Kulissen des Alltags

Die Art, wie wir Räume einrichten, ist Ausdruck unseres Inneren — wenn wir sie nicht bewusst gestalten, gestalten sie uns.

Kommt man in einen Raum, kann man manchmal schon an der Inneneinrichtung ablesen, was für ein Mensch hier wohnt — ein verschrobener Künstler, eine Beamtin, eine Hippiefamilie. Manchmal liegt man richtig mit dieser Art von Vermutungen und manchmal wird man völlig überrascht. Doch der Stil, in dem Menschen ihre Wohnungen und Häuser einrichten, sagt mehr über sie aus als diese klischeehaften Schablonen. Tragen wir Sicherheit in uns? Suchen wir nach Halt und Struktur? Brauchen wir Freiraum oder Geborgenheit? Die Antworten auf diese Fragen sind individuell. Sie können von keinem Katalog, Ikea-Mitarbeiter oder Inspirationsboard beantwortet werden. Im Gegenteil, eine immer weiter fortschreitende Angleichung unserer Innenräume raubt uns auch ein Resonanzgefühl im Alltag.

Unsere Räume sprechen. Sie sprechen über uns — und wenn wir bereit sind hinzuhören, auch zu uns. Die Art, wie wir sie einrichten und wie wir uns in ihnen bewegen, sagt oft mehr über uns, als wir selbst wahrhaben wollen. Räume zeigen unsere Stärken, unsere Muster, unsere Schwächen – manchmal auch unsere Ängste.

Ich erinnere mich oft an eine Wohnung, in der ich ganz am Anfang meiner Arbeit in Berlin zu tun hatte. Ein beeindruckender Altbau – hohe Decken mit Stuck, raumhohe Fenster, Licht in allen Schattierungen. Die Einrichtung: exklusiv. Designerstücke, wohin man blickte. Jedes einzelne sorgfältig ausgewählt, ästhetisch makellos, einige vermutlich so teuer wie ein Kleinwagen. Doch je länger ich mich darin aufhielt, desto leiser wurde es in mir. Die Möbel standen da wie Skulpturen in einer Galerie. Alle riefen: „Sieh mich an.“ Aber sie sprachen nicht miteinander. Keine Beziehung, keine Verbindung, nur Inszenierung.

Es gab keine Spur von Leben. Keine Jacke im Flur. Kein Buch auf dem Tisch. Kein Hinweis auf Alltag oder Ankommen. Alles perfekt — zu perfekt. Ich hoffte wenigstens in der Küche einen kleinen Makel zu entdecken. Eine halb getrunkene Tasse Kaffee. Ein Notizzettel. Etwas, das von Leben zeugt. Aber es war nichts da. Nicht der geringste Hauch.

Als ich aus dem Staunen herauskam, begann in mir eine Frage zu wachsen: Was sagt es über einen Menschen, wenn er ein Vermögen in seine Wohnung investiert — und dann jede Spur seiner eigenen Existenz darin vermeidet? Damals wurde mir klar: Unsere Räume sind mehr als Kulissen. Sie sind Spiegel. Mitspieler. Und manchmal sogar Regisseur.

Räume tragen Haltung

So wie wir denken, so wohnen wir. So wie wir gestalten, so fühlen wir. Räume speichern nicht nur Dinge, sie speichern Haltungen. Wenn wir uns in Räumen nur dulden, dulden wir auch Anteile in uns. Wenn wir alles steril halten, um nicht verletzt zu werden, zeigen sich unsere Schutzmuster nicht nur im Gespräch, sondern im Grundriss. Ein Raum ist der Spiegel des psychischen Zustands, den wir bereit sind zu halten.

Räume mit viel Struktur sind oft der Versuch, innere Unruhe zu bändigen. Leere Räume sind nicht immer Freiheit — manchmal sind sie Entfremdung. Vollgestellte Wohnungen können Sicherheit geben — oder erdrücken. Und wenn wir vorgefertigte Wohnideen aus dem Katalog übernehmen — wie individuell kann dann unser Denken sein?

Nichts davon ist falsch. Aber alles davon hat Bedeutung. Diese Bedeutung zu entschlüsseln, ist kein ästhetischer Akt. Es ist ein Akt der Selbstwahrnehmung.

Vom Maß zur Resonanz

Das Problem beginnt meist im Unbewussten. Wir richten uns nicht gegen uns — aber wir spüren uns zu selten, um bewusst zu entscheiden. Stattdessen folgen wir sozialen, digitalen, kulturellen Bildern. Die Algorithmen zeigen uns, was „trendy“ ist. Die Nachbarschaft vermittelt, was „ordentlich“ sei. Das Elternhaus flüstert, was „nötig“ ist.

