Mercedes-Sternenstaub

Bei Daimler bluten die Arbeitnehmer, während die Aktionäre sich eine goldene Nase verdienen.

„Leistung muss sich lohnen.“ Mit diesem Grundsatz wird gern die Funktionstüchtigkeit unseres Wirtschaftssystems beschworen. Die Realität sieht oft anders aus. Leistung und Einkommen fungieren als teilweise streng voneinander getrennte Bereiche. Wer täglich hart schuftet, wird selten dabei reich; wer es dagegen zu einem Vermögen bringt, hat die Werkhallen der Firmen, in die er „investiert“, oftmals noch nie von innen gesehen. Aktionäre vereinnahmen oft mehr als ein Drittel der Gewinne eines Unternehmens für sich. Würde dieses Geld an die Arbeitenden ausgeschüttet, so wäre deren Lebensstandard spürbar besser. Zwar werden Aktiengewinne oft damit gerechtfertigt, dass die Investoren ein großes Risiko trügen — jedoch gilt dies für Arbeitnehmer, bei denen oft ihre ganze Existenz auf dem Spiel steht, nicht minder. Besonders drastische Formen nimmt diese systemische Schieflage des Kapitalismus derzeit bei Mercedes-Benz an. Der Konzern drückt seiner Belegschaft ein umfangreiches Sparprogramm auf und baut massiv Stellen ab. Gleichzeitig werden an Aktienbesitzer hohe Dividenden ausgeschüttet.

Anfang März 2025 kündigte Mercedes-Benz wegen rückläufiger Autoverkäufe ein Sparprogramm von 5 Milliarden Euro bis 2027 an. (1) Die geplanten Maßnahmen könnten laut Medienberichten den Abbau von bis zu 20.000 Arbeitsplätzen zur Folge haben. (2) Zum Vergleich: Mercedes beschäftigte Ende 2024 175.300 Arbeitnehmer, davon 114.700 in Deutschland. Die Stellen sollen ausschließlich auf freiwilliger Basis abgebaut werden. (3) Der Bonus für die Beschäftigten sinkt im Zuge der Sparmaßnahmen von 7.300 Euro pro Arbeitnehmer, in den Jahren 2023 und 2022, um 28 Prozent auf 5.220 Euro. (4) Die Beschäftigten werden zusätzlich im Zuge des Sparprogramms laut Firmenangaben 2025 und 2026 auf 50 Prozent der geplanten Tariferhöhungen verzichten. (5) Zwei Monate später, Anfang Mai wurde auf der Mercedes-Hauptversammlung beschlossen, eine Dividende von 4,14 Milliarden Euro auszuschütten. (6) Pro Mitarbeiter sind das 23.657 Euro.

Anders ausgedrückt: Wenn man die Auszahlungen statt an die Aktionäre, die zum größten Teil tausende Kilometer entfernt wohnen, an die Beschäftigten ausgezahlt hätte, die die Gewinne erarbeitet haben, dann hätte jeder der 175.300 Mitarbeiter bei Mercedes 2025 23.657 Euro Lohnerhöhung bekommen. Das sind etwa drei Monatsgehälter.

Jeder. Statt Bonuskürzung und Verzicht auf künftige Lohnerhöhungen. Aber die Aktionäre sind wichtiger als die Mitarbeiter, denn ihnen gehört das Unternehmen. Sie haben das Sagen. Nicht die Beschäftigten.

Hohe Gewinne bei Mercedes-Benz seit 2022

Seit der Abspaltung der Lastwagen-Sparte Ende 2021 hat Mercedes sehr gute Gewinne erzielt. 2022 belief sich der Gewinn nach Steuern auf 14,8 Milliarden Euro, 2023 betrug er 14,5 Milliarden, 2024 waren es 10,4 Milliarden Euro. Die Netto-Umsatzrendite beziehungsweise die Profitabilität, also die Gewinne im Verhältnis zum Umsatz, lagen in den 2022 bei 9,9 Prozent, 2023 bei 9,5 Prozent und 2024 bei 7,1 Prozent (7). Selbst die gesunkene Rentabilität von 2024 ist mit 7,1 Prozent im historischen Vergleich von Mercedes immer noch sehr hoch. (8)

Wer bekommt die Gewinne?

Aufgrund der erfreulichen Ertragslage konnte Mercedes in den letzten drei Jahren hohe Dividenden ausschütten. Für 2022 wurden 5,2 Euro Dividende pro Aktie ausgezahlt, für 2023 5,3 Euro und für 2024 4,3 Euro. Das sind, verglichen mit den letzten 15 Jahren, weit überdurchschnittlich hohe Dividenden. (9) In absoluten Beträgen waren das etwa 5,6 Milliarden Euro für 2022, knapp 5,5 Milliarden für 2023 und 4,1 Milliarden für 2024.

