Massenmord im Anthropozän

Insektensterben, Vogelsterben, Artensterben... Wollen wir zumindest die finale Katastrophe verhindern, müssen wir aufhören, das Leben nur nach seinem „Nutzwert“ zu bemessen.

Drohnen haben eine Zukunft, Bienen nicht. In kurzer Zeit sind bis zu 80 Prozent der Insekten in unseren Breiten eingegangen. Aus Deutschland verschwand ein großer Teil der Brutvogelpaare, während in Übersee die letzten Pandas, Tiger und Nashörner um ihr Überleben kämpfen. Das große Sterben vollzieht sich weitgehend im Schatten „wichtigerer“ Themen aus Politik und Wirtschaft. Vernimmt man doch einmal einen Aufschrei, so gilt das Mitleid überwiegend dem Menschen selbst, der ohne Bienen um sein Honigbrot, ohne Vögel um das idyllische Gezwitscher während seiner Waldspaziergänge bangt. Soll Naturschutz mehr als eine halbherzig durchgeführte Reparaturmaßnahme sein, so müssen wir lernen umzudenken – umzufühlen. Wir können die Erde nicht aus demselben ego- und anthropozentrischen Geist heraus heilen, der die Katastrophe erst herbeigeführt hat.

„Es gibt wichtigere Dinge…“ gab Reinhard Mey zu, als er schon 1974 das erste Chanson über das Insektensterben schrieb: „Es gibt keine Maikäfer mehr“. Der große Sänger der kleinen Dinge gab sich bescheiden:

„Es gibt sicher ein Problem, dessen Erforschung sich mehr lohnt
Als, warum denn heut‘ im Parkhaus wohl kein Maikäfer mehr wohnt.“

Auch die Politik ist offenbar dieser Meinung: „Es gibt wichtigere Dinge“. Anlässlich der Jamaica-Sondierungen hörte man von dem Thema fast nichts. Zwar gab Grünen Fraktionschef Anton Hofreiter zu Beginn der Verhandlungen noch an, Ziel der Grünen sei eine Agrarwende. Eine Koalition müsse Probleme „vom Insektensterben über die Vergiftung von Böden und Grundwasser bis zum millionenfachen Tierleid“ angehen. Aber haben Sie im Anschluss darüber sehr viel gehört? Ein koordinierter Plan, um das große Sterben zu beenden, ja – was dringend notwendig wäre – es rückgängig zu machen, steht bis heute aus.

„Es gibt wichtigere Dinge“

Es gibt wichtigere Dinge. Die Installation von immer mehr Überwachungskameras zum Beispiel. Die Verhinderung von Familienzusammenführungen bei Flüchtlingen. Waffenlieferungen an Saudi-Arabien. Oder die Tatsache, dass in deutschen Schulen noch viel zu wenige Computer, Tablets und Smartphones eingesetzt werden. Auf denen können sich die Schüler ja dann Schmetterlingsfotos downloaden, denn lange werden die „draußen“ nicht mehr zu sehen sein. Die meisten werden die farbenfrohen Falter ohnehin nicht vermissen.

Es gibt wichtigere Dinge als, dass auf unseren Windschutzscheiben kaum mehr tote Mücken und Fliegen kleben. Fühlt sich ohnehin besser an. Man muss sich nicht mehr als Mückenmörder fühlen, wenn diese ohnehin schon tot waren, bevor sie vom eigenen Pkw erfasst werden konnten. Die letzten Glühwürmchen sah ich in Italien 2008. An mein letztes Dompfaff-Pärchen kann ich mich noch genau erinnern, eben weil es eine solch seltene „Erscheinung“ war – obwohl ich im Bayerischen Oberland wohne, in einer wenig bebauten Region. Das letzte Rotkehlchen, das ich sah, war tot: Die Nachbarskatze legte uns die Beute stolz auf unsere Terrasse. Andere schöne Vögel, wie den Bienenfresser, den Fichtenkreuzschnabel oder den Pirol, kenne ich ohnehin nur aus meinem Buch „Vögel der Heimat“. Da ist auch eine Vogelstimmen-CD drin – die kann ich auflegen, wenn ich mag, als schöne Erinnerung.

