Mental verwahrlost

Der Begriff „links-grün versifft“ trifft nicht den Kern des Problems — eher geht es um die Verkehrung aller Werte, die man bisher mit dieser Szene verband.

In der Zeit der 68er-Revolte war es noch anders: Wem als Konservativem die Sachargumente ausgingen, der versuchte, Linke und Ökos anzugreifen, indem er ihnen mangelhafte Hygienestandards vorwarf. Lange, fettige Haare und abgerissene Kleider zum Beispiel. Demgegenüber konnte man sich selbst als anständige, gepflegt auftretende Stütze der Gesellschaft positionieren. Heute, nachdem sich die politische Landschaft drastisch gewandelt hat, muss man sagen, dass diese Äußerlichkeiten erstens kaum mehr interessieren und dass Grüne und Linke zweitens durchaus in der Lage sind, auch mit Schlips und Anzug gekleidet das Falsche zu tun. Der Autor bemängelt vielmehr ein mentales „Versifftsein“, schmutzige Tricks und unsaubere Machenschaften von Politikern, die an den Fleischtöpfen der Macht gerochen haben. Vor allem haben diese gewendeten Ex-Rebellen nicht nur ihre Werte aus den 70er-Jahren verraten — sie tun auf vielen Politikfeldern exakt das Gegenteil dessen, was sie bis heute in ihren Reden fordern.

„Also zunächst mal: Es gibt natürlich Diskriminierung in unserer Gesellschaft, es gibt natürlich Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft. Der Kern dieser neuen Ideologie besteht darin zu sagen, dass wir keinerlei Fortschritte gemacht haben und dass wir nur Fortschritte machen können, indem wir die universellen Werte, auf denen unsere freiheitlich-demokratischen Demokratien beruhen, verwerfen. Das halte ich für einen riesigen Fehler. Unsere Gesellschaft ist imperfekt, aber wir haben echte Fortschritte gemacht, was Rassismus angeht, was Homophobie angeht, was andere Formen der Diskriminierung angeht. Und wir haben diese Fortschritte gemacht, weil Menschen wie Frederick Douglass und Martin Luther King, weil Menschen wie die Anführer der Schwulen-Bewegung in den letzten Jahrzehnten gesagt haben: 'Wir wollen so behandelt werden wie ihr. Aus welchem Grund schließt ihr uns ausgerechnet aus?' Das bedeutet, der weitere Fortschritt wird geschehen nicht, indem wir eine Gesellschaft aufbauen, in der wir, wie wir einander behandeln, immer davon abhängig machen, welche Hautfarbe wir haben, welcher Gruppe wir angehören, sondern eine Gesellschaft aufbauen, in der wir einander wirklich als Gleiche und Ebenbürtige behandeln.“ (1)

Es gab Zeiten — sie liegen mehr als 20 Jahre zurück —, da konnte ich mit dem Begriff „linksgrün versifft“ nicht viel anfangen. Er erschien mir als eine Variante von „langhaarig“ und „Gammler“. Dieses konservative Pochen auf eine bestimmte Art von äußerer Gepflegtheit, das auf die 1950er- und 60er-Jahre zurückgeht, erschien mir noch nie als ein sinnvolles Kriterium zur Beurteilung eines Menschen — zumal angesichts all der Verbrechen, die tagtäglich von blitzsauber geschniegelten Anzugträgern verübt werden und nicht umsonst zum Teil als White-Collar Crimes (2) bezeichnet werden, also als Weiße-Kragen-Verbrechen.

Eher schon konnte ich verstehen, wenn man mit „linksgrün versifft“ einen bestimmten politischen Laissez-Faire-Stil bezeichnete, dem viel Idealismus und wenig realpolitischer Sinn zugrunde lagen. Aber da waren meine Sympathien wiederum bei den Idealisten mit ihren ökologischen und sozialen Hoffnungen und Weltrettungsmotiven.

Nun aber, mehr als 20 Jahre später, nach der Corona-Krise, hat sich die politische Landschaft grundlegend gewandelt. Jetzt verstehe ich ganz genau, was ein Konservativer meint, wenn er von „linksgrün versifft“ spricht — und ich mag ihm da nicht mehr widersprechen, auch wenn ich dann später noch einmal ganz anders abbiege, als er es sich denkt.

