Malen am Abgrund

Depressionen und psychische Krankheit, aber auch spirituelle Zweifel und Existenzsorgen dürften die Selbsttötung Vincent van Goghs ausgelöst haben.

„Er war eben verrückt, da hat er sich selbst umgebracht.“ Ähnliche Klischeevorstellungen spuken über Vincent van Goghs Tod in vielen Köpfen herum. Im Zusammenhang mit einem unsteten Leben, autoaggressiven Akten der Selbstverstümmelung und einer für damalige Augen verstörenden Kunst war das Bild des von Wahnsinn und Genie geschüttelten typischen Künstlers perfekt. In jüngerer Zeit wurden aber auch andere Theorien über den Tod des Holländers laut, etwa die Annahme, es habe sich um einen Mord aus Versehen gehandelt. Der Autor hält an der Selbstmordthese fest, jedoch unter anderen Vorzeichen. Dabei spielen van Goghs Erfahrungen als enttäuschter Theologiestudent, der mit seinem Gott haderte, ebenso eine Rolle wie Einsamkeit und die komplizierte Beziehung zu seinem Bruder Theo, der ihn finanziell unterstützte, sich aber von ihm zu entfernen drohte.

Zu den unzähligen Fans des holländischen Malers Vincent van Goghs, der erst lange nach seinem Tod weltberühmt wurde, gehöre auch ich. Darum interessieren mich die Umstände seines Todes im Sommer 1890, die in letzter Zeit wieder neu in die Diskussion geraten sind. Geboren wurde Vincent am 30. März 1853 – auf den Tag genau ein Jahr nach der Totgeburt des ersten Sohn des Pfarrer-Ehepaares van Gogh, das denselben Namen Vincent hatte erhalten sollen. Unter diesem etwas trüben Stern stand das ganze Leben des Malergenies.

In der Forschung ist umstritten, ob Vincent van Gogh schließlich in einem Suizid geendet oder sein Tod sozusagen ein tragischer Unfall war (1). Letztere Möglichkeit ist relativ neu als Hypothese aufgetaucht, wonach eine Gruppe Jugendlicher den etwas merkwürdigen Maler necken wollte und ihn dabei wohl versehentlich mit einem Schuss aus einer erworbenen Pistole lebensgefährlich verletzt haben könnte (2). In der Folge hätte der gutmütige Vincent die Jugendlichen nicht verraten wollen und sei vielmehr still in sein Pensionszimmer geschlichen, wobei seine Verletzung dann doch bemerkt wurde. Die vermeintliche, von Vincent zwecks Verjagen von Krähen geborgte Pistole wurde übrigens vor einigen Jahren auf einem Acker gefunden. Aber wer hatte sie abgedrückt: ein Jugendlicher oder doch der einsame Vincent selbst?

Ein umfangreicher, großenteils veröffentlichter Briefverkehr mit seinem Bruder Theo lässt tiefe Einblicke in das Seelenleben jenes Malers zu, von dem sein Bruder zu Lebzeiten tatsächlich nur ein einziges Bild verkaufen konnte. Vincent hatte in jungen Jahren ein Theologiestudium angefangen, aber bald wieder abgebrochen, weil er die Atmosphäre eines „ewigen Pharisäertums“ meiden wollte. Leidenschaftlich engagierte er sich daraufhin als ein Praktikant predigend und helfend in sehr armen Gemeinden, bis er da als zu fanatisch agierend hinausgeworfen wurde. Das tat seinem Glaubensleben am Ende nicht gut.

Gott den Schöpfer verglich er später mit einem Maler, der sein Bild etwas eilig und eben unvollkommen hingehudelt habe – kein ganz ungeschickter Vergleich im Sinne des Theodizee-Problems, also der Grundfrage, warum der gute Gott so viel Leid und Böses zulassen kann (3).

Jedenfalls rückte für Vincent Gott insofern glaubensmäßig etwas in eine gewisse existenzielle Ferne.

