Liebe, Hass und Bedeutungslast

Man kann nur ohne Last und aus dem Innersten lieben.

Muss man die Liebe von der Bedeutung befreien, um sie wirklich zu spüren? Und was ist mit jenen, denen die Befreiung nicht glückt? Die im Hass ersticken? Und wie stehen die beiden Bewegungen zueinander, das Lieben und das Hassen? In diesem neuen Text aus dem Innersten beleuchtet Thomas Eblen das ewige Gegensatzpaar von Liebe und Hass auf gänzlich neuartige Weise. Er führt einen poetischen Gedankengang aus, der so nicht „erlebbar“ ist, in seiner Radikalität allerdings Schichten der Wahrnehmung freilegen kann, um nach jener Liebe zu suchen, die unser aller Sehnsucht ist. Dass der Text bei diesem Versuch auch den Hass mit seiner gleichzeitigen Einmauerungs- und Expansionstendenz freilegt, macht den poetischen Gedankengang am Ende wieder politisch.

Ich entsinne mich keiner Bedeutung. Ich selbst bin nicht von Bedeutung, aber auch die anderen — oder das andere — sind ohne jede Bedeutung. Schade, dass dies nur so wenige erkannt haben. Eigentlich hat es niemand erkannt. Hauptsache, ich habe es erkannt. Und ich habe es genau erkannt, so wie es keiner je erkennen kann. Denn ich liebe mich. Und Menschen, die sich lieben, haben keine Bedeutung. Für sie ist überhaupt nichts von Bedeutung, denn sonst könnten sie sich ja nicht lieben. Nur wer sich hasst, wer sich abgrundtief hasst, hält irgendetwas für bedeutend. Sei es eine Sache oder ein Lebewesen. Sei es ein Mensch oder ein Tier. Sei es ein Sinnzusammenhang oder einfach nur der reine Wahnsinn.

Wer sich hasst, sieht in allem eine Bedeutung. Ich kann das nicht. Aber es verlangt auch niemand von mir, eine Bedeutung zu sehen. Überhaupt ist es so, dass von Leuten, die sich lieben — merkt jemand die Doppeldeutigkeit? — nichts verlangt wird.

Deshalb gibt es auch so wenige Menschen, die sich lieben, wollen doch die Menschen, dass man etwas von ihnen verlangt.

Und deshalb müssen sie sich hassen. Aber sie hassen sich auch einfach so. Sie geben sich richtig Mühe dabei, ja suchen richtig nach Gelegenheiten, um sich zu hassen. Und dann legen sie los. Das sieht man ihnen auch an.

Jenen wenigen, die sich lieben, sieht man nicht an, dass sie sich lieben. Sie sind leider unscheinbar und auch scheu. Nicht schüchtern, aber scheu.

Menschen müssen sich zuerst hassen, bevor man etwas von ihnen verlangen kann. Aber schon der Wunsch eines Menschen, von einem anderen etwas zu verlangen, genügt, damit dieser andere sich zu hassen beginnt. Es muss eine Atmosphäre des Verlangens herrschen, um sich selber hassen zu können.

Die Menschen, die sich lieben, hingegen geben nichts auf eine Atmosphäre des Verlangens, obwohl sie süchtig sind nach Atmosphären. Aber sie lieben Atmosphären der Zuneigung. Wenn sie sich jemand zugeneigt fühlen, dann lieben sie sich besonders heftig. Wenn diese Zuneigung allerdings in ein Verlangen mündet, was ja oft der Fall ist, dann ziehen sie sich zurück und lassen die Atmosphäre platzen wie eine Seifenblase. Denn ersticken wollen sie nicht.

Im Gegensatz zu jenen, die sich hassen und sich nach Verlangen sehnen, wollen sie nicht ersticken. Sie ersticken am Verlangen des anderen, wobei dieses Ersticken sich über hundert Jahre hinziehen kann. Es gibt viele Menschen, die ein Leben lang ersticken, nur sieht man es ihnen leider nicht an. Sie können es gut verstecken. Sie sind die wahren Meister, das fortwährende Ersticken zu verstecken.

Jene, die sich lieben, verstecken sich nicht. Sie zeigen, gerade wenn sie leiden, ihr Leiden besonders gerne. Das hängt mit der Begeisterung zusammen, mit der sie die Zuneigung lieben.

Diese lieben sie, wie sie sich selber lieben. Deshalb können sie auch ihr Leiden — gerade ihr Leiden! — nicht verstecken. Sie wollen es zeigen, genau wie sie ihre Freude zeigen wollen. Nur zeigen sie es so, dass jene, die sich hassen und von Verlangen verzehrt sind, es nicht erkennen. Beim besten Willen können die Selbsthasser es nicht erkennen. Weil der Hass und das daraus sich ergebende Verlangen sie blind macht für die Freude und das Leid des anderen.

So leben jene, die sich hassen, und jene, die sich lieben, einträchtig nebeneinander her. Die einen sehen die anderen nicht, die anderen wollen von den einen nichts wissen. Ist das überheblich? Ich zumindest kann mich nicht als überheblich bezeichnen. Vielleicht als eitel und arrogant. Aber auch das nur ein wenig.

Diese Eitelkeit oder das Arrogante ist es vielleicht, das ich mit jenen gemeinsam habe, die sich hassen. Aber vielleicht auch nicht. Denn jene, die sich hassen, bauen ja auch riesengroße Mauern um sich herum auf, sodass man nicht in sie hineinsehen kann. Alarmanlagen, scharfe Hunde, ganze Legionen von Sicherheitspersonal umschwirren diese Gemäuer. Und auch die Sicherheitsdienste wissen nicht, was hinter diesen Mauern vor sich geht. Aber sie werden für ihre Dienste gut bezahlt.

So sind jene, die sich hassen, eine Armee. Sie sind Soldaten des Unglücks, die sich jederzeit bewaffnen können, um in den Krieg zu ziehen. Denn sie sind Söldner ihrer eigenen Welt.

Sie töten, um sich selbst zu spüren, so taub wie sie sind.

Sie töten mit einer Lust und einer Gedankenlosigkeit, die jenen, die sich lieben, den Schrecken ins Gesicht malen. Aber am Ende sind die Sichliebenden selber schuld. Denn sie wissen nicht, wie sie zu einer Sprache kommen und zu Bildern finden, womit sie die Mauern dieser Selbst- und Fremdhasser einreißen könnten. Sie sind — wir sind — zu schwach, zu ärmlich, zu sehr in den eigenen Räumen verstrickt und zugestellt, als dass wir noch Wege nach draußen fänden. Denn jene, die sich lieben, neigen dazu, sich nach innen zu wenden, während sich jene, die sich hassen, sich zwar auf allen Seiten verpanzern, dabei aber stetig nach außen streben. Expansiv. So bewegen sie sich immer in eine entgegengesetzte Richtung. Zerstören sie sich dabei alle beide? Wird alles zerstört? Oder eingemauert?