So verlieren wir etwas Elementares: unser Maß. Unser Gespür für Resonanz. Die stille Sprache der Räume geht verloren, weil es in uns selbst zu laut geworden sind — zu abgelenkt, zu fremdgesteuert, zu erschöpft, um zurückzufragen.

Nehmen Sie sich eine Minute. Sehen Sie sich um. Was sagt Ihnen Ihr Raum über sich? Was ist alt und wertvoll — und was nur alt? Was steht da aus Pflicht — und was aus Freude? Gibt es einen Ort, der Sie wirklich trägt? Einen, der Sie erinnert? Einen, der Sie einlädt? Wenn nicht: Warum? Und was wäre anders, wenn Sie nur ein kleines Stück verändern?

Gestaltung als Einladung

Ein Raum ist nie fertig. Genauso wenig wie wir. Und das ist keine Schwäche — das ist eine Einladung. Räume dürfen sich verändern. Und wir uns mit ihnen. Doch Veränderung beginnt nicht mit Farbe oder Möbeln – sie beginnt mit einer Frage: Was möchte ich in diesem Raum fühlen?

Je nachdem, ob es um Rückzug, Begegnung, Ruhe oder Lebendigkeit geht, braucht es unterschiedliche Dinge. Mehr Platz für Menschen — oder mehr Platz für mich. Weniger Gegenstände – oder mehr Struktur. Weiches Licht. Klare Zonen. Vielleicht eine Decke auf dem Sofa. Vielleicht mehr Pflanzen oder weniger Blickkontakt zur Tür.

Es gibt keine allgemeingültigen Regeln — aber es gibt ein Gespür. Und das entsteht, wenn wir uns ernst nehmen. Ich frage Sie: Was möchten Sie im Wohnzimmer erleben? Was im Schlafzimmer? Wo wollen Sie klarer denken können — und wo einfach sein dürfen? Räume sind keine technischen Systeme. Sie sind Resonanzflächen. Und sie antworten auf das, was wir in sie hineingeben — bewusst oder unbewusst. Wenn ein Raum nichts für Sie tut, dürfen Sie etwas ändern. Nicht weil er dann schöner wird — sondern weil Sie es brauchen.

Der stille Verlust des Gemeint-Seins

Das Gegenteil von Gestaltung ist nicht Chaos — es ist Gleichgültigkeit. Und die beginnt dort, wo wir nicht mehr hinschauen. Räume, die wir nicht gestalten, gestalten uns — nach außen. Und entziehen uns nach innen. Das ist nicht banal. Es ist psychologisch relevant.

Die Angleichung von Innenräumen, wie wir sie heute erleben, ist Ausdruck einer stillen, aber weitreichenden Selbstvermeidung. Aber nicht weil wir uns nicht spüren wollen — sondern weil wir dazugehören wollen. Wir richten unsere Räume oft nicht nach uns ein, sondern nach Bildern, die wir im Kopf tragen. Bilder aus Werbung, Filmen, Katalogen. Übernommene Konzepte von „schön“, „modern“, „wertig“. Wir übernehmen, was wir überall sehen — und hoffen, dass wir damit irgendwo hineinpassen. Doch dabei verlieren wir das Wichtigste: den Kontakt zu uns.

Ein Blick zurück lohnt sich. Die Geschichte des Bauens ist auch eine Geschichte seelischer Entwicklung.

Früher waren Behausungen Schutzräume — Ausdruck von Nähe, Zuflucht, Gesellschaft. Erst mit der Moderne wurden Räume zunehmend zum Ausdruck von Status, Prestige oder Rationalität. Was einst Halt gab, wurde Projektionsfläche. Gestaltung wurde zur Disziplin.

Heute überwiegt vielerorts standardisiertes Bauen. Raster statt Resonanz. Symmetrie statt Sinnlichkeit. Effizienz statt Empathie. Und mit dieser Effizienz verlieren wir nicht nur Wärme — wir verlieren Würde. Dabei ist Würde ein stilles Fundament psychischer Gesundheit: das Gefühl, gemeint zu sein.

Räume, die uns werden lassen

Viele unserer räumlichen Muster stammen aus unserer Kindheit. Ob wir als Kind Rückzugsräume hatten, ob unser Zimmer ein Ort des Ausdrucks war — oder der Anpassung. All das lebt weiter. Wer nie allein sein durfte, wird Rückzug meiden. Wer nie eingeladen wurde, etwas zu verändern, wird Räume dulden, nicht gestalten. Wer Räume als Überwachung erlebte, wird sich später selbst kontrollieren.

