Mit deutscher Gründlichkeit

Wir können mehr als Autos bauen, wenn wir uns an die hohen Werte unserer Nation erinnern.

Keine Frage: Deutschland hat eine Menge drauf. Wirtschaftlich und technisch spielen wir bei den ganz Großen mit. Was wir machen, das machen wir gut. Schade nur, dass wir hierbei die Poesie vergessen haben, die Fantasie und den Mut zum eigenständigen Denken. Wenn wir uns daran erinnern, können wir richtig viel bewirken.

Was wir tun, das tun wir richtig. In vielen Disziplinen steht Deutschland an der Spitze. Nicht nur im Fußball sind wir top. Bereits während des Kaiserreichs entwickelten wir uns zu einer führenden Industrienation, deren Geburtshelfer bis heute ihren festen Platz haben auf dem Spielfeld der Großen: Deutsche Bank, Thyssen Krupp, Siemens, Bayer und BASF sind Namen, die jeder kennt. Trotz Dieselskandal steht Volkswagen unangefochten an der Weltspitze der Autoindustrie, gefolgt von Unternehmen wie Daimler, Allianz, BMW, Bosch und Deutsche Telekom — ganz nah an den globalen Supergiganten Walmart, Amazon, Apple und Microsoft und der chinesischen Konkurrenz.

Keine Frage: Wir sind Weltklasse. Deutschland spielt eine entscheidende Rolle auf der ganz großen Bühne. Unaufhörlich haben wir uns an der Seite des großen Bruders emporgearbeitet, unerbittlich den Orchestergraben durchpflügt, bis wir es geschafft hatten, wenn nicht die erste Geige zu spielen, so doch immerhin den Ton mit anzugeben. Als Global Player haben wir den Ruf, besonders fleißig zu sein, besonders gründlich, besonders verlässlich.

Während unsere französischen Nachbarn schon murren, wenn sie bis 62 Jahre arbeiten müssen, sind wir bis zu unserem 67. Lebensjahr auf Zack. Wenn andere längst schlappgemacht haben, krempeln wir noch die Ärmel hoch. Die dazugehörende Disziplin haben wir gewissermaßen mit der Muttermilch aufgesogen. Arbeit ist Arbeit. Schnaps ist Schnaps. Befehl ist Befehl. Regeln sind dazu da, um befolgt zu werden.

Die Rückkehr der alten Gespenster

So konnte es geschehen, dass wir heute, obwohl wir doch meinten, aus unseren geschichtlichen Ausrutschern gelernt zu haben, erneut eine Diktatur aus der Traufe heben. Während die meisten so tun, als merkten sie es nicht, sind sie alle wieder da: die Zensur, die Propaganda, die ausgehebelten Grundrechte, die eingeschränkte Meinungsfreiheit, der Gleichschritt, die Amtssprache, dieses Mal mit englischem Touch, der Reinlichkeitskult, die Ausgrenzung, die Diskriminierung und die Denunzianten, die darauf aufpassen, dass wir auf Linie bleiben. Denn wo kämen wir hin, wenn alle machen würden, was sie wollen?

Während wir noch die Zustände in Ländern tadeln, deren Führungen Demonstrationen auflösen und Regierungskritiker verfolgen, marschieren wir unverzagt dem chinesischen Vorbild entgegen. Die neuen Ermächtigungsgesetze — Verzeihung: „Gesetze zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ (1) — sorgen dafür, dass wir nachts das Haus nicht mehr verlassen und praktisch nichts mehr tun, was uns anderen Menschen nahebringt. Außer in vollen Bussen und Bahnen zur Arbeit zu fahren dürfen wir so gut wie nichts mehr. Das ist Vernunft. Das gibt Sicherheit. Das fördert die Gesundheit.

Wie es euch gefällt

In meiner Wahlheimat Frankreich geht es etwas weniger streng zu. Natürlich: Auch hier herrschen Ausgangssperren, Maskenpflicht und Impfdruck, auch hier gibt es Zensur und Propaganda, Staatsfunk und Einheitsmedien und die systematische Vernichtung von Orten, an denen sich Menschen treffen und austauschen können. Wir sind in Europa. Auch in Frankreich wird diffamiert und denunziert. Auch hier gibt es Menschen, die auf hysterische Weise ihr Recht verteidigen, sich das freie Atmen verbieten zu lassen.

Doch etwas läuft anders im Land der vielen Käsesorten und guten Weine, das einst von Charles de Gaulle für unregierbar erklärt wurde. Ich habe mich oft darüber geärgert, dass hier ein Ja nicht unbedingt ja und ein Nein nicht unbedingt nein bedeutet, dass es so viele Regeln gibt und so viele Ausnahmen und dass man sich nie sicher sein kann, was im Moment eigentlich gilt. Doch hier sind Regeln dazu da, um übertreten zu werden. Man respektiert die Geschwindigkeitsbegrenzung dort, wo der Blitzer steht, und gibt Gas, kaum dass er außer Reichweite ist. Es ist die Angst vorm Gendarmen, die für Disziplin sorgt.

