Missbrauchter Idealismus

Für viele ist es immer noch eine Berufung, in der Pflege zu arbeiten — dies erleichtert es aber auch, die Beschäftigten emotional zu erpressen.

Sie arbeiten zu viel, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Auch an Feiertagen. Planungssicherheit kennen sie kaum, denn wenn Kollegen ausfallen — und sie fallen oft aus —, rücken sie nach. Der Stress ist hoch. Ansprechpartner für alle und jeden sind sie ohnehin. Sie arbeiten eigentlich immer in Unterbesetzung. Und bezahlt werden sie in manchen Bereichen, in denen sie eingesetzt werden, wirklich äußerst schlecht. Man muss nicht lange raten, um wen es geht: um die Pflegekräfte. Wir sind uns als Gesellschaft natürlich einig, dass man diese Frauen und Männer besser behandeln müsste. Daher ja auch der Applaus zu Anfang der Pandemie. Etwaige Pflegeboni, die es in den letzten beiden Jahren gab, gönnt man ihnen natürlich auch. Denn Pflegekräfte sind in jeder Beziehung Opfer der Umstände. Ausgebeutet und ausgelutscht. Klar, dass man sich da solidarisch zeigt. Aber hat den Betroffenen die offensichtliche Wichtigkeit ihres Berufsstands bisher irgendetwas gebracht? Eher im Gegenteil: Arbeitgeber unterdrücken jede Regung der Selbstbehauptung mit dem Argument, jemand müsse schließlich die Patienten versorgen und nur ein Unmensch könne diese im Stich lassen.

Die Ohnmacht eines an sich mächtigen Berufszweiges

Ist das aber so? Sind Pflegekräfte per se Opfer? Oder fragen wir anders: Müssen sie es sein? Gäbe es für sie keinen anderen Weg? Diese Fragen zu stellen, gilt in einer Gesellschaft, in der jeder irgendwie Opfer ist, als Frevel. Dass wir in dieser „Opferfalle“ sitzen, hat der Literaturwissenschaftler Daniele Giglioli schon vor etlichen Jahren angemahnt. Die Lust, sich als Opfer zu sehen, so findet er, macht ohnmächtig. Der Viktimisierte wird zu einem herumgeschubsten Subjekt degradiert, das nicht mehr selbst Herr der Handlung ist. Wie will man so für eine bessere Zukunft, Akzeptanz oder Verbesserung eintreten?

Gerade bei den Pflegekräften müsste man ja von ganz anderen Prämissen ausgehen. Schließlich haben wir es mit einem Beruf zu tun, dessen Tätigkeiten begehrt sind. Der Fachkräftemangel in der Pflege müsste eigentlich dafür sorgen, dass diese Berufsgruppe von den Arbeit- und Dienstgebern auf Händen getragen wird.

Grundsätzlich taugen die Pflegekräfte also gar nicht als Opfer, weil sie eigentlich am längeren Hebel sitzen könnten, wenn sie denn wollten.

Dennoch scheint es, als sei dem nicht so. Krankenhäuser gehen wenig wertschätzend mit den Männern und Frauen in diesem Beruf um. Pflegedienstleitungen exekutieren Dienstpläne durch, die derart auf Kante genäht sind, dass bereits ein erkrankter Kollege die Planung über den Haufen wirft. Wer protestiert, wer Überlastungsanzeigen schreibt, darf lang und breit Rechenschaft darüber ablegen, woher er eigentlich die Zeit nimmt, solche infamen Hilferufe abzusetzen. Ich unterlasse es jetzt tunlichst, das Thema Impfpflicht für medizinisches Personal anzusprechen. Aber dass diese Vorgabe auch bei vielen Pflegekräften nicht als Zeichen der Wertschätzung angesehen wird, kann man vielleicht verstehen.

Selten war ein so systemrelevanter Job so wenig geachtet. Als ich vor Jahren meinen Dienst in einem Krankenhaus antrat — nicht als Pfleger —, rätselte ich schon vorher, wie es zu so einem Pflegenotstand kommen konnte. Schnell war mir klar, woher diese Diskrepanz kam: Der Pflegeberuf scheint mit einer großen Portion an Gutmütigkeit und Empathie verbunden zu sein. Klar, wer eine solche Tätigkeit ausüben will, der muss diese Eigenschaften in die Wiege gelegt bekommen. Raffzähne und Egomanen handeln mit Aktien und wechseln keine Blasenkatheter. Fast nie lehnten sie einen Vertretungsdienst ab, selten meldeten sie Überlastung an. Irgendwie stemmten sie ihren Arbeitsalltag schon. Augen zu und durch.

Sprachbarriere und ein Beruf, der emotionalisiert wird

Schließlich gehe es ja um Menschen, um die Patienten, die versorgt werden müssten. Da könne man nicht kleinlich sein. Irgendwie schaukelt man sich dann durch den Stress. Überhaupt ist dieses Irgendwie so ein Wort aus der Mangelversorgung heraus. Jeder, der sagt, es gehe schon „irgendwie“, verwaltet letztlich nur einen untragbaren Zustand und verlängert ihn damit — irgendwie. Aber in der Pflege hat man im wahrsten Sinne des Wortes keine Zeit, darüber zu sinnieren; manchmal stecken einem schon acht, neun Dienste am Stück und ohne freien Tag dazwischen in den Knochen.

