Liebe, Musik und Politik
Die Bewohner eines der gefährlichsten Viertels der Welt verwandelten Wohnungen in Kulturzentren, Hunger in urbane Landwirtschaft und Schmerz in Poesie — eine Geschichte, die in Zeiten des Zusammenbruchs Orientierung geben kann.
Jardim Ângela ist ein Slum von São Paulo in Brasilien, den die UN in den 1990er-Jahren als eine der gewalttätigsten Gegenden der Welt einstufte. 2010 gründeten Musiker hier die „Favela da Paz“ — auf Deutsch: Friedensslum —, ein Kulturprojekt, das Bildung in den Bereichen Musik, Medienproduktion, Selbstversorgung und mehr anbietet, um das Viertel zu einem urbanen Modell für Nachhaltigkeit und Gewaltfreiheit zu machen. In einem Interview sprechen die Mitbegründer Claudio und Fabio Miranda, Elem Fernandes und Alessandro Neres über ihr Lebenswerk und dessen Entwicklung in den letzten Jahren.
Dania Rodrigues: Können Sie mir etwas über Ihre Kindheit in der Favela erzählen? Und wie Sie zur Musik kamen?
Claudio Miranda: Als wir noch kleine Kinder waren, fingen mein Bruder Fabio und ich einfach zum Spaß an, mit selbst gebastelten Instrumenten aus Blechdosen zu spielen. 1989 gründeten wir eine Band namens Poesia do Samba. Zu diesem Zeitpunkt war die Unterstützung unserer Eltern von grundlegender Bedeutung. Mein Vater glaubte an unser Talent und half uns dabei, unser erstes Studio einzurichten. Mehr als 200 Bands haben unser Studio besucht. Wir haben auch eine kostenlose Musikschule gegründet, die zu einer Zeit fast 300 Schüler hatte, aber wir hatten nur fünf Instrumente. Wir wurden ziemlich bekannt, weil wir an Musikfestivals außerhalb der Favela teilgenommen haben.
1999 waren wir sehr frustriert von der Musikszene: Sie war so kommerziell, dass sie keinerlei kulturellen oder sozialen Zweck mehr erfüllte. Also wechselten wir zu Poesia Samba Soul. Am Anfang waren es nur Fabio, Paulo und ich; Elem und Alessandro kamen später dazu — sie waren meine Musikschüler, und seit 23 Jahren haben wir nun diese aktuelle Besetzung. Wir hatten begonnen, uns mit Musik zu beschäftigen, damit, wie Musik das Leben der Menschen, unser Leben verändert hat; auch außerhalb der Bühne!
Musik hat uns in vielen Momenten das Leben gerettet — einmal habe ich angefangen, für einen Polizisten zu spielen, der mir eine Waffe an den Kopf gehalten hatte, und er hat die Waffe gesenkt!
Neben der Musik haben Sie auch ein Projekt namens Periferia Sustentável — auf Deutsch: Nachhaltige Peripherie — ins Leben gerufen. Können Sie mehr über diesen Aspekt Ihrer Arbeit erzählen?
Fabio Miranda: Periferia Sustentável wurde 2013 gegründet, aber meine technologische Forschung begann bereits 2010 bei meinem ersten Besuch in der Friedensforschungsgemeinschaft Tamera in Portugal. Ich sah dort Biogasanlagen und Sonnenkollektoren. Vor 15 Jahren erschienen sie mir wie etwas aus einer anderen Welt!
Bis 2015 kam ich immer wieder zurück, lernte und forschte selbst, um zu versuchen, diese Technologien an die Realität in den Favelas anzupassen. Die erste Biogasanlage funktionierte nicht, und leider verlor ich in dieser Zeit meinen engsten Mentor, Paulo Mellet, der nach einer Reise nach Afrika an Malaria starb. Da beschloss ich, dass wir in Favela da Paz eine Abteilung für Nachhaltigkeit gründen mussten, die den Zugang zu Technologien auf sozialere Weise ermöglichen würde. So entstand Periferia Sustentável.
Ich unternahm viele Reisen nach Amazonien und an andere Orte, hielt Vorträge ... 2017 bauten wir ein Labor. Bis dahin hatte ich keinen eigenen Raum: Ich hatte nur einen kleinen Tisch mit einigen Werkzeugen. Aber ich entschied, dass wir ein Technologielabor brauchten, einen Ort der Forschung, an dem wir Technologien ausprobieren, auf ihre Nutzbarkeit prüfen und in andere Gemeinden bringen konnten. Und es war ein Erfolg!
Periferia Sustentável ist heute eines der bekannten Projekte im Bereich Sozialtechnologien in São Paulo; wir waren der erste Mikrogenerator für Solarenergie in unserem Bundesstaat und die Favela da Paz ist bis heute ein Mikrogenerator für vollständig solarbetriebene und nachhaltige Energie. Bei der COP26 wurden wir zu einem der 17 nachhaltigsten Projekte weltweit gekürt: nicht nur wegen der Technologie, sondern auch wegen der sozialen Arbeit, die wir leisten und bei der wir Technologie als Instrument der Transformation einsetzen.