Dazu kamen Aktienrückkaufprogramme. In den beiden Jahren 2023 und 2024 hat Mercedes 6,8 Milliarden Euro für Aktienrückkaufprogramme ausgegeben. (10) Auch für die Folgejahre ab 2025 wurde von Vorstand und Aufsichtsrat bereits im Februar 2024 ein Aktienrückkaufprogramm in ähnlicher Größenordnung beschlossen, das auf der Hauptversammlung 2025 bewilligt werden sollte. (11)

Aktienrückkaufprogramme sind, genau wie Dividenden, eine Form der Geldausschüttung an die Aktionäre. Das Geld für die Aktienrückkaufprogramme verlässt das Unternehmen, steht also nicht mehr für künftige Investitionen oder Lohnerhöhungen zur Verfügung. Durch die Rückkäufe steigt der Aktienkurs und Aktionäre erhalten das Geld in Form von Aktienkurssteigerungen.

In Summe wurden also 2023 und 2024 aus den Geldbeständen von Mercedes folgende Beträge an die Aktionäre überwiesen: 2023 5,6 Milliarden Euro Dividende, 2024 5,5 Milliarden Euro Dividende plus 6,8 Milliarden Aktienrückkäufe ergibt 17,9 Milliarden Euro, im Durchschnitt also etwa 9 Milliarden Euro jeweils 2023 und 2024. Das sind 52.234 Euro pro Beschäftigten. (12) Anders ausgedrückt: Wenn die Ausschüttungen statt an die Aktionäre an die Arbeitnehmer geflossen wären, hätte jeder Beschäftigte bei Mercedes sowohl 2023 wie 2024 eine Lohn- oder Gehaltserhöhung um 52.234 Euro bekommen. Jeder. Vom Werker am Band bis zum Abteilungsleiter.

Wer bekam das viele Geld? Die größten Aktionäre von Mercedes sind die chinesische BAIC Group mit 9,98 Prozent aller Aktien sowie der chinesische Anleger Li Shufu, der über eine Holdinggesellschaft (Tenaciou 3) 9,69 Prozent an Mercedes hält. (13) Drittgrößter Aktieneigentümer ist die Kuwait Investment Authority mit 5,57 Prozent aller Mercedes-Aktien. Der Rest sind zum größten Teil sogenannte Institutionelle Investoren, das sind internationale Großanleger wie BlackRock, Vanguard, DWS und so weiter. 7 Prozent aller Aktien im Eigentum von institutionellen und strategischen Investoren werden von deutschen Anlegern gehalten, 93 Prozent von internationalen Eigentümern. (14) Also die meisten Aktionäre wissen vermutlich nicht so genau, wie man „Sindelfingen“ oder „Untertürkheim“ buchstabiert und dürften die Werke selten oder nie von innen gesehen haben.

Wer hat Gewinn und Wertschöpfung erarbeitet?

Mercedes beschäftigte Ende 2024 etwa 175.300 Mitarbeiter weltweit, davon 114.700 in Deutschland. (15) 2023 waren im Jahresdurchschnitt 168.300 Menschen bei Mercedes beschäftigt. (16) Die Löhne und Gehälter betrugen 2024 17.300 Millionen Euro, 2023 16.630 Millionen Euro. Die Lohn- und Gehaltssumme betrug in diesen beiden Jahren 33,9 Milliarden Euro, also etwa 17 Milliarden pro Jahr. Die Beschäftigten sind die Menschen, die die Autos geplant und gebaut haben, die die Wertschöpfung des Konzerns erbracht und für den Gewinn gesorgt haben.

Hätte man das in den letzten beiden Jahren ausgeschüttete Geld statt an die Aktionäre an die Beschäftigten von Mercedes überwiesen, hätte jeder der etwa 175.000 Mitarbeiter 53 Prozent Lohnerhöhung erhalten, sowohl in 2023 als auch in 2024. Jeder. In beiden Jahren. Anders ausgedrückt:

Man hat den Beschäftigten gut ein Drittel ihres Lohnes abgenommen, um ihn den Aktionären auszuhändigen, die die Werke selten oder nie von innen sehen.