Auch computeranimierte BBC-Filme über ausgestorbene Tierarten sehe ich gern. Sie zeugen von der unglaublichen Vielfalt und Fantasie des Lebens – und von Vergänglichkeit. Riesenfaultier, Mastodon oder Säbelzahntiger… Es ist traurig, dass diese schönen – gelegentlich auch hässlichen – Arten vom Erdboden verschwunden sind. Jedes Lebewesen ist das Zentrum einer ganz eigenen Welt. Mit jeder Spezies stirbt eine spezifische Form der Weltwahrnehmung unwiederbringlich aus – eine Art sich auf die Welt zu beziehen, sich in ihr zu bewegen, sie zu gestalten, zu erleiden und zu genießen.

Wir zertreten ganze Arten

Erste Übung: Werfen Sie ein Ikea-Regal um, so dass Bücher und Zwischenfächer herausfallen und sich auf dem Boden verteilen. Und dann bauen Sie das Ganze wieder auf.

Zweite Übung: Zertreten Sie eine Ameise unter Ihren Füßen. Und dann setzen Sie sie wieder zusammen und hauchen ihr neues Leben ein.

Das ist kein ernst gemeinter Vorschlag. Bitte lassen sie alles leben. Magnus Schwantje, Pazifist, Antirassist und Vorreiter der Tierrechtsbewegung in Deutschland (1877-1959), nannte als eines der Motive für sein Engagement „die heilige Scheu vor der Vernichtung irgendeines Lebewesens (…) die Scheu davor, etwas zu zerstören, was wir nicht neu schaffen können, einem Wesen etwas zu nehmen, was wir ihm nicht wiedergeben und nicht ersetzen können und eine Tat auszuführen, von deren Folgen wir Menschen nur sehr wenig erkennen können.“ Die Ameisenzertreter können sich damit trösten, dass es von den Tierchen ja noch – noch! – genügend andere gibt. Was aber, wenn wir ganze Arten zertreten?

Als ich ein Kind war, fand sich in der von mir geliebten Tierbuchreihe „Bunter Kinderkosmos“ zwischen Kängurus und Koalas noch der Beutelwolf – ein etwa schakalgroßes, schlankes, am Rücken gestreiftes Tier. Der Beutelwolf ist heute ausgestorben. Offiziell starb das letzte Tier seiner Art, ein Weibchen, 1936 im Zoo von Hobart auf Tasmanien. Als „Endlinge“ bezeichnet man diese traurigen letzten Exemplare. Es gab viele dieser Endlinge in jüngerer Zeit: den Endling des Westlichen Spitzmaulnashorns, des Panamastummelfußfrosches und des chinesischen Flussdelfins.

Alle Vöglein sind schon weg

Bienen gibt es immerhin noch, wenn auch in dramatisch schwindender Zahl. Der Tierrechtler und Buchautor V. C. Herz schreibt hierzu: „In China müssen Bäume teilweise per Hand bestäubt werden. Menschen klettern auf Leitern die Bäume hoch und bestäuben die Apfelbäume – extrem umständlich, aber alternativlos, wenn man auch weiterhin Essen haben möchte.“ Ohne Bienen muss niemand mehr Angst haben, am Badesee von einem schnöden Insekt gestochen zu werden. Ohne Bienen steht aber noch weit mehr auf dem Spiel als unser tägliches Honigbrot, das notfalls durch ein Nutellabrot ersetzt werden kann.

„Es gibt mittlerweile weniger als 2.000 Pandas auf der Erde“, zählt V. C. Herz auf. „Von 100.000 Tigern, die im Jahr 1920 noch die Erde bewohnten, sind keine 4.000 mehr übrig. Mehrere Nashorn-Arten sind vom Aussterben bedroht. Auch Menschenaffen, Löwen, Elefanten, Seeadler, Wale und Bären sind gefährdet – neben unzähligen anderen, weniger spektakulären Arten. (…) Von 1970 bis 2010 sind auf der Welt die Hälfte aller Säugetier-, Vogel-, Reptilien- und Fischspezies ausgestorben.“

Bei der Kleinfauna, die unter den Stichworten „Insektensterben“ und „Vogelsterben“ in jüngster Zeit mehr Aufmerksamkeit auf sich zog, sieht es nicht besser aus. Laut einer aktuellen Studie des Naturschutzbunds Deutschland (NABU) hat Deutschland in nur zwölf Jahren 12,7 Millionen Vogelbrutpaare verloren. 2009 waren das um 15 Prozent weniger als 1998. Von „dramatischen Zahlen“ und von einem großen „Sterben“ spricht deshalb NABU-Chef Olaf Tschimpke. Amsel, Drossel, Fink und … äh, der Star gehört zu den Vogelarten, die es am schlimmsten getroffen hat. Und selbst die scheinbar unverwüstlichen Spatzen fallen nicht mehr in so großen Horden in die Hecken und Biergärten ein wie früher. Am stärksten betroffen: Vögel in Agrarlandschaften, die durch Monokulturen und künstliche Bedüngung geprägt sind.

