Leben wie ein Hobbit

Fiktive Geschichten können eine Inspiration für das Leben sein — so auch die Werke J.R.R. Tolkiens.

Fiktive Welten, wie Mittelerde, werden von vielen Menschen gerne verlacht. So mancher sieht es als Zeitverschwendung, sich durch ein Buch oder einen Film in diese Welten zu begeben, eine Weile in ihnen zu leben und zu reisen. Stattdessen, so der Glaube, solle man sich lieber in der Realität aufhalten und hier etwas „Vernünftiges“ tun. Das jedoch ist eine ignorante Haltung, denn gerade in der Fiktion können sich wunderbare Ideen frei entfalten, die mitunter zu einer Inspiration für die Wirklichkeit werden. Besonders eindrucksvoll ist das am Beispiel der Werke J.R.R. Tolkiens sichtbar, in denen er ganze Zivilisationen erschaffen hat. Hier dienen die Hobbits als Anregung für eine Gesellschaft, in der das Leben lebenswert sein könnte.

Es gibt wohl kaum eine fiktive Welt, die so detailliert und atmosphärisch dicht beschrieben ist, wie die von J.R.R. Tolkien erfundene Mittelerde. Hier, auf diesem fiktiven Kontinent leben verschiedene Völker in unterschiedlichsten Klima- und Vegetationszonen. Elben, Menschen, Zwerge, Orks, sie alle haben ihre eigene Kultur, ihre ganz eigene Lebensweise und auch ihre eigene Sprache. Tolkien hat die Sprache der Elben so umfangreich gestaltet, dass man sie sogar lernen und sich in ihr unterhalten kann.

Die Völker sind so vielseitig, aber auch vielschichtig wie in der Wirklichkeit. Sind die Menschen von überheblichem Stolz und verfallen den Verlockungen von Macht nur allzu leicht, so sind die Elben erhabene, magische Wesen, die am Edlen und Schönen interessiert sind. Die Zwerge wiederum sind gierige Bergleute, die nach Erzen schürfen und in dunklen Höhlen leben. Orks hingegen sind Schöpfungen des dunklen Gottes Melkor, der Elben versklavt und gefoltert und auf diese Weise willige Soldaten geschaffen hat, die jedoch im Laufe der Jahrtausende ihre eigene Kultur und ihren eigenen Kodex entwickelt haben.

Unter all den Völkern sticht eines gerade durch seine Unauffälligkeit und Beschaulichkeit heraus. Die Hobbits leben in einer Region im Nordwesten des Kontinents, die sich Auenland nennt. Und genau so sieht es dort auch aus. Saftige Wiesen, schattige Wälder, sanfte Hügel, Flüsse und Seen bestimmen die Landschaft und zeichnen ein Idyll, das man heute auf der Erde wohl kaum noch vorfindet. Hier, „in einem Loch im Boden“, wie Tolkien seinen „Der kleine Hobbit“ beginnt, lebt dieses klein gewachsene Völkchen. Sie wohnen in Häusern, die in Hügel gegraben sind, und somit direkt in der Landschaft, die sie umgibt. Dieses kleine Volk, das selbst in Mittelerde wenig bekannt ist, könnten die Menschen hier, in der Realität sich durchaus zum Vorbild nehmen.

Denn Hobbits führen ein unauffälliges, einfaches Leben. Weder sind die große Krieger, noch besonders weise, wie Tolkien es in seinem Eingangskapitel im „Herr der Ringe“ „Über Hobbits“ schreibt. Die meiste Zeit verbringen sie damit, Essen anzubauen und zu verspeisen. Sie hegen eine Liebe zu Pflanzen und Tieren und betreiben etwas, das wir heutzutage wohl als biologische Landwirtschaft bezeichnen würden. Denn das ist ihre Lebensgrundlage. In Dorfgemeinschaften bewirtschaften sie die Felder und Gärten, Tiere laufen im Freien umher und erhalten daher den Auslauf, den wir ihnen in der Regel verwehren.