In 2025 wurden Anfang Mai 4,14 Milliarden Euro Dividende ausgeschüttet. In welchem Umfang Aktienrückkäufe dazukommen, ist bislang nicht bekannt. Unterstellt man die Lohn- und Gehaltssumme von 2024, so entsprechen diese 4,14 Milliarden Euro 24 Prozent der Löhne und Gehälter. Anders ausgedrückt: Wäre die Dividende von Mai 2025 an die Beschäftigten geflossen, hätte jeder Arbeitnehmer von Mercedes eine Erhöhung des Jahreslohnes von 24 Prozent bekommen. Das sind drei Monatsgehälter extra. Jeder. Wenn 2025 noch Aktienrückkäufe dazukommen, fließt weiteres Geld aus den Kassen von Mercedes ab zu im Normalfall äußerst wohlhabenden Aktionären statt an die Beschäftigten, die, wie oben ausgeführt, in den nächsten beiden Jahren auf die Hälfte ihrer Lohnerhöhungen verzichten werden. Zu Gunsten der Aktionäre.

Die Dividendenausschüttungen und Aktienrückkäufe sind jedoch nicht die gesamten Erträge, die die Aktionäre bekommen. Denn von den tatsächlich erwirtschafteten Gewinnen wird immer nur ein Teil ausgeschüttet. Wie oben ausgeführt belief sich der Gewinn nach Steuern 2022 auf 14,8 Milliarden Euro, 2023 betrug er 14,5 Milliarden 2024 waren es 10,4 Milliarden Euro. 2022 und 2023 betrug die Ausschüttungsquote etwa 62 Prozent. In den beiden Jahren 2023 und 2024 belief sich der Konzerngewinn also auf 29,3 Milliarden Euro. Die Löhne und Gehälter betrugen in diesen beiden Jahren 33,9 Milliarden Euro. Von der gesamten Konzern-Wertschöpfung bekamen die arbeitenden Menschen in den beiden Jahren 2023 und 2024 53,6 Prozent, die nicht im Unternehmen arbeitenden Aktionäre 46,4 Prozent.

Anders ausgedrückt: Eine Mercedes-Ingenieurin, die in den beiden letzten Jahren 8.000 Euro im Monat verdiente, erwirtschaftete in diesen beiden Jahren 2023 und 2024 für Mercedes 14.900 Euro im Monat. Von diesen 14.900 Euro bekam sie 8.000 und die meist in weiten Fernen lebenden, meist sehr reichen Aktionäre 6.900 Euro. Für 2025 kann man die Zahlen noch nicht ausrechnen. Sicher ist, dass den Beschäftigten bis jetzt bereits drei Monatslöhne abgezogen und an die Aktionäre überwiesen wurden.

Betrachtet man also alle Gewinne, nicht nur den ausgeschütteten Teil, so wurde den arbeitenden Menschen bei Mercedes in den letzten beiden Jahren knapp die Hälfte ihres Lohnes abgenommen und den Aktionären übertragen, die meist gar nicht so genau wissen, wo die Werke eigentlich sind und was mit ihrem Geld dort genau gemacht wird.

Der Beitrag, den der Aktionär leistet, besteht darin, dass er einmalig für einen Geldbetrag Aktien kauft und dann, solange das Unternehmen existiert, einen Dividendenstrom bekommt. Kauft man ETFs (Exchange Traded Funds) (17) auf Aktienindizes, so ist dieser Dividendenstrom tatsächlich ewig. Denn jedes Mal, wenn ein Unternehmen underperformed, wird es aus dem Index entfernt und durch ein gewinnstärkeres ersetzt. Kauft man sich heute in einen Aktienindex ein, bekommt man also buchstäblich ewige Renten. Auch die Urenkel brauchen dann nur die Hand aufzuhalten beziehungsweise vom Konto abzuheben. Das sind leistungslose Einkommen in Reinform. Sie laufen ewig.

Lohn- und Gehaltsabschläge für die Beschäftigten

Wer zahlt also diese leistungslosen, passiven, Nicht-Arbeits-Einkommen für die Anleger? Die Beschäftigten. Sie bekommen einen entsprechenden Lohnabschlag, denn sonst käme ja der Gewinn für die Dividenden und Aktienrückkäufe nicht zustande. Das kann man für jedes Jahr und für jedes Unternehmen ausrechnen.

Auf diese Problematik wies Rudolf Steiner, der Begründer der Waldorfschulen, bereits 1919 hin:

„Woher kommen die Schäden im sozialen Leben? (...) Davon, (...) dass wir nicht bemerken, wie wir in der Lebenslüge leben, wie dem Arbeiter sein Teil abgenommen wird. (...) Das heißt ihn betrügen, ihn übervorteilen.“ (18)

Das bringt den Tatbestand gut auf den Punkt. Das geschieht nicht nur bei Mercedes, sondern bei allen börsennotierten Unternehmen, allerdings auch, wenn auch normalerweise in deutlich geringerem Umfang, bei fast allen Unternehmen.