Vor allem dort geht den Vögeln ihre Hauptnahrungsquelle verloren. Eine im Oktober in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift PLOS ONE veröffentlichte Studie zum Insektenrückgang in Nordwestdeutschland bestätigte ähnlich dramatische Befunde aus anderen Quellen vollständig. Demnach hat die Biomasse der Fluginsekten in den 90er-Jahren zwischen 76 bis 81 Prozent abgenommen. Die Studie kann mit gewissen Abweichungen als repräsentativ für ganz Deutschland angesehen werden. „Ein direkter Zusammenhang mit dem Vogelrückgang ist sehr wahrscheinlich, denn fast alle betroffenen Arten füttern zumindest ihre Jungen mit Insekten", sagte der NABU-Vogelexperte Lars Lachmann.

Warum starb das Diprotodon?

Als aggressive Spezies traten „wir“ nicht erst in jüngster Zeit in Erscheinung. Das Diprotodon war ein knuffiges, etwa pferdegroßes Riesenbeuteltier, behaart wie ein Bär, ein harmloser Pflanzenfresser. Das Diprotodon hatte seit 1,5 Millionen Jahren in Australien gelebt. Es verschwand jedoch, wie Knochenfunde beziehungsweise deren Fehlen ab einem gewissen Zeitpunkt zeigen, vor 45.000 Jahren urplötzlich von der Bildfläche. Mehr als 90 Prozent der australischen Megafauna verschwanden damals quasi auf einen Schlag. Nur die Meerestiere blieben verschont – vielleicht auch weil der Mensch in die Tiefen des Ozeans nicht vordringen konnte. Genau aus dieser Zeit nämlich stammen die ersten Knochenfunde und Artefakte menschlicher Herkunft – eine Speerspitze hier, eine Scherbe dort.

Der großartige Sachbuchautor Yuval Noa Harari („Eine kurze Geschichte der Menschheit“) beschrieb diesen Vorgang eindrücklich. Seine Analysen zeigen: Der Mensch war ein ökologischer Massenmörder: lange vor der Erfindung von Handfeuerwaffen, lange vor Beginn der industrialisierten Landwirtschaft und der Umweltzerstörung durch Chemikalien. Ein Grund für das Sterben des Diprotodon und vieler seiner Mitbewohner im Lebensraum Australien war wohl, dass Menschen zu plötzlich über das Biotop hereinbrachen. Die Tiere waren keine Menschen gewöhnt und hatten daher keine Scheu, sich ihnen zu nähern. So wurden sie von den Menschen gnadenlos und ohne Rücksicht auf die Nachhaltigkeit der Tierbestände bejagt.

Ein weiterer Grund für die ökologische Katastrophe dürfte die damals schon gängige Praxis der Brandrodungen gewesen sein. Auf unsere Vorfahren wirkten Wälder vielfach „bedrohlich“. Und auf freien Flächen konnte man sein Wild besser jagen. Deshalb wurden riesige Areale abgefackelt. Nahrungsketten rissen ab. Mit den Pflanzen starben Insekten, Vögel, Kleintiere, schließlich die „Megafauna“, die zusätzlich fleißig abgeschossen wurde. Das Urteil Hararis über unsere Spezies ist vernichtend: „Wenn wir die massiven Artensterben in Australien und Amerika zusammennehmen und die Arten hinzuzählen, die der Homo sapiens auf seinem Weg durch Afrika, Europa und Asien ausgerottet hat (…), dann stellen wir fest, dass der weise Mensch die größte Katastrophe war, von der die Tier- und Pflanzenwelt der Erde je heimgesucht wurde.“.