Das Verhältnis zwischen Patienten und Pflege taugt damit ja immer auch zur emotionalen Erpressung.

Jede dienstliche oder arbeitsrechtliche Verfehlung seitens des Dienstgebers lässt sich recht praktisch mit einem Hinweis auf die Patientenversorgung aushebeln. Wer trotzdem noch aufmuckt, muss ja fast ein Unmensch sein, dem die Patientensicherheit nicht am Herzen liegt.

Da hält man dann lieber vorsorglich den Mund und lässt die Pflegehölle aus Stress, Überarbeitung und Arbeitsrechtverstößen über sich ergehen.

Einen Punkt, weswegen sich Pflegekräfte viel zu viel gefallen lassen, nicht laut und deutlich Nein sagen, darf man allerdings nicht unter den Tisch fallen lassen. Natürlich sind es zum einen die Empathie und das soziale Gewissen, das ganz besonders in dieser Berufssparte ausgeprägt ist. Ein anderer Faktor ist, dass viele in der Pflege arbeitende Menschen schlicht und einfach nicht richtig, ja teilweise gar kein Deutsch sprechen. Die Sprachbarriere macht sie zu wehrlosen Protagonisten in dieser Szenerie. Diese Leute sind teilweise froh, einfach nur einen Arbeitsplatz gefunden zu haben. Also schweigen sie, auch wenn es schmerzt. Welche Rechte sie haben, ahnen sie in der Regel nicht. Das deutsche Arbeitsrecht ist ihnen eher nicht bekannt.

Wer jetzt an die patente, selbstbewusste Krankenschwester aus Polen denkt, liegt falsch und hinkt der Zeit nach. Die wird schon lange nicht mehr für das deutsche Gesundheitswesen rekrutiert. In ihrer Heimat verdient sie nicht so viel schlechter. Und ihr Beruf wird dort auch höher geschätzt als bei uns. Viele Pflegekräfte kommen mittlerweile von außerhalb Europas. Aus Ländern, in denen Individualrechte nur sehr bedingt bekannt sind. Diese Menschen sind für ihr Arbeitsleben in Deutschland vorkonditioniert, halten es für völlig normal, dass Arbeitskraft ohne viel Rücksichtnahme ausgebeutet wird.

Berufsethos statt Berufungsegos

Nichtsdestotrotz sagen viele Nein, die vielleicht kurzzeitig mit einer Berufskarriere in der Pflege liebäugeln. Und zwar schon ganz am Anfang. Es gibt bekanntlich zu wenige Menschen, die sich für diesen Beruf entscheiden. Dieser Fachkräftemangel in der Pflege bewirkt ja dann auch, dass man Arbeitskräfte aus dem Ausland holt. Die Bundesregierung hat schon lange erkannt, dass man die Berufswahl in diesem Zweig unterstützen muss. Immer wieder heuern sie sogenannte Pflegehelden an und betonen, dass diese etwas Gutes, etwas Sinnvolles tun.

Sie spielen die emotionale Karte, statt die Arbeitsbedingungen dort zu verbessern und Dienst- und Arbeitgeber strenger an die Kandare zu nehmen.

Regelmäßig wird im Kontext dieser Berufswahl mit der Berufung hantiert. Sie ist es ja, so stellt man heraus, die Menschen in diesen Job treibt. Ganz falsch ist das nicht. Aber eine Berufung scheint in einer Arbeitswelt wie der unseren so völlig aus der Zeit gefallen. Eine Tätigkeit auszuüben, weil sie einem am Herzen liegt, ist freilich grundsätzlich begrüßenswert. Wenn jedoch diese Herzensangelegenheit zum zentralen Wesensmerkmal erklärt wird, und das in einer Berufswelt, in der mehr und mehr das Herz verloren geht, dann werden da die Tore für emotionale Erpressbarkeit und Empathie-Ausbeutung geöffnet.

Es ist schon lange an der Zeit, dass auch der Pflegeberuf in dieser traurigen Wirklichkeit ankommt und sich als Beruf definiert — und nicht als Berufungsmarkt. Letzteres ist eine Einbahnstraße, sie führt dazu, dass sich die schlimme Situation des Berufsstandes verewigt und nicht etwa endlich verbessert. Leute, die einen Beruf ausüben, trennen normalerweise Dienst und Privatleben grundsätzlich. Bei einer Berufung ist das schon schwieriger, denn wer sich berufen fühlt, möchte sich nur ungerne an Arbeits- oder Dienstzeiten binden.

Mir ist durchaus klar, dass das als eine Aufforderung zur Kälte und zur Herzlosigkeit verstanden werden kann.

Aber warum zum Henker etabliert man ausgerechnet diesen nervenaufreibenden Beruf zu einem Liebesdienst am Nächsten, während rundherum die Arbeitswelt immer mehr zu einem Ort wird, in dem es an Nächstenliebe oder auch nur an grundsätzlichen Respektsregeln mangelt?

Ja, selbst im Gesundheitswesen werden Pflegekräfte nicht mit Anstand behandelt, sondern klein gehalten und bald schon entlassen, wenn sie nicht mitspielen. Die Reduzierung auf die Nächstenliebe ist die eigentliche Crux dieses Berufungsberufes. Sie lässt zu, dass man so vieles mit sich machen lässt und manipulierbar ist.