Ich will mich nun nicht für Raser und Steuerhinterzieher starkmachen. Doch in diesen Zeiten empfinde ich den Hang zum Schummeln als einen Segen. Es ist schwierig, ein Volk in den Gleichschritt zu bringen, in dem alle durcheinanderreden und sich alles ums Essen dreht.

Das lässt man sich nicht ausreden. Auch wenn von ministerieller Stelle angeraten wurde, dass Oma und Opa das traditionelle Weihnachtsdessert in der Küche einnehmen und frisch zu Ostern eine neue Ausgangssperre beschlossen wurde: Ich kenne beglückend viele Menschen, die sich nicht daran gehalten haben.

In meinem französischen Umfeld gibt es mehr Fantasie als Disziplin, mehr Eigensinn als Folgsamkeit. Viele machen, was sie wollen. Vielerorts nicht einmal mehr heimlich. Selbst die Gendarmen scheinen die Nase voll zu haben — ras le bol! Nur noch bisweilen gibt es Stichproben, um die Leute daran zu erinnern, dass der Ausnahmezustand herrscht. Wer sich informiert hat, der trägt die Maske nicht, denn er weiß, dass es illegal ist, Menschen dazu zu zwingen, sich mit Streptokokken zu infizieren und die Sauerstoffzufuhr des Gehirns zu behindern.

Viele Menschen gehen hinaus und organisieren kleine und große Demonstrationen, kleine und große Flashmobs: Danser encore! (2). Während oben alles Mögliche beschlossen wird, geht unten das Leben weiter. Ganz einfach. Man muss es einfach nur tun. Es ist wie mit dem Elefanten, dessen Fuß man von klein auf an einen Holzpflock bindet, damit er auch als erwachsenes Tier nicht wegläuft. Die Gefangenschaft dauert so lange, bis der Gefangene dahinterkommt, dass er viel stärker ist und einfach nur den Fuß heben muss und sich in Bewegung setzen.

Beschnittene Flügel

Nun gehören Elefanten nicht zum europäischen Alltag. Wir haben andere Tiere. Wie heißt noch einmal das auf der deutschen Fahne? Das mit den Federn? Ich habe mich nie besonders für dieses Staatssymbol interessiert, wie für nichts, das irgendetwas mit Patriotismus oder Heimatliebe zu tun hat. Während die Marseillaise ungehemmt mit bluttriefender Standarte zu den Waffen ruft, traue ich mich kaum zu sagen, dass ich zum Beispiel bestimmte „Volkslieder“ wirklich sehr schön finde.

Ich will mich nun nicht als Heino-Fan outen, sondern an eine Geschichte erinnern, die sich auf einem Hühnerhof abspielte: Emsig kratzt und gackert es hier, als ein aufmerksamer Besucher zu seinem Erstaunen inmitten der Hühnerschar einen ausgewachsenen Adler erblickt. Wie die Hühner um ihn herum scharrt und kratzt er auf dem Boden. „Warum fliegt er nicht weg?“ fragt der Mann. „Er wurde hier ausgebrütet und weiß nicht, dass er fliegen kann.“

Doch ich weiß, dass Adler fliegen können. Ich weiß, was für schöne, großartige und majestätische Tiere das sind. Nicht, wenn es darum geht, Stahl zu schmieden, anderen gute Ratschläge zu geben und ihnen gönnerhaft ein paar Wohlstandsbrocken zuzuwerfen. Der Adler ist stark und frei, nicht überheblich. Er schert sich nicht um Versicherungen und AHA-Formeln. Adler fliegen. Sie sehen die Welt von oben und haben den Überblick, den wir vor langer Zeit verloren haben.

Einigkeit und Recht und Freiheit?

Es ist an uns zu entscheiden, ob wir als Hofkratzer weiterleben, bevor wir zum Schlachtblock geführt werden, oder ob wir unsere Schwingen ausbreiten und uns daran erinnern, was alles in uns steckt. Wir haben mehr drauf als Zuverlässigkeit, Disziplin und technisches Know-how, mehr als Oktoberfest, Weihnachtsmärkte und leckere Bratwurst. Große Vorbilder durchziehen unsere Geschichte: Pioniere und Wagemutige, Entdecker und Erfinder, Schöngeister und kluge Köpfe, Künstler und Lebenskünstler, Freigeister und Revolutionäre. Ja, und auch Querdenker gab es, Menschen, die sich nicht einverstanden zeigten mit dem Status quo und die die Dinge in Bewegung brachten.

Unsere Geschichte hat nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen, auch wenn mancher es vielleicht gerne so hätte. So tief ist die Scham über das Geschehene, dass wir uns zwischen Schuldgefühlen und Überheblichkeit verloren haben und aus dem Gleichgewicht geraten sind. Wir haben uns verirrt.

Wo ist sie heute, die Einigkeit im deutschen Volk? Wo ist das Recht in diesem Staat? Wo ist die Freiheit geblieben? Was tun wir denen an, die dafür gekämpft haben? Was tun wir uns selbst an und denen, die uns folgen, so es sie denn geben wird?