Die Gesellschaftsform ist dabei am ehesten mit „Kommunitarismus“ beschrieben. Also eine Gesellschaft, in der das Individuum in eine Gemeinschaft eingebettet ist, die ihn trägt und zu der er seinen Beitrag leistet. So sorgt die Gemeinschaft für den Einzelnen, und dieser trägt zu ihr nach seinen Fähigkeiten etwas bei.

Die Ökonomie des Auenlandes gibt alles her, was man zum Leben braucht, doch dies wird meist mit sehr einfachen Mitteln hergestellt. Die einzige Maschine, die Hobbits bedienen, ist die Wassermühle, das Herz des Auenlandes. Hier mahlen sie das angebaute Korn zu Mehl, welches dann zu kräftigem Brot, süßem Kuchen und anderem Gebäck weiterverarbeitet wird. Überhaupt herrscht im Auenland an einer Essensvielfalt kein Mangel. Es gibt alles, was das Herz begehrt, Obst und Gemüse, Brot und Kuchen, Honig, Marmelade und auch Wein und Bier stellen die Hobbits selbst her. Das ist nicht verwunderlich, essen und trinken Hobbits doch leidenschaftlich gern und so feiern sie auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit Feste.

Nicht jeder Hobbit betreibt jedoch Landwirtschaft. Es gibt auch Werkstätten, Schneider, Schmieden, Glasereien, und viele andere, die für das tägliche Leben relevant sind. Doch nichts davon wird in großem Maßstab hergestellt, sondern lediglich für den eigenen Bedarf sowie dem der unmittelbaren Umgebung. Industrie ist den Hobbits vollkommen unbekannt. Denn sie hegen eher eine Abneigung gegen jede Form von Maschine, sind aber überaus geschickt im Umgang mit Werkzeugen. Nach außen hin sind die Hobbits eher verschlossen und verreisen auch selten. Bilbo, der den einen Ring findet, sowie Frodo und seine Begleiter bilden hier eine Ausnahme. Daher gibt es auch keinen nennenswerten Handel, was einerseits bedeutet, dass die Hobbits auf ausländischen Luxus verzichten, was sie aber andererseits nicht zu stören scheint.

Auch Geld gibt es im Auenland zwar, allerdings spielt es eher eine untergeordnete Rolle, da die Hobbits gerne teilen. Es ist nicht so, dass Hobbits mit viel Geld nicht angesehen wären, das Gegenteil ist der Fall. Doch Hobbits sind geprägt von einer schwer zu erschütternden Zufriedenheit mit den einfachen Dingen des Lebens. Gemeinschaft ist wichtiger als materieller Besitz und Gastfreundschaft wird daher im Auenland groß geschrieben.

Auch eine Regierung fehlt im Auenland. Zwar erwähnt Tolkien einen Bürgermeister, der aber keine exekutive Funktion innehat. Öffentliche Dienste gibt es nur in Form eines Postamts und einer Art Polizei, die aber die meiste Zeit damit beschäftigt ist, entlaufene Tiere einzufangen. Alle anderen Gemeinschaftsaufgaben werden auf freiwilliger Basis erfüllt. Alles in Allem kümmern sich die Familien und Privatleute um ihre eigenen Angelegenheiten, und niemand redet ihnen da hinein oder versucht gar, private Angelegenheiten zu öffentlichen zu machen.

Was Hobbits am meisten lieben, sind Ruhe und Frieden sowie ein gut bestellter Boden. Ein gut gepflegter Garten lässt ihr Herz höher schlagen. Die Hobbits haben die Fähigkeit entwickelt, im Hier und Jetzt zu leben, ohne sich Sorgen um die Vergangenheit oder die Zukunft zu machen. Nichts lieben sie mehr, als Dinge, die wachsen.

Ihnen geht es um das Leben an sich, nicht um Ruhm, Macht oder Reichtum, womit sie herzlich wenig anfangen können. Es ist ein Völkchen, das zurückgezogen, aber voller Zufriedenheit im Einklang mit der Natur lebt und dabei vollkommen unabhängig von größeren Zusammenhängen, Industrie oder Handel ist. Es ist eine Gemeinschaft, die sich selbst versorgt und dabei nicht hungert, sondern, im Gegenteil, oft genug ausgiebig feiert, isst und trinkt.

