmal. Einfacher. Eindringlicher. Pädagogischer. Wer trotzdem nicht verstand, war entweder böswillig oder dumm. Eine dritte Möglichkeit, nämlich, dass der Bürger sehr wohl versteht, aber nicht einverstanden ist, war nicht vorgesehen.

Die Wut nahm Gestalt an. Nicht als Aufstand, sondern als innere Kündigung. Man zog sich zurück. Aus Diskussionen. Aus Engagement. Aus Vertrauen.

Juli — Die Hitze und das Schweigen

Der Juli war heiß, zumindest an manchen Tagen. Meteorologisch und gesellschaftlich. Die Hitze legte sich wie ein Schleier über alles. Diskussionen verdampften. Kritik wurde müde. Man ließ laufen. Und genau das war vielleicht das Erschreckendste: nicht der Streit, sondern das Schweigen. Die Gleichgültigkeit, die entsteht, wenn Menschen aufhören zu glauben, dass ihre Stimme etwas verändert.

Traurigkeit wurde zur Grundstimmung. Nicht dramatisch, sondern dumpf. Wie ein Raum, in dem ständig ein leiser Ton summt.

August — Unterhaltung als Betäubung

Im August regierte die Ablenkung. Sport, Skandälchen, Aufregerchen. Man empörte sich kurz, lachte kurz, scrollte weiter. Aufmerksamkeit wurde zur Ware, Wahrheit zur Randnotiz. Wer tiefer ging, galt als Spielverderber. Wer Zusammenhänge sehen wollte, als Verschwörer. Die einfachste Erklärung war immer die beliebteste. Und die bequemste immer die lauteste.

Die Wut war jetzt müde. Aber sie war nicht weg. Sie wartete.

September — Der Ernst kehrt zurück

Im September kam der Ernst zurück: Rechnungen, Prognosen, Warnungen. Der Sommer hatte nichts gelöst. Er hatte nur vertagt. Politik versprach wieder viel. Medien erklärten wieder alles. Und der Bürger hörte wieder zu, diesmal mit weniger Geduld. Man merkte, dass man in einem Kreislauf steckt, der sich selbst erhält.

Traurigkeit und Wut verbanden sich. Nicht explosiv, sondern konzentriert. Wie eine Faust in der Tasche.

Oktober — Die Maske rutscht

Im Oktober wurde die Rhetorik schärfer. Der Ton kälter. Wer nicht mitging, wurde deutlicher markiert. Aus Meinungsunterschieden wurden Charakterfragen. Man spürte: Es geht nicht mehr um Lösungen, sondern um Kontrolle. Nicht mehr um Überzeugung, sondern um Einordnung.

Und genau hier wurde die Traurigkeit endgültig zur Wut. Weil man merkte, dass es nicht um das Wohl der Menschen geht, sondern um das Funktionieren des Systems.

November – Der Monat der Erschöpfung

Der November war grau, nicht nur draußen, innen auch. Man funktionierte. Man zahlte. Man nickte. Und man fragte sich, wann es aufgehört hatte, dass man ernsthaft gefragt wurde. Die Demokratie fühlte sich an wie ein Abo, das man nicht kündigen kann, dessen Leistungen aber stetig reduziert werden.

Die Wut war jetzt ruhig. Gefährlich ruhig.

Dezember — Kein Abschluss, nur ein Atemzug

Und nun stehen wir hier, am Ende eines Jahres, das keines ist: kein Abschluss, kein Fazit, nur ein Atemzug zwischen zwei Zumutungen.

Wir blicken zurück und sehen keine Katastrophe — und genau das ist das Problem: Wir sehen Normalisierung. Gewöhnung. Verschiebung. Dieses Jahr hat uns nicht gebrochen. Es hat uns müde gemacht. Und das ist vielleicht schlimmer. Denn müde Menschen rebellieren nicht. Sie ziehen sich zurück. Sie schweigen. Und sie warten — auf was auch immer zuerst kommt: Veränderung oder Resignation.

Liebe Leserinnen und lieber Leser,

nun, am Ende dieses Jahres, gibt es kein positives Fazit, das man guten Gewissens ziehen könnte. Dafür war zu vieles schief, zu vieles halb, zu vieles unehrlich. Dieses Jahr verlangt keinen Rückblick mit Jahreszahlen, sondern einen Blick in den Spiegel. Und der ist unerquicklich. Nicht weil wir versagt hätten, sondern weil wir uns haben gewöhnen lassen. Gewöhnen an Zumutungen. An Sprachverdrehungen. An Entscheidungen, die über uns getroffen wurden, während man uns erklärte, wir seien Teil davon. Gewöhnen an den Gedanken, dass „es nun einmal so ist“. Und genau hier liegt die eigentliche Tragödie dieses Jahres: nicht in dem, was geschah, sondern in dem, was wir zu akzeptieren begannen.

Denn was verloren ging, war weniger Freiheit als Würde, weniger Wohlstand als Selbstverständlichkeit. Die Selbstverständlichkeit, gefragt zu werden. Ernst genommen zu werden. Als mündiger Bürger zu gelten und nicht als pädagogisches Projekt. Diese stille Entwertung ist es, die müde macht. Und Müdigkeit ist der gefährlichste Zustand einer Gesellschaft.

Dieses Jahr hat keine Helden hervorgebracht, sondern Überlebensstrategen. Ironie. Rückzug. Zynismus. Und das ist verständlich. Wer dauerhaft unter Druck steht, lernt, sich innerlich zu distanzieren. Doch Distanz schützt nur kurzfristig. Langfristig frisst sie das, was Gemeinschaft ausmacht.

Das neue Jahr steht nun vor der Tür, geschniegelt wie ein Versprechen, das noch nichts kosten musste. Man wird uns wieder sagen, dass es besser wird. Dass wir nur noch ein bisschen Geduld brauchen. Dass die Richtung stimmt, auch wenn der Weg schmerzt. Und es wird an uns liegen, ob wir diese Sätze wieder einfach hinnehmen oder ob wir beginnen, sie zu hinterfragen. Nicht laut. Nicht hysterisch. Sondern ruhig, beharrlich, unbequem. Mit der Wut, die aus Traurigkeit geboren wurde. Mit der Klarheit, die entsteht, wenn man nichts mehr beschönigen will. Mit dem Mut, sich nicht länger einreden zu lassen, dass Anpassung eine Tugend ist.

Vielleicht beginnt Veränderung nicht mit einem Knall, sondern mit einem einfachen Satz: „So nicht mehr.“ Vielleicht ist Hoffnung heute nichts Euphorisches mehr, sondern etwas Nüchternes. Etwas Trotzendes. Etwas, das sich weigert, vollständig zu resignieren.

In diesem Sinne wünsche ich allen Leserinnen und Lesern keinen naiven Optimismus, sondern einen klaren Blick. Keinen guten Vorsatz, sondern Rückgrat. Keinen blinden Gehorsam, sondern wachen Zweifel. Und dennoch — oder gerade deshalb — einen guten Rutsch. Nicht ins nächste Jahr hinein wie in eine Wiederholungsschleife, sondern mit dem festen Willen, nicht alles wieder stillschweigend hinzunehmen.

Ein frohes neues Jahr! Möge es weniger betäuben und mehr erinnern.