Er meint damit jedenfalls schon längst nicht mehr „langhaarig“ und „ungepflegt“ (das können die Konservativen nämlich inzwischen auch — oder andersherum gesagt: unter den „Langhaarigen“ finden sich inzwischen auch nicht wenige Konservative!). Und er meint damit auch nicht mehr den Idealismus, für den ich selbst mich einmal begeistern konnte — und es freilich immer noch tue —, also den linken Idealismus, der sich bedingungslos auf die Seite der Armen und Erfolglosen stellt, oder den grünen Idealismus, der die lebendige Sphäre unseres Planeten Erde mit all seinen Lebewesen zu retten versucht: Wälder, Flüsse und Landschaftsschutzgebiete.

Gerade der Naturschutz, aber auch die Sorge um die Schwachen, möchte der Konservative von heute meist selbst verteidigen und bewahren — und engagiert sich in dieser Richtung. Daher ist es gewiss nicht diese Art von Idealismus, die er verurteilt.

Was der Konservative indessen meint, wenn er von „linksgrün versifft“ spricht, das ist jenes haltlose Handeln gegen alle Werte einer natürlichen Vernunft. Er meint diese zerstörerische Irrationalität,

  • die „Frieden!“ brüllt und Krieg praktiziert;
  • die „Freiheit!“ brüllt und Bevormundung, Propaganda, Zensur und Cancel Culture praktiziert;
  • die „Demokratie!“ brüllt und in Wahrheit Elitenherrschaft, Deep State und geheimdienstliche Verschwörungspolitik im Sinne totalitärer Staatssysteme unterstützt.

Und er meint diejenige Irrationalität,

  • die „Antirassismus!“ brüllt, dabei aber genau das Gegenteil bewirkt: ein Festhalten an rassischen und völkischen Kategorien, einen immer noch — ja, wieder — perfiden Blick auf Menschen, der an bloßen Körperlichkeiten haften bleibt und inzwischen bis in die Schulen hinein kultiviert wird. Die meisten von uns haben diesen Blick längst hinter sich gelassen — in den 1980er Jahren waren wir diesbezüglich weit entspannter, und, man muss es sagen, tatsächlich weiter als viele der heutigen „Antirassisten“.

Er meint diejenige Irrationalität,

  • die „woke!“ — also „aufgewacht“ — brüllt, dabei aber eine Benebelung sondergleichen betreibt: mit Ideologien und Pseudobegriffen wie den angeblich 80 Geschlechtern, denen jede naturwissenschaftliche Grundlage fehlt, sobald sie mehr beanspruchen wollen als psychologische Selbstbeschreibungen einzelner Menschen. Diese mögen berechtigt und respektiert sein — doch sie gehören nicht in Biologiebücher, Personalausweise oder in die Debatten um öffentliche Toiletten und Sportveranstaltungen. Das alles ist Privatsache — und darf es auch bleiben.

Und schließlich meint er diejenige Irrationalität,

  • die „aktuell und zeitnotwendig!“ brüllt und sich selbst als modern versteht, uns in Wahrheit aber in vor-humanistische, vor-aufklärerische, vor-moderne Zeiten zurückkatapultiert — in eine technokratische, transhumanistische Welt, in der der Mensch seine spirituelle Selbstbestimmung verliert und zum bloßen Untertan wird.

Was der heutige Konservative meint, wenn er „linksgrün versifft“ sagt,

  • ist tatsächlich nicht weniger als die Verabschiedung wesentlicher Werte des Humanismus und der Aufklärung,
  • ist die Abkehr von wesentlichen Grundlagen unserer Demokratie, die auf der Unantastbarkeit der Menschenwürde ruht, und
  • ist — nicht zuletzt — auch eine Absage an alles, was linke Sozialrevolutionäre und grüne Lebensreformer im 20. Jahrhundert positiv erkämpft haben: an ihre Ideen von Freiheit, Nachhaltigkeit, Eigenverantwortung und Mitgefühl. An ihre Stelle tritt eine Weltanschauung, in der das Monströse und Irrationale, das Willkürliche und Manipulative wieder Fuß fasst — eine Ideologie, die uns von außen zu steuern und zu beherrschen versucht.

Und in diesem Sinne bin ich selbstverständlich — und ohne jede Ironie — ganz und gar gegen diese Ideologie der „linksgrün Versifften“.