Inspiration

So könnten die Hobbits eine Inspiration für unsere jetzigen menschlichen Gesellschaften sein. Die Einfachheit und Zufriedenheit ist uns Menschen vollkommen abhanden gekommen. Statt in Bezug mit der Natur und den uns umgebenden Menschen zu treten, leben wir isoliert, vereinzelt, in beständigem Wettbewerb um Geld, Macht, Reichtum. Wir werden regiert von einem rigiden Zwangssystem, das immer mehr ins Private hinein regiert, damit reiche Menschen noch reicher werden. So wird immer mehr des Privatlebens zu einer öffentlichen, gar politischen Angelegenheit gemacht, und staatlicherseits versucht, steuernd einzugreifen. Gleichzeitig wird die staatliche Apparatur immer weiter aufgeblasen, werden immer neue Posten geschaffen, und immer absurdere Regulationen eingeführt die das Leben immer weiter verkomplizieren.

Wie einfach das Leben sein könnte, zeigt das fiktive Vorbild der Hobbits. Anstatt sich selbst Probleme mit überbordenen Apparaten, Regularien und Gesetzen sowie Wachstumszwang und Geldgier zu schaffen, leben die Hobbits bescheiden, bestellen ihre Felder mit einfachen Mitteln und leben doch in Fülle. Von allem, das zum Leben notwendig ist haben sie genug, teilweise mehr als genug, und sie teilen es gerne, anstatt es zu horten.

Diese Bescheidenheit, die Einfachheit, die verbunden ist mit einer Hingabe zur jeweiligen Tätigkeit, zu Tier und Pflanzen und vor allem: zu den Mitmenschen, sind es, die das Leben mit Sinn und Glück erfüllen. Dies ermöglicht einen Gemeinschaftsgeist, ohne eine ideologische Einheitsgesellschaft herstellen zu müssen. Denn die Gemeinschaft trägt das Individuum, sorgt dafür, dass niemandem etwas fehlt, und das Individuum seinerseits trägt zur Gemeinschaft mit seinen ganz individuellen Fähigkeiten bei. Feste und Feiern stärken das gesellschaftliche Band und sind willkommene Gelegenheiten, das angebaute Essen zu verzehren.

Auch der Natur bringen Hobbits Achtung entgegen. Daher kennen sie keine Umweltzerstörung und auch kein Müllproblem. Denn sie leben von dem, was die Natur ihnen bietet, und geben es ihr auch wieder zurück. Eine Gesellschaft, wie Tolkien sie im Auenland idealisiert darstellt, könnte die ökologischen Herausforderungen, denen wir uns heute gegenübersehen, am effektivsten meistern. Die Liebe zu allem, was wächst, ist ein mächtiger Faktor im achtungsvollen Umgang mit der Natur. Wer liebt, kann nicht zerstören, und so ist die Hingabe der Hobbits zur Natur eine Inspiration, die wir als Menschen teilen könnten, wenn wir uns der Natur wieder zuwenden würden. Das könnte dadurch geschehen, dass wir vermehrt in ihr leben und arbeiten, wie es die Hobbits tun. Dabei ist für sie diese Arbeit keine harte Plackerei, sondern sie erfüllt sie mit Zufriedenheit, was auch daran liegen mag, dass diese Arbeit gemeinschaftlich erfolgt.

Das Auenland ist damit die Blaupause für eine menschen- und naturverträgliche Gesellschaft, die Zufriedenheit mit den einfachen Dingen des Lebens kultiviert, und dabei die Menschen mit allem versorgt, was sie benötigen. Zu essen, zu trinken, ein Dach über dem Kopf, Kleidung, Werkzeuge, und alle Ingredienzien für gesellschaftliche Zusammenkünfte, lebhaften Austausch und ein wertschätzendes Miteinander.