Zu Beginn der „kognitiven Revolution“, also der Herausbildung erkenntnisfähiger Gehirne beim Menschen, gab es auf unserem Planeten rund 200 Säugetiergattungen, deren Angehörige über 50 Kilo wogen. Zu Beginn der landwirtschaftlichen Revolution waren es nur noch etwa 100. Hararis Fazit: „Die romantische Vorstellung, dass die moderne Industrie die Natur zerstört, während unsere Vorfahren im Einklang mit ihr lebten, ist nichts als eine Illusion. Schon lange vor der industriellen Revolution hielt der Homo sapiens den traurigen Rekord als dasjenige Lebewesen, das die meisten Tier- und Pflanzenarten auf dem Gewissen hat.“

Untertan, Sklave oder Gaumenschmaus?

Ich schreibe dies hier vor allem um darzulegen, dass das Problem mit der menschlichen Spezies nicht allein darin liegt, was wir (technologisch) können; vielmehr drängt sich der Eindruck auf, dass eine ganz bestimmte Einstellung verantwortlich ist für die Verwüstungen, die wir anrichten. Charakteristisch war und ist ein Selbstbild, das durch Überheblichkeit und Achtlosigkeit gegenüber Mitgeschöpfen geprägt ist – verbunden mit einer guten Portion Dummheit, der Unfähigkeit, die Risiken des eigenen Handelns einzuschätzen. Das Mitgefühl, so scheint es, wuchs nicht mit der Gehirnmasse. Lediglich was das Wissen um ökologische Zusammenhänge betrifft, ist die Menschheit heute weiter als in Zeiten des Diprotodon. Wir wissen heute, was wir tun und wir können die Folgen einschätzen. Weitgehend bleiben diese Erkenntnisse jedoch „Elitewissen“, das in Fachkreisen und unter gut informierten Bürgern zirkuliert. Und auch denen, die „wissen“ ist ihr Hemd (das Eigeninteresse) meist näher als der Rock (die Umwelt).

Einzigartig im „Anthropozän“, dem Zeitalter des Menschen, ist der Anspruch einer Spezies, über das Gesicht unserer Erde allein und ohne jede Rücksicht auf andere zu entscheiden. Das Recht des Mächtigeren wird ohne Scheu und Selbstbeschränkung gegenüber Schwächeren ausagiert. Trifft ein Mensch auf ein Tier, so gebärdet sich der Mensch mit größter Selbstverständlichkeit sogleich als der „Vorgesetzte“ der anderen Spezies. Und er stellt die Frage: „Wie könnte das Tier für mich nützlich sein?“ Kann ich es wie eine Zucchini in Scheiben schneiden und mir in den Mund stecken? Kann es mir als Lasttier, Milch- und Eierlieferant, als Wachhund, Schlachtross, Lastesel oder Trüffelschwein dienen? Oder ist das Tier nutzlos, ein Schädling gar? Im letzteren Fall treiben heutige Menschen bewusst voran, was ihren Vorfahren durch Überjagung nur „versehentlich“ gelang: die Ausrottung einer Spezies.

Und dann gibt es natürlich noch „Schoßtiere“. Auch ihnen gegenüber paart sich die Tierliebe jedoch oft mit einer Kosten-Nutzen-Kalkulation. „Viele Schäfer und Bauern behandelten ihre Tiere mit Zuneigung und Fürsorge, genau wie einige Sklavenhalter ihre menschlichen Sklaven mit Zuneigung und Fürsorge behandelten.“ (Harari). Im Anthropozän wollen Menschen die restlichen Tier- und Pflanzenarten nicht nur dominieren; sie streben eine Welt an, in der praktisch nur noch sie selbst und die ihren Interessen radikal unterworfenen Spezies existieren dürfen. So gibt es in vielen Gegenden praktisch nur noch Flächen, die als Wohnraum und zur Nahrungsproduktion für Menschen dienen. Oder um Wohnung und Nahrung für Tiere bereitzustellen, die dann wiederum von Menschen aufgegessen werden.

Wer ist hier eigentlich der Schädling?

