Monolog eines Virus

Corana will uns helfen, die katastrophalen Fehlentwicklungen unserer Kultur zu korrigieren.

„Ich bin gekommen, um die Maschine aufzuhalten, deren Notbremse ihr nicht fandet.“ Über das Virus spricht derzeit jeder, mit ihm jedoch niemand. Würde man Corona selbst zu Wort kommen lassen, was würde „sie“ über ihre Absichten und den Sinn der Krise zum Besten geben? Ein interessantes Gedankenexperiment, das überraschende Einsichten zutage fördert.

Liebe Menschen, unterbindet doch Eure lächerlichen Aufrufe zum Krieg. Werft nicht mehr diese Racheblicke auf mich. Löscht die Aura des Schreckens, mit der Ihr meinen Namen schmückt. Wir Viren sind das wahre Kontinuum des Lebens auf Erden. Ohne uns wäret Ihr nie entstanden, genauso wenig wie die erste Zelle.

Wir sind Eure Vorfahren wie die Steine oder die Algen, weit mehr als die Affen. Wir sind überall, wo Ihr seid und auch da, wo Ihr nicht seid. Euer Pech, wenn Ihr in der Welt nur das seht, was Euch ähnelt! Aber, vor allem, hört bitte auf zu sagen, dass ich es sei, der Euch tötet. Ihr sterbt nicht durch mein Wirken auf Euer Gewebe, sondern durch die Abwesenheit von Sorge unter Euresgleichen. Wäret Ihr nicht so habgierig untereinander gewesen, wie Ihr es mit allem, was auf diesem Planeten lebt, wart, hättet Ihr noch genügend Betten, Krankenschwestern und Beatmungsgeräte, um die Schäden, die ich in Euren Lungen anrichte, zu überleben.

Würdet Ihr Eure Alten nicht in Sterbeheime stecken und Eure Arbeitstüchtigen in betonierten Hasenkäfigen unterbringen, wäret Ihr sicher in einer anderen Situation. Hättet Ihr nicht die früher noch so üppige, chaotische, so bunt bevölkerte Welt oder eher Welten in eine riesige Wüste verwandelt, wo nur die Monokulturen des Sichselbstgleichens und des Immermehrs gedeihen, hätte ich mich nicht auf meinen Eroberungsfeldzug Eurer Lungen begeben können. Wenn Ihr nicht fast alle — seit Anfang des letzten Jahrhunderts und bis heute — redundante Abdrucke einer gleichen und unhaltbaren Lebensform geworden wäret, würdet Ihr Euch nicht darauf vorbereiten, wie im zuckrigen Wasser der Zivilisation plätschernde Fliegen zu sterben. Wenn Ihr Eure Lebenswelten nicht so leer, so durchsichtig, so abstrakt gemacht hättet, würde ich mich nicht mit der Geschwindigkeit eines Ultraschallfliegers bewegen, das könnt Ihr mir glauben.

Ich komme nur die Strafe ausführen, die Ihr seit langem gegen Euch selbst ausgesprochen habt.

Vergebt mir, aber Ihr seid es, wenn mich nicht alles täuscht, die Ihr den Namen „Anthropozän“ erfunden habt. Ihr habt Euch eine Ehre aus der Katastrophe gemacht; jetzt, wo diese sich erfüllt, ist es zu spät, einen Rückzieher zu machen. Die Ehrlichsten unter Euch wissen es wohl: Ich habe keinen anderen Mittäter als Eure soziale Struktur, Euren flächendeckenden ökonomischen Wahnsinn, Euren Systemfanatismus. Nur die Systeme sind „anfällig“. Alles andere lebt und stirbt. „Anfällig“ ist nur, wer Kontrolle erheischt und diese verbreiten und verfeinern will. Seht mich an: Ich bin nur die Kehrseite der Herrschaft des Todes.

Hört also auf, mich zu rügen, mich zu beschuldigen, mich zu verfolgen. Gegen mich zu erstarren. Das alles ist kindisch. Ich schlage Euch eine andere Auffassung vor, einen Perspektivwechsel: Es gibt eine immanente Intelligenz des Lebens. Es braucht kein Subjekt, um über ein Gedächtnis oder eine Strategie zu verfügen. Es braucht keine Souveränität, um Entscheidungen zu treffen. Bakterien und Viren können auch das Sagen haben. Seht also in mir Euren Retter und nicht Euren Totengräber. Es ist Euch überlassen, mir das nicht abzunehmen, aber ich bin gekommen, um die Maschine aufzuhalten, deren Notbremse ihr nicht fandet.

Ich bin gekommen, um das normale Funktionieren zu beenden, das Euch festhielt. Ich bin gekommen, um den Irrsinn der sogenannten Normalität aufzudecken. „Unsere Ernährung, unseren Schutz, unsere Fähigkeit, für unseren Lebensrahmen zu sorgen, an andere zu delegieren, war verrückt“ ... „Es gibt keine haushaltliche Obergrenze, die Gesundheit hat keinen Preis“: Seht wie ich die Sprache der Mächtigen und das Denken der Regierenden zum Stottern bringe! Seht, wie ich diese arroganten Schnösel zur eigenen elenden Realität zurückbringe! Seht, wie sie sich selbst nicht nur als überflüssig, sondern auch als schädlich entpuppen! Ihr seid für sie nur die Träger der Reproduktion ihres Systems, also weniger noch als