Keine Deutschtümelei spricht aus diesen Worten und keine potenzielle AfD-Wählerin, sondern die tiefe Traurigkeit um den Verlust der höchsten Werte, die wir uns gegeben haben. Wo ist die Schönheit, die Poesie, die Freude? Sprechen sie aus einer einzigen der Entscheidungen, die im Zusammenhang mit Corona getroffen wurden? Gibt es auch nur ein einziges Licht in diesem Theater? Einen einzigen Hinweis auf die Symbole, die uns leiten, auf die unantastbare Würde des Menschen? Auf unsere Fähigkeiten, die dem Höchsten Ehre erweisen, das uns ausmacht?

Neues Vertrauen

Bedrückt und gleichzeitig beglückt sehe ich aus der Ferne, was in meinem Land geschieht. Auf der einen Seite stehen die Angst und ihre Komparsen und alles, was uns krank macht: Zwang, Distanz, Isolation, Barrieren, Verbote, Kontrollen, Freiheitsbeschneidungen, Ausgrenzungen, Schuldzuweisungen, Verrat, Gewalt. Während woanders geschludert wird, machen wir unseren Job besonders gründlich. Bei uns gibt es keine halben Sachen. Was wir angefangen haben, das ziehen wir durch. Wir schaffen das!

Parallel hierzu hat sich längst eine andere Bewegung gebildet, die die Angstkruste durchbricht und die krankmachende Trennung auflöst. Hier geht es um das mutige Einstehen für die Rechte aller (3), um Vertrauen, Nähe, Gemeinschaft und Verständnis, um Begegnung, Freundschaft und Liebe. Auch wenn die Gehversuche bisweilen wacklig sind und wir zwischen Ideal und Realität, Vision und Alltag ins Straucheln kommen: Immer mehr Menschen gelingt es, nicht auf den Angstwellen mit zu surfen.

Diese Menschen lassen sich durchdringen von einem Geist, der ihnen Ruhe im Sturm gebietet und Zuversicht gibt. „Halt inne“, sagt er. „Lass ab davon, die Menschen ändern zu wollen. Stehe für deine Werte ein. Lerne es, einen Raum in dir zu öffnen, in dem der Wandel sich vollziehen kann.“ Das funktioniert nicht auf Biegen und Brechen mit missionarischem Eifer oder mit Waffengewalt, sondern aus sich heraus.

Wegweisende Federn

Das neue Leben, das gerade auf die Welt kommt, braucht neben Ausdauer vor allem Feingefühl und Orte, wo es sich entwickeln und ausbreiten kann. Keine Hauruckverfahren sind notwendig, um ein Gebilde zum Einstürzen zu bringen. Eine einzige Feder kann dazu ausreichen, wie in der Kunst der Sanddorn Balance (4). Die Veränderung vollzieht sich mit der Ausdauer eines Tropfens, der den Stein höhlt, und dem kühnen Mut eines Grashalmes, der den Asphalt durchdringt.

Erinnern wir uns an das Außergewöhnliche, das uns innewohnt, an das Mögliche, das Potenzial. Denken wir an die großen Geister in unserer Geschichte, die mit der Feder umgehen konnten. Erinnern wir uns an die Poesie. Erweisen wir ihr Ehre und verlassen die vorgepflügten Furchen. Werden wir lebendig. Lassen wir die zu Wort kommen, die unsere Kultur auf subtile Weise prägten und die uns heute ermuntern: Gebt der Welt Gelegenheit, bei Deutschland nicht an Gleichschritt zu denken, sondern an eine Nation, die entscheidend daran mitgewirkt hat, der Welt ein friedliches Gesicht zu geben.

Im Grenzenlosen sich zu finden,
Wird gern der Einzelne verschwinden,
Da löst sich aller Überdruss;
Statt heißem Wünschen, wildem Wollen,
Statt läst‘gem Fordern, strengem Sollen
Sich aufzugeben ist Genuss.

 
Weltseele, komm‘ uns zu durchdringen!
Dann mit dem Weltgeist selbst zu ringen
Wird unsrer Kräfte Hochberuf.
Teilnehmend führen gute Geister,
Gelinde leitend, höchste Meister,
Zu dem, der alles schafft und schuf.

 
Und umzuschaffen das Geschaffne,
Damit sich‘s nicht zum Starren waffne,
Wirkt ewiges lebend‘ges Tun.
Und was nicht war, nun will es werden
Zu reinen Sonnen, farbigen Erden,
In keinem Falle darf es ruhn.

 
Es soll sich regen, schaffend handeln,
Erst sich gestalten, dann verwandeln;
Nur scheinbar steht‘s Momente still.
Das Ewige regt sich fort in allen:
Denn alles muss in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.

Johann Wolfgang von Goethe „Eins und alles“ (5).


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Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/gesetze-und-verordnungen.html
(2) https://www.rubikon.news/artikel/der-ball-ist-eroffnet
(3) https://www.rubikon.news/artikel/gute-nachrichten-2
(4) https://www.youtube.com/watch?v=jSDGaQO4ssk
(5) In dem Projekt Deutsche Lyrik kann man sich mehr als 1.500 Gedichte aus 800 Jahren vorlesen lassen: https://www.deutschelyrik.de/home.html