Aber eben, und dies müssen wir begreifen: Wir sind gegen die Ideologie der „linksgrün Versifften“, aber nicht gegen die Ideale der echten Linken und der echten Grünen! Hier müssen wir unterscheiden lernen!

Denn echte Linke — wie Ullrich Mies oder Werner Rügemer, Albrecht Müller oder Jens Berger, Klaus-Jürgen Bruder oder Hannes Hofbauer, Sahra Wagenknecht oder auch ein Yascha Mounk — schlagen allesamt die Hände über dem Kopf zusammen, wenn mit den woken Lebensvorschriften alle möglichen Arten von totalitärer Cancel Culture gerechtfertigt werden. Oder wenn im Namen von Antirassismus und Identitätspolitik der Blick so fanatisch auf rassische und nationale Herkunftsaspekte fixiert wird, dass der eigentliche Sinn verloren geht: ein unbefangener Humanismus, der alle Menschen in ihrer Individualität als gleichwertig sieht — und im offenen Gespräch das Verbindende sucht, nicht das Trennende.

Was liegt hier also vor? Es geht hier nicht um Konservative gegen Linksgrüne. Das ist die Spaltung, mit der man uns narren will. Doch wir müssen, im Sinne Erich Kästners, den Kakao, durch den man uns zieht, ja nun nicht auch noch trinken!

Zwar ist es richtig, dass sich die woke Szene aus einer bestimmten Schwäche der Linken heraus entwickelt hat — aus dem ehrlichen, aber oft unreflektierten Bedürfnis, sich der Entrechteten und Unterdrückten anzunehmen. Nur: Man schaut heute kaum noch hin, ob dieser Kampf überhaupt Sinn ergibt — und ob jene, für die er angeblich geführt wird, ihn überhaupt wollen!

Aber so, wie es auf der linken Seite Abirrungen gibt, finden wir sie auch auf der konservativen. Etwa dann, wenn man nach „starker Führung“ ruft, sich über fremde Völker und Hautfarben erhebt oder meint, man müsse notfalls doch wieder mit der angeblich „konservativen“, in Wahrheit jedoch radikal neoliberalen, technokratisch-transhumanistischen CDU paktieren.

Nein, müsst Ihr nicht! Sondern es geht darum zu begreifen: Der neoliberale Aktenkoffer-Träger ist ebenso wenig ein echter Konservativer wie die Vertreter einer linksgrün-versifften beziehungsweise woken Ideologie echte Progressive, also echte Linke bzw. Grüne sind.

Beide — Neoliberale wie Woke — verfolgen etwas völlig anderes. Sie haben sich längst von immer mehr Werten des Humanismus, der Aufklärung und der Moderne verabschiedet und führen uns in eine archaische Antimoderne, in der zerstörerische Irrationalität und Denkverbote die antiaufklärerischen Grundtugenden sind, die uns in einen streng elitär-hierarchisch organisierten, totalitären Einheitsstaat auf transhumanistischer Grundlage hineinführen: Ein System, das alles das noch weit übertreffen wird, wovor uns im 20. Jahrhundert Autoren wie Huxley, Orwell und Bradbury (3) gewarnt haben.

Gegen diesen Anti-Humanismus, gegen diese Anti-Aufklärung und diese Antimoderne dürfen sich echte Linke und Grüne und echte Konservative — auch wenn sie selbstverständlich in manchen Fragen unterschiedlicher Ansicht sind und auch weiterhin genügend Themen haben, um sich kräftig zu streiten — verbünden in dem Wissen, dass sie ein gemeinsames Wertefundament haben, welches sowohl konservative als auch (sozial)revolutionäre und (lebens-)reformerische Perspektiven enthält und auch aushält. Es verlangt von uns eigentlich nur, dass wir hier ordentlich sortieren, wer wie und wann an der Reihe ist, sich einer Thematik anzunehmen.

Das wird sich alles finden Wir müssen nur einmal begreifen, dass die „linksgrün versiffte“ Ideologie auf dem besten Weg ist, einen Zivilisationsbruch zu begehen und mit ein paar billigen Tricks und einer Unmenge an Propaganda viele Menschen dazu zu bringen, sich für sie einzusetzen. Als echte Linke, Grüne und Konservative können wir darum nur noch gemeinsam die Fundamente desjenigen Humanismus zu retten versuchen, den wir uns so mühsam über Jahrhunderte erkämpft haben.