Im Jahr 2023, erhielt ich eine große Anerkennung, als Tamera mich einlud, als Fachreferent zu einer Energieautonomie-Veranstaltung zu kommen — ich habe keinen Abschluss, daher bedeutet mir diese Art der Anerkennung sehr viel: Ich glaube, dass jeder die Fähigkeit hat, in seinem Leben das zu sein, was er sein möchte, unabhängig von einem Diplom. Und heute arbeite ich in Favela da Paz speziell mit öffentlichen Schulen, staatlichen Schulen, Universitäten, sozialen Organisationen ...
Welche Technologie verwenden Sie in diesem Projekt?
Fabio Miranda:
Manche Menschen glauben, dass Technologie nur etwas für privilegierte Menschen ist, aber das stimmt nicht: Technologie ist für alle da, wir müssen sie nur für alle sozialen Schichten verfügbar machen!
Wir haben kein bestimmtes Produkt, wir arbeiten mit Ideen. Wir haben eine Methodik namens „Funktionales Design” entwickelt, die wir für die Arbeit mit Biogasanlagen, Solarenergie, Programmierung, Automatisierung und so weiter einsetzen.
Wir verbinden diese Technologien auf sehr einfache Weise mit allen Menschen, sogar mit 6- bis 8-jährigen Kindern! Jetzt haben wir auch einen Transporter, ein Labor mit moderner Technologie: Er verfügt über ein Solarpanel und einen 3D-Drucker. Auf diese Weise können wir die Menschen direkt erreichen, die lokale Nachfrage verstehen und die Menschen in den gemeinsamen Aufbau einbeziehen. Wenn für ein Projekt ein bestimmtes Teil benötigt wird, programmieren, modellieren und drucken wir es sofort. Auf diese Weise können wir gemeinsam überlegen und eine Lösung finden.
Elem, wie war es für Sie als Frau, in der Favela aufzuwachsen?
Elem Fernandes: Es war sehr herausfordernd, wie für die meisten Frauen. Aber es hat auch eine sehr schöne Seite: Es ist ein sehr offener, emotionaler, gemeinschaftlicher, lebendiger und organischer Ort ... Alle Frauen kümmern sich mit um die Kinder der anderen: Ich glaube, ich hatte mehr als fünfzig Mütter und einen Vater. Daher ist die Rolle der Frau in der Favela für mich eine sehr heilige, sehr kraftvolle. Ich wurde als „die Kriegerin“ bekannt, was genau diese Kraft der Einheit, der Freude, des Teilens symbolisiert ...
Meine Mutter hatte sechs Kinder, die Nachbarin hatte acht. Sie teilte sogar das Brot, damit ihre Kinder Bohnen essen konnten. Wir saßen alle im Kreis und aßen zusammen. Dank dieser Frauen, die mich großgezogen haben, bin ich heute die, die ich bin. Frauen sind das Rückgrat der Favela: Sie sind die Schöpferinnen des Gemeinschaftslebens. In Krisengebieten, in denen es viel sexuellen Missbrauch, Zerstörung und Mord gibt ...
Wenn es keine Gemeinschaft gibt, die die Überlebenden auffängt und unterstützt, funktioniert es nicht. Gemeinschaft ist der Schlüssel zur Überwindung von Traumata: etwas aufbauen, Herausforderungen gemeinsam angehen...
Viele psychische Probleme entstehen aus Einsamkeit, aus Isolation. Letztendlich braucht jeder ein Gemeinschaftsleben. Im Westen ist das Leben in Gemeinschaft sehr selten. Aber ich habe meine Gemeinschaft, also habe ich bereits alles, was ich brauche.
Wie sind Sie zum Projekt der Favela da Paz gekommen? Wie entstand die Idee zu VGArte?
Elem Fernandes: Meine Mutter kochte immer für viele Gemeinschaften, daher war ich immer von vielen Menschen umgeben. Nach ihrem Tod lernte ich Claudio kennen, meinen heutigen Ehemann, und kam zu seiner Band. Als er damals nach Tamera kam, entdeckte er zum ersten Mal vegetarische Küche; und da ich so gerne kochte, forderte er mich auf, VGArte zu gründen.
In diesem Projekt bieten wir vegetarische Kochkurse für Kinder an, aber vor allem ist es ein Vorwand für die Gemeinschaft, zusammenzukommen. Als Kind war es mein Traum, einen Tisch in meinem Haus zu haben. Meine Mutter war sehr arm: Unser Haus war sehr klein, und wir schliefen alle in einem Bett, sechs Kinder mit unserer Mutter. Wir hatten keinen Tisch. Als wir uns entschlossen, dieses Projekt ins Leben zu rufen, habe ich einen riesigen Tisch von zwei Metern Länge gebaut, an dem die Menschen zusammensitzen und miteinander interagieren können: Es ist schade, dass nicht nur in Brasilien, sondern auf der ganzen Welt die Menschen dieses kollektive Gefühl des Zusammenseins verlieren, an einem Tisch zu sitzen, sich anzusehen, ohne Handy ...