Entsprechend trübsinnig verlief sein weiteres „postreligiöses“ Leben, geprägt und belebt nurmehr von seiner Arbeit, in der er weitsichtig – wie zunehmend auch sein Bruder (4) – durchaus einen Wert und Sinn sah. Gleichwohl verhinderte seine künstlerische Produktivität nicht seine Schwermut, das „Gefühl großer Niedergeschlagenheit und Besorgnis“, ja der „Mutlosigkeit und Verzweiflung, so stark, dass es sich gar nicht sagen lässt. Und wenn ich keinen Trost finden kann, überwältigt es mich auf unerträgliche Weise.“ (5) Das war letztlich eine Art jener Verzweiflung, die der dänische Philosoph Sören A. Kierkegaard schon 1848 als Ausgeburt der Entfremdung von Gott bezeichnet hatte, nämlich als spirituell bedingte „Krankheit zum Tode“.

So viel Christentum lebte freilich in Vincents Psyche noch, dass er den Gedanken an Selbstmord damals ziemlich entschieden von sich wies.

So schrieb er am 4. November 1883: „Sich davonmachen oder verschwinden – weder Du noch ich dürfen das jemals tun, sowenig wie Selbstmord begehen.“ Er habe zwar durchaus seine Augenblicke tiefer Niedergeschlagenheit, aber suizidale Gedanken müssten „als unser unwürdig betrachtet werden.“ (6) Das klingt erst einmal eindeutig. Indes – im selben Brief heißt es weiter: „Doch durchzuhalten, wenn man fühlt, es ist unmöglich, durchzuhalten mit dem verzweifelten Gefühl, dass es auf ein Verschwinden hinauslaufen muss, dagegen erhebt sich in unserem Gewissen einen ’Hüte dich!‘“ Also tut sich im weiteren Nachdenken doch noch ein Türchen auf, das den Suizid denkbar werden lässt – wenn das Durchhalten zur Unmöglichkeit, nämlich von einem Gefühl der Sinnlosigkeit durchsetzt wird.

Und das war im Sommer1890 nach mancherlei biographischen Krisen dann tatsächlich der Fall. Psychisch (7) und körperlich angeschlagen, hatte er sich in Arles wohl noch einmal ein wenig verliebt – in die Tochter seines dortigen Arztes. Alsbald aber merkte er, dass diese Liebe nicht erwidert wurde; wieder einmal brach ein kleines Sinn-Gebäude, eine vielleicht letzte Hoffnung zusammen. Gleichzeitig hatte sich die Situation bei seinem Bruder Theo zugespitzt: Der hatte sich glücklich verheiratet, ein Söhnchen kam zur Welt. Und das rief in Vincent einerseits Freude, andererseits auch ein wenig Neid, vor allem aber Ängste hervor, dass der ihn bis dahin finanzierende Bruder womöglich Geld und Liebe in geringerem Maße für ihn aufbringen könnte. Konkret verstärkten sich solche Sorgen dadurch, dass Theo zu dieser Zeit erneut erwog, seine feste, ihn aber nicht allzu sehr beglückende Stellung im Gemäldehandel aufzugeben, um sich selbstständig zu machen. Ein derartiger Schritt musste in Vincents Augen als höchst bedrohlich angesehen werden. Tragisch war insofern, dass er nicht mehr rechtzeitig von Theos Umdenken erfuhr: Der Bruder hatte sich wenige Tage vor Vincents Tod entschlossen, doch weiterhin Angestellter zu bleiben!

Aus einem der letzten Briefe Vincents – er stammt vom 24. Juli 1890 – ist ersichtlich, dass er sich vor Augen stellte: Die Bilder eines Malers pflegen nach seinem Tod deutlich im Wert zu steigen. Das mag in seinen Überlegungen den letzten Ausschlag gegeben haben.