Weltweit wird die Biomasse großer Landsäuger (einschließlich der Menschen) wie folgt angegeben:

Menschen: 300 Millionen Tonnen

Große Wildtiere: 100 Millionen Tonnen

Domestizierte Tiere: 700 Millionen Tonnen

Das Verhältnis zwischen Menschen und „ihren“ Tieren einerseits und den „sonstigen Tieren“ andererseits beträgt also 10:1. (Wobei auch die Rehe und Hasen im Wald Sorge haben müssen, dass sie nicht in menschlichen Mägen landen.) Und wenn sich einmal eine andere Spezies nicht unauffällig im Hintergrund hält, wenn sie es wagt, an der Gestaltung einer Landschaft mitzuwirken, reagiert die „Krone der Schöpfung“ äußerst ungnädig. Biber, die größten Nager Europas, gelten mancherorts als Schädlinge, wenn sie zum Beispiel Obstbäume fällen und Wiesen überfluten. Für den Einzelnen, der Bäume nach ihrem ökonomischen Wert bemisst, mag das so scheinen. Für das Ökosystem als Ganzes ist der geniale Baumeister im Tierreich aber allemal ein Gewinn. Gerhard Schwab und Jens Schlüter sind bayerische Bibermanager. Sie wissen: Ein Generalverdacht gegen ihre Schützlinge ist unberechtigt. „Millionen von Bäumen werden jährlich zum Beispiel für Straßen und Gewerbegebiete gefällt – beim Biber reicht bereits ein angenagter Uferbaum für ein Zeitungsfoto.“ Mancher Anlieger, dessen Fischteich von den Nagern in Mitleidenschaft gezogen wurde, fordert nun schon deren Ausrottung.

Der „Schädlingsvorwurf“ muss, wenn er ausgerechnet von Menschen erhoben wird, wohl als eine besonders plumpe Form der Projektion zurückgewiesen werden. Tiere „schaden“ ja auch vor allem deshalb, weil sie der Mensch Stück für Stück aus ihrem Lebensraum verdrängt hat. Anfang November ging das erschütternde Bild eines brennenden Elefantenjungen durch die Presse, für das der Fotograf Biplab Hazra mit dem Preis „Sanctuary Wildlife Photographer of the Year“ ausgezeichnet wurde. In Indien hatte ein aufgebrachter Mob das Tier angezündet, weil es offenbar in eine menschliche Siedlung eingedrungen war. „In Westbengalen ist diese Art der Misshandlung von Elefanten Alltag“, erklärte eine Vertreterin der Tierschutzorganisation Sanctuary Wildlife, die den Foto-Wettbewerb organisiert hatte. Tiere können schon einmal „schaden“, etwas zertrampeln oder gar aggressiv werden. Aber wie bitte sollen sie sich in dieser komplett den menschlichen Bedürfnissen unterworfenen Welt bewegen, ohne irgendwo zu „stören“.

Futterneid auf ein paar Wölfe

Deutschland erlebte im Oktober wieder eine Demonstration von Landwirten gegen die Wiederansiedlung von Wölfen. „Auf den Weiden und Almen werden immer mehr Kühe oder Schafe vom Wolf getötet“, klagte der Vizepräsident des Bayerischen Bauernverbandes Günter Felßner. Die Weidehaltung in den Alpen sei gefährdet. „Doch was die Alpen lebens- und liebenswert macht, sind doch nicht Wolfsreviere, sondern unsere Weidetiere.“ Lebenswert ist das Dasein natürlich weniger für die meist unter schlimmen Bedingungen eingesperrten Nutztiere, lebenswert ist es eher für die Menschen, die von einer „verzehrenden“ Leidenschaft für die Vierbeiner ergriffen werden. Demonstrierende hielten sogar ein Plakat mit dem Foto eines Lämmchens hoch: „Ich bin kein Wolfsfutter“ stand darauf. Liebenswert, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass sich dieselben Bauern abends nach der Demo im Wirtshaus ein Lammkotelett genehmigt haben.

In Niedersachsen legten 2016 bei einer ähnlichen Aktion Weidetierhalter von Wölfen gerissene Schafe vor den Landtag. Die Tiere trugen Aufkleber mit niedlich klingenden Namen wie „Tinka Bell“ oder „Lillifee“. Ein Schild fragte entrüstet: „Ist der Wolf wichtiger als der Mensch?“ Da muss sich der Menschenrechtsaktivist wohl keine Sorgen machen. Niemand ist dem Menschen wichtiger als – der Mensch. Ich verstehe die Trauer um ein Schaf, wenn für jemanden jedes Leben kostbar ist. Wertvoll ist Leben aber im Kontext der Tierhaltung vor allem dann, wenn das Tier später profitträchtig zu Tode gebracht und der „Fleischproduktion“ zur Verfügung gestellt werden kann. Also bitte keine Krokodilstränen, wenn das Lammkotelett ausnahmsweise einmal einer anderen Spezies – dem Wolf – als Nahrung diente.