Autonome und autarke Gemeinschaften

Die natürliche Landwirtschaft, wie Masanobu Fukuoka sie schon Mitte des letzten Jahrhunderts entwickelt hat, sowie die Permakultur sind Grundlagen, auf denen solche Gesellschaften durchaus auch in der Realität entstehen könnten. Derart angebaute Pflanzen sind resistent gegen Schädlinge und Wetterschwankungen, denn Permakultur stärkt die Pflanzen und damit deren natürliche Abwehr. Es entsteht ein gesunder Boden, der die Grundlage für lebendige Ökosysteme bietet, die reiche Erträge ermöglichen und die Menschen versorgen.

Der Umwelt, die wir heute zerstören und künstlich am Leben erhalten müssen, könnten wir zur Regeneration verhelfen, und die Autonomie und Autarkie von Dorf- und Stadtgemeinschaften könnte auf diese Weise wiederhergestellt werden. Statt ausufernder Verwaltungsapparate wird die Gemeinschaft im Tun organisiert, Dienste basierend auf Freiwilligkeit übernommen. Jeder Beitrag ist geschätzt und auf seine Weise wichtig, jeder hat Fähigkeiten, die er in die Gemeinschaft einbringen kann. Wachstums- und Arbeitszwang, Profitgier und Kapitalinteressen stehen dieser Vision allerdings entgegen.

Während die Hobbits weitgehend apolitische Lebewesen sind, könnte eine Gesellschaft nach dem Vorbild des Auenlandes um politische Gremien ergänzt werden. Keine gewählten Vertreter stellen hier Regeln auf, keine Verwaltungsapparate, sondern die Menschen selbst finden sich in Räten zusammen, um über Angelegenheiten zu sprechen, welche die Gesellschaft an sich betreffen.

So könnte über Anbaumethoden gesprochen und entschieden werden, was die Gemeinschaft benötigt, um dann Freiwillige damit zu betrauen sicherzustellen, dass es hergestellt wird. Aufgaben können dann nach individuellen Fähigkeiten und Interessen verteilt werden, und müssen nicht einzig aufgrund des Zwanges, Geld verdienen zu müssen, übernommen werden. So entstehen lokale Gemeinschaften mit engen Kreisläufen, in denen der Natur alles Benötigte entnommen und am Ende des Wertstoffkreislaufes wieder zurückgegeben wird. Natürlich sind diese Gemeinschaften nicht dazu verpflichtet, unter sich zu bleiben. Im Gegenteil, Austausch ist sinnvoll und verhilft zu neuen Ideen, und Reisen sind zudem gerade für junge Menschen wichtig, um Erfahrung zu sammeln und den Horizont zu erweitern.

Auch könnte eine solche Gesellschaft auf Geld verzichten. Statt Lohnarbeit und Abhängigkeit vom Erwerb könnte sie stattdessen alles zum Leben Notwendige auf die Bewohner der Gemeinschaft verteilen, sodass für jedermanns Auskommen gesorgt ist. In einer solchen Gesellschaft leistet jeder viel lieber seinen Beitrag zur Gemeinschaft als in einer ideologisch verformten, egozentrischen Wettbewerbs- und Konsumwelt. Denn hier entsteht ein Gefühl von Zugehörigkeit und Sinn, die Entfremdung der Arbeit, wie sie heute viele Erwerbstätige verspüren, gehörte dann der Vergangenheit an.

Wir könnten zu einer Zufriedenheit mit dem Leben zurückfinden, das sich wie von selbst lebt und nicht beständig „gemeistert“ werden muss. Es könnte ein Leben ohne künstliche Hürden durch Verwaltungsapparate, überflüssige Regeln, Machtgier und Reichtumsfanatismus sein, ein Leben, welches das Leben an sich schätzt, das natürliche Wachstum, Ruhe und Frieden. Eine solche Gesellschaft, welche die Natur berücksichtigt und den Bedürfnissen der Menschen entspricht, ihre individuellen Fähigkeiten und Vorlieben berücksichtigt, und niemanden einem Zwang unterwirft, ermöglicht den Menschen ein zufriedeneres, ruhigeres und damit glücklicheres Leben, im Gegensatz zu der gegenwärtigen, die Depressionen, Ängste und Störungen hervorbringt. So eine Gesellschaft ist es wert, aufgebaut und gelebt zu werden.