Alibi für leistungslose Nicht-Arbeits-Einkommen

Alle Ausführungen dieses Artikels behandeln ausschließlich sogenannte passive Investoren, rent seeking investors. Es ist hier nicht die Rede von Unternehmerpersönlichkeiten, Entrepreneuren und start-ups und so weiter, die durch ihr Engagement enorme Risiken eingehen und riesiges Engagement investieren, sondern es ist die Rede ausschließlich von reinen sogenannten Portfolio-Investitionen — also passiven Investoren, reinen Geld-Investoren und Spekulanten.

Das Standardargument für die Existenz solcher leistungsloser Einkommen aus Dividenden und Aktienrückkäufen lautet: Diese passiven, rent-seeking Investoren übernähmen ein Risiko, das Risiko des Kapitalrückganges oder gar Totalverlustes und dafür müssten sie kompensiert werden.

Das Argument hinkt aber. Die Beschäftigten tragen auch ein Risiko, sie können bei Wirtschaftsabschwüngen entlassen werden und haben dann Probleme aller Art, wie vergangene Wirtschaftskrisen zeigen, teilweise gar Existenzprobleme, wie etwa in den Jahren 1929 bis 1932 oder 1907/1908. Auch die Krise 2008 bis 2009 war für viele Arbeitslose, für viele Familien schlimm. Für dieses Risiko fordert aber niemand eine Risikoprämie in Form eines Lohnaufschlags oder Unternehmensbeteiligungen. Dieses Arbeitslosigkeits-Risiko muss stillschweigend jeder abhängig Beschäftigte in Kauf nehmen, man sagt „that’s life“ und thematisiert die Frage der Rentier-Einkommen lieber nicht weiter, weil sie zu unbequem ist und es recht heikel wird, wenn man die Sache zu Ende denkt. Denn hierbei geht es um Machtfragen, nicht um Moral oder Ökonomie.

Letztlich liegt es an den Machtverhältnissen. Das Investorengeld ist frei, zu wandern, wohin es will, auch über Landesgrenzen hinweg und in andere Anlageformen. Die meisten Arbeitnehmer sind nicht frei. Sie müssen arbeiten, um sich oder ihre Familien zu ernähren.

John Maynard Keynes über „funktionslose Investoren“

Der vielleicht berühmteste Volkswirt John Maynard Keynes kritisierte die geschilderten leistungslosen oder Rentier-Einkommen schon 1936 in seiner wegweisenden „General Theory“ scharf:

„I see, therefore, the rentier aspect of capitalism as a transitional phase (...) that the euthanasia of the rentier, of the functionless investor, will be nothing sudden (...) so that the functionless investor will no longer receive a bonus.” (19)

Keynes sieht in dem Rentier-Kapitalismus keinen Sinn und bezeichnet Investoren, die Renten-Einkommen beziehen, als „funktionslose Investoren“ („functionless investors“), also sinnlose Investoren, die keinen Beitrag zum Wohlergehen in der Ökonomie leisten. Solche funktionslosen Investoren müssten laut Keynes verschwinden, weil sie keinen ökonomischen Zweck erfüllen und dürften nicht länger einen Bonus erhalten. Genau den bekommen aber die großen, meist äußerst wohlhabenden Aktionäre von Mercedes-Benz Group alle — und die Aktionäre aller anderen börsennotierten Aktienunternehmen auch. Sie bekommen zu Lasten der Beschäftigten ewige leistungslose, passive Nicht-Arbeits- beziehungsweise Renteneinkommen in Form von Dividenden, selbst ihre Urenkel. Wollen wir das wirklich? Ist das fair?

Auf Keynes wird heute in den wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten in diesem Punkt nicht gehört. Die Wirtschaftswissenschaften sind längst fest in der Hand neo-liberaler Ökonomietheorien. Sie predigen ständig Gewinnmaximierung, leistungslose Einkommen, und Aktionärsfreundlichkeit. Man schwört dort auf etwa 6 grundlegende weltanschauliche Axiome. (20) Wer den Schwur nicht leistet, wird nicht Professor, ja bekommt nicht einmal einen Doktortitel. In unseren wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten gibt es schon seit längerem keine wirkliche Wissenschaftsfreiheit mehr. Andere Meinungen kommen nicht mehr zu Wort beziehungsweise deren Vertreter werden nicht mehr berufen.