VGArte hat also diesen Aspekt des Gedenkens an meine Vorfahren, als Ort, an dem man neben einer Frau sitzt und ihrer Geschichte lauscht. Es ist ein lebendiger Kreislauf, geprägt von Zuneigung, Liebe, Teilen und Trost; für uns ist es ein sehr heiliger Ort.
Gibt es etwas, worauf Sie bei Ihrer Arbeit in der Favela besonders stolz sind?
Elem Fernandes: Ich bin total begeistert von Solaröfen. Wir sind für sechs Gemeinschaftsküchen verantwortlich, die die Menschen in der Umgebung versorgen. Es war eine wunderbare Erkenntnis, dass die Sonne unser Essen kochen kann. Jetzt haben wir ein Projekt namens Cozinha, Sol e Arte (Küche, Sonne und Kunst), das alles miteinander verbindet: von nachhaltiger Technologie über Gemeinschaftssinn bis hin zur Unterstützung lokaler Bauern und Flüchtlinge und bis hin zur Zuneigung der älteren Frauen ... Und diese Mischung macht es noch wertvoller. Es bringt diese kollaborative und gemeinschaftliche Seite zum Vorschein, das Lernen voneinander und den Austausch ... Im Leben dreht sich alles um Austausch.
Was waren Ihre größten Herausforderungen?
Elem Fernandes: Ich denke, die größten Herausforderungen kamen mit der Pandemie. In der Favela waren die Menschen drei Jahre lang eingesperrt! Während dieser ganzen Zeit haben wir zehntausend Menschen und dreitausend Musiker unterstützt. In der Favela starben viele Menschen, darunter auch junge, und die Ärzte konnten ihnen nicht helfen. Wir haben eine Favela-Karte eingeführt, um ihre Gesundheitsversorgung drei Jahre lang zu unterstützen. Wir verbrachten den ganzen Tag damit, Körbe mit Grundnahrungsmitteln an jede Familie zu verteilen: Die waren so schwer, dass meine Arme am Abend total schmerzten! Ich glaube, Gott war so gütig zu uns, dass keiner von uns jemals an COVID erkrankte, obwohl wir jeden Tag mit kranken Menschen zu tun hatten.
Und es geschah auch etwas sehr Interessantes: Die Angst in der Favela schaffte ein großes kollektives und kreatives Bewusstsein. Dennoch haben diese drei Jahre enorme Verwüstungen hinterlassen. Sie haben ein großes Trauma hinterlassen: Viele Menschen ohne Arbeit, ohne Essen ... Die Pandemie endete vor zwei Jahren, aber wir mussten die Familien weiterhin unterstützen und unsere Energie darauf verwenden, sie zu ernähren. Und es war eine große Herausforderung, die jungen Menschen wieder zu den Aktivitäten zurückzubringen: drei Jahre ohne Samba, ohne kulturelle Aktivitäten ...
Alessandro Neres: Leider war es für einige von ihnen sogar tödlich. Wir hatten einen großartigen Jungen, Gustavo. Während der Pandemie wurde er aus unserem Einflussbereich herausgerissen und begann, mit den falschen Leuten abzuhängen. Ein paar Monate später schoss ihm ein Polizist in den Kopf. An diesem Tag gingen so viele Träume verloren ... Er war ein wunderbarer Junge, und jetzt haben wir ihn für immer verloren.
Welche Rolle spielt Musik heute in Ihrem Projekt?
Alessandro Neres: Wir versuchen, das Erbe unserer Band Samba Soul Poetry weiterzuführen.
Unser Ziel ist es nicht, Leben zu verändern: Wir möchten unseren Kindern durch Kunst, Kultur, Essen und Technologie Möglichkeiten und Wege aufzeigen, damit sie diese für sich selbst oder zum Wohle der Gemeinschaft nutzen können.
Und wir glauben, dass Musik dafür das beste Mittel ist: Sie dringt, ohne um Erlaubnis fragen zu müssen, in unseren Körper ein und versetzt uns an Orte, die wir nicht erklären können.
Durch Musik können Kinder die große Kraft der Gemeinschaft erfahren: Das ist viel attraktiver und viel reizvoller. Und natürlich lernen sie auf eine viel organischere, viel natürlichere Weise. Sie werden an gesunde Ernährung und nachhaltige Technologien herangeführt ... Musik ist unser Zugang, um auf der Grundlage dieser Realitäten zu arbeiten. Das große Vermächtnis, das wir heute als Institut entwickeln, besteht darin, Musik zu nutzen, um gute Bürger zu bilden, damit wir eine bessere Welt für zukünftige Generationen schaffen können.
Redaktionelle Anmerkung: Dieses Interview führte Dania Rodrigues im Juli 2025 bei einem internationalen Treffen von Aktivisten in Tamera in Portugal auf Portugiesisch und übersetzte es auf Englisch. Elisa Gratias überarbeitete die englische Version mit Dania Rodrigues‘ Zustimmung redaktionell und übersetzte sie vom Englischen ins Deutsche.