Plötzliche Anfälle von Rührseligkeit angesichts hingemordeter Lämmer stehen im auffälligen Kontrast zu der erschreckenden emotionalen Kälte, mit denen unsere Landwirtschaft das millionenfache Leid und den Tod empfindungsfähiger Tiere tagtäglich verwaltet. V. C. Herz sieht im Fleischkonsum einen, wenn nicht den Hauptgrund für das grassierende Artensterben. Auf sein Konto gehen unter anderem der horrende Flächen- und Wasserverbrauch durch die Tierzucht, ein großer Anteil am globalen Problem der Klimaerwärmung, die abermillionen Tonnen an Gülle, die auf die Felder gekippt werden und in denen Regenwürmer buchstäblich ersticken oder ertrinken. Nicht zuletzt auch die Rodung von Wäldern, zum Beispiel im gefährlich schrumpfenden Amazonas-Regenwald. „Aber warum roden wir eigentlich Wälder? Um Platz für den Anbau von Lebensmitteln zu schaffen. Diese benötigen wir, um den großen Hunger nach Fleisch zu stillen. Der Klimawandel wird hauptsächlich durch den Fleischkonsum vorangetrieben, und auch das Leerfischen der Meere hat seinen Hauptgrund darin, dass wir die Fische essen wollen.“ (V. C. Herz)

Kein Wohlleben für Waldbewohner

Zusammengefasst: Das Schwinden der Wildtiere steht in einem direkten Zusammenhang mit der überbordenden Anzahl der Nutztiere in „zivilisierten“ Regionen. Wenn einmal ein winziger Bruchteil dieses Nutztierbestandes von einer anderen Spezies erbeutet wird, zeigt sich menschlicherseits sogleich peinlicher Futterneid. Um einen Teil der heimischen Tierarten in großem Umfang ausbeuten zu können, schränken Menschen den Lebensraum der restlichen Spezies empfindlich ein. Ein dichtes Straßen- und Wegenetz unterteilt die Reviere in winzige Parzellen. Sichtschutz, Brut- und Schlafstätten und Zugang zu unvergifteter Nahrung werden rar. „Wildwechsel“ wird für Hirsche, Füchse und andere Waldbewohner jedes Mal zum lebensgefährlichen Abenteuer. „Verirrt“ sich ein größeres Säugetier aus diesem Gefühl der Beengung heraus doch einmal in menschliches Siedlungsgebiet – und es gibt fast nur noch menschliches Siedlungsgebiet – fordern tief beleidigte Angehörige der Herrenspezies sogleich den Abschuss. Ein Kompromiss oder irgendeine Form fairer „Tierkommunikation“ scheint unmöglich. Ergebnis des Inter-Spezies-Dialogs ist die Auslöschung der schwächeren Spezies durch die stärkere.

Einzigartig einfühlsam beschreibt der Bestsellerautor Peter Wohlleben in „Das Seelenleben der Tiere“, wie viel Stress der Mensch dem „Wild“ durch sein Auftauchen in dessen Lebensraum verursacht. Das beginnt mit der schieren Anzahl der Menschen. „Während in Wolfsgebieten etwa ein vierbeiniger Jäger auf fünfzig Quadratkilometer kommt, so drängeln sich bei uns auf der gleichen Fläche mittlerweile über zehntausend zweibeinige Raubtiere. Dass diese nicht alle bewaffnet sind, kann das Wild nicht so ohne weiteres feststellen. Also weicht es im Zweifelsfall vor jedem möglichen Angreifer zurück.“ (Wohlleben) Das „scheue Reh“ – es war nicht immer so scheu. Vielleicht war es einst so zutraulich wie im Märchen „Brüderchen und Schwesterchen“.