Räume, die uns zu viel sagen, überfordern. Räume, die uns nichts sagen, stumpfen ab. Es braucht das Dazwischen: Räume, die zuhören. Und genau diese fehlen oft dort, wo sie am meisten gebraucht werden — in Bildungseinrichtungen wie Kindergärten und Schulen.

Gerade Kinder brauchen Räume, die sie nicht nur sicher halten, sondern innerlich stärken. Räume, in denen sie nicht nur „sein“, sondern „werden“ dürfen.

Öffentliche Orte, stille Botschaften

Auch öffentliche Räume wirken — tief. Ob ein Park zum Verweilen einlädt oder zur Flucht, ob ein Wartebereich offen oder abschreckend wirkt — das beeinflusst unser Verhalten, unser Grundvertrauen.

Wenn Orte zu reinen Durchlaufstationen werden, ohne Geste der Zuwendung, dann empfangen sie nicht – sie stoßen ab. Das hat Wirkung: Wir fühlen uns deplatziert und unwohl. Wir weichen Blicken aus. Wir verschließen uns innerlich. Der Griff zum Handy ist da schon Programm. Eine Gesellschaft, die sich Räume leistet, die nicht nur zweckmäßig, sondern würdig sind, entscheidet sich für Menschlichkeit. Am meisten dort, wo wir es am wenigsten erwarten: auf der Toilette, im Flur, an der Bushaltestelle. Der kleine Unterschied liegt oft im Gefühl: „Ich bin hier gemeint.“

Übergänge gestalten heißt, sich selbst begegnen

Übergänge sind nicht nur räumlich — sie sind innere Schwellen. Zwischen „nicht mehr“ und „noch nicht“. Zwischen Sicherheit und Möglichkeit. Zwischen dem, was wir kennen – und dem, was wir vielleicht brauchen. Gerade in solchen Phasen wirkt Raum besonders stark. Nicht weil er uns festhält — sondern weil er uns spiegelt.

Ein Übergangsraum kann Halt geben oder uns irritieren. Er kann Durchgang sein — oder Beginn. Ich erinnere mich an ein Tauch-Wochenende am Kulkwitzer See bei Leipzig. Die Freundin meines Tauchkumpels hatte ein WG-Zimmer, wo wir übernachten konnten. Es war ein kleines Zimmer, schlicht eingerichtet. Auffällig: ein großer, dunkler Kleiderschrank. „Ja, der ist hässlich — aber hat viel Stauraum und war schon da“, kam es gleich, ohne dass ich etwas gesagt hatte. Auf dem Rückweg vom Tauchen stoppten wir spontan an einem Baumarkt. Ich hatte da so eine „blöde“ Idee. Wir kauften Farbtöpfe und Pinsel – und bemalten den Schrank. Einfach so. Ohne Plan. Es war eigentlich ein Scherz. Aber er veränderte etwas. Aus dem fremden Möbelstück wurde ein ganz eigenes. Und wenn etwas von der WG-Zeit in Erinnerung blieb, dann war die Sache mit dem Schrank auf jeden Fall dabei.

So klein das war – es war ein Schritt. Eine Geste. Nicht „für später“, nicht „für immer“ – aber für jetzt. Und manchmal beginnt genau da die Begegnung mit uns selbst: in dem Moment, in dem wir aufhören, etwas nur zu dulden – und anfangen, es zu gestalten.

Der erste Schritt: wieder hineinspüren

Wenn Sie sich aufmachen wollen, beginnen Sie mit einer einfachen Übung: Nehmen Sie ein Blatt Papier. Listen Sie Ihre Räume auf — alle. Küche. Bad. Flur. Schlafzimmer. Balkon. Arbeitszimmer. Und dann schreiben Sie daneben: Wie geht es mir dort? Nicht objektiv — sondern körperlich. Wo atmen Sie durch? Wo ziehen Sie sich zusammen? Wo halten Sie sich auf, obwohl Sie es nicht wollen?

Diese Liste kann ein Anfang sein. Kein Aufwand. Kein Ziel. Nur Aufmerksamkeit. Vielleicht ergibt sich daraus ein Impuls: etwas verrücken, eine Farbe ändern, etwas loslassen. Oder etwas hineinlassen, das lange gewartet hat. Ein Erbstück. Ein Licht. Ein Ort für Sie allein. Veränderung beginnt, wenn Sie wieder spüren, dass Sie gestalten dürfen. Nicht perfekt. Nicht endgültig. Sondern gegenwärtig.

Denn ein lebendiger Raum muss nicht der schönste sein. Aber es ist der, der Sie stärkt.