Ein Suizid dürfte sein dann ja abgeschlossenes Oeuvre deutlich kostbarer werden lassen – zu Gunsten seines Bruders, dem die Bilder alle gehörten. Von daher erklärt sich aus meiner Sicht auch noch einmal der gesteigerte Eifer, den der Maler in seinen letzten Lebenswochen an den Tag legte. Er meinte gewissermaßen, einen Opfertod sterben zu müssen. Hinzu kam, was Theo am Sterbebett Vincents seiner damals verreisten Frau schrieb: „Er war einsam, und manchmal war es mehr, als er ertragen konnte.“

Und so musste der erschütterte Theo nach dem Tod seines älteren Bruders erleben, dass eine Beerdigung auf dem Ortsfriedhof, ja sogar die Benutzung des örtlichen Leichentransportwagens behördlich verweigert wurden, weil offenkundig ein Selbstmord vorlag. Einer der letzten Sätze des Dahinscheidenden soll gelautet haben: „Die Traurigkeit wird immer bleiben.“ Bedenkt man all die genannten Sachverhalte in ihrem Zusammenhang, dann ist nach meinem Eindruck – und vor allem auch nach Überzeugung der Experten des Amsterdamer Van-Gogh-Museums – an der Selbstmordthese kaum zu zweifeln.

Theo selbst hat die tragische Tat natürlich sehr zugesetzt. Er bemühte sich umgehend um Ausstellungen für die hinterlassenen Bilder seines Bruders. Beschleunigt durch den Stress all diesen Erlebens und Tuns brach allerdings bei ihm das Endstadium einer Syphilis-Erkrankung aus, so dass nicht mal ein halbes Jahr nach Vincents Suizid auch dessen vier Jahre jüngerer Bruder verstarb – zerrüttet und geistig umnachtet.

Man kann sich schwer ausmalen, wie sich die Dinge entwickelt hätten, hätte sich Vincent nicht zum Suizid hinreißen lassen. Eine Selbsttötung ist etwas Endgültiges – der letzte, traurige, manchmal auch aggressive Akt eines Menschen, mit dem er sich von der Welt verabschiedet. Die Biographie Vincent van Goghs ist insofern nicht ganz untypisch für moderne Menschen, als hier ein spiritueller Ansatz zunächst zweifellos vorhanden und wirksam war, aber im Zuge des weiteren Lebens verschüttet wurde. Auch dass dieser Ansatz gerade angesichts der Theodizeefrage verloren ging, ist noch aus heutiger Sicht keineswegs untypisch (8).

In unserer säkularen Kultur findet – zumal unter dem Einfluss der Digitalisierung – vertieftes Nachdenken über den Sinn von allem leider immer weniger Raum und Zeit. Den einschneidenden Verlust jenes Horizonts, der ein letztes Ziel und auch ein göttliches Endgericht zu bedenken lehrt, hat einst schon Friedrich Nietzsche markiert. Dabei bedeutet die Erosion des religiösen Gerichtsgedankens einen enormen Sinnverlust hinsichtlich des Ganzen der Wirklichkeit (9). Und dieser Verlust lässt dann auch das je eigene Leben am Ende so sinnlos erscheinen, dass der kleine Mensch als autarker Sinn-Produzent meint, den Un-Sinn seiner Selbsttötung anscheinend „frei“ selber herstellen und bequem wählen zu können. Eine so verstandene Autonomie ist aber im Kern die triste Ausgeburt einer letztlich nihilistischen Sicht auf alles. Und die ist keineswegs intellektuell zwingend, wie die Tatsache vieler gläubiger Natur- und Geisteswissenschaftler illustriert.

Im Falle von van Gogh war es tragisch, dass beide Brüder Pfarrerssöhne waren und doch einander nicht mehr glaubend trösten und aufrichten konnten.

Der Schriftsteller Jean Amery meinte, mitreden dürfe in Sachen Suizid „nur, wer da eingetreten ist in die Finsternis.“ Hierauf wäre zu erwidern, dass – wie schon Kierkegaard gezeigt hat – doch alle Menschen einer gewissen Verzweiflung unterliegen und dass durchaus nicht wenige existenzielle Finsternis kennengelernt haben, ohne sich suizidalen Neigungen hinzugeben. Sie dürfen nach meiner Überzeugung ebenso mitreden wie all jene, die als potenziell Hinterbliebene nach einer Selbsttötung sehr wohl von einer solchen Tat tangiert und betroffen wären (10). Die eigene Freiheit endet bekanntlich dort, wo die Freiheit anderer beginnt. Auch in diesem Sinne sollte das Thema „Freitod“ wieder kritischer diskutiert werden, als es der Zeitgeist heute zu gestatten scheint.