Aber das Leben über viele Generationen in nächster Nähe der „Krone der Schöpfung“ hat die Tiere vorsichtig werden lassen. Rehe und Hirsche, so der Autor und passionierte Förster Wohlleben, erleben oft aus nächster Nähe den Abschuss eines Artengenossen. „Stellen Sie sich einmal umgekehrt vor, durch Mitteleuropa streiften pro Quadratkilometer zwei bis dreitausend Löwen. Das wäre in etwa die Übermacht, die pro menschlichem Einwohner dem entspricht, was gejagten Wildtieren an Zweibeinern gegenübersteht. (…) Ich würde mich nicht mehr vor die Haustür trauen.“ Tiere, die der Mensch ausnahmsweise einmal nicht aufisst, versklavt oder „domestiziert“, schüchtert er massiv ein.

Es gibt bald keine Käfer mehr

Zudem reißt die Nahrungskette gerade an ihrer empfindlichsten Stelle, an der Basis, ab: Die Insekten sterben – es gibt nicht nur keine Maikäfer, sondern bald überhaupt keine Käfer, Schmetterlinge, Fliegen, Mücken, Larven und Würmer mehr. Ausgemerzt, vertilgt zum Beispiel durch das von Monsanto profitträchtig vertriebene Christian-Schmidt-Gedenkgift Glyphosat, das auch für Menschen hochgiftig ist (und wohl hauptsächlich deshalb derzeit in der Kritik). „Es gibt wichtigere Dinge“? Nicht unbedingt, so sehr ich auch den heroischen Kampf mancher Politiker gegen Vollverschleierung, den Doppelpass, linke Gewalt und das beklagenswerte Hinterherhinken Deutschlands in der Digitalisierungsfrage verstehe. Ohne Regenwürmer gibt es keinen Humus mehr, auf dem Nahrungspflanzen wachsen können. Ohne Ameisen und andere Kleinlebewesen gibt es keinen Abbau von Kadavern, welche sonst in Wald und Feld zum Himmel stinken würden. Ohne „lästige“ Mücken und „eklige“ Raupen oder Maden fehlt es Vögeln, Igeln und Spitzmäusen schlicht an geeigneter Nahrung. Was uns dann droht – und was jetzt schon teilweise Realität ist – wurde poetisch „der stumme Frühling“ genannt.

Möchten wir uns eine Welt vorstellen, aus der der Tiger und das Nashorn verschwunden sind – keine Geschöpfe, mit denen wir viele persönliche Begegnungen hatten, aber doch Ikonen der irdischen Fauna, Planetengefährten, deren Bild uns von Kindesbeinen an vertraut ist? Für viele sind selbst die Tiere der Heimat – Eichhörnchen oder Blaumeisen etwa – entbehrliche Dreingaben zu unserem Leben, in dem vor allem das Starren auf Bildschirme dominiert. Warum müssen all diese Tierarten unbedingt überleben? Notfalls kann man ja einen Tierfilm mit computeranimierten Altspezies streamen! Gleichgültigkeit dominiert die Reaktion von Politik und Öffentlichkeit gegenüber dieser höchst gefährlichen und tieftraurigen Entwicklung. Wir vergessen dabei leicht: Die „Krone der Schöpfung“ wird ohne den Rest der Schöpfung nicht überleben können.

Bevor aber der letzte Mensch, der „Endling“ unserer Art, sein Leben aushaucht, werden wir das betrübliche Sterben einer liebgewonnenen Erlebniswelt mitansehen müssen, mit der wir groß geworden sind. Die Liedermacherin Annett Kuhr besingt diese Welt in ihrem schönen und biophilen Lied „Sommerland“:

Doch sucht man vergebens das Bienengesumme,
die Blumen, die Schmetterlingspracht,
das Grillengezirpe, das Hummelgebrumme,
das Glühwürmchenflimmern bei Nacht.
Das Land meiner Kindheit stirbt klaglos in Stille,
und, habt ihr´s auch nicht mehr gekannt:
Hier war mein Mohn-Margeriten-Salbei-Kamillen-
Kornblumen-Sommerland.

Bekanntlich ging Kuhrs Kollege Reinhard Mey seinerzeit noch einen Schritt weiter und sagte den Untergang der Menschheit in der Folge des Käfersterbens voraus:

Vielleicht ängstigt mich ihr Fortgeh‘n, denn vielleicht schließ‘ ich daraus,
Vielleicht geh‘n uns nur die Maikäfer ein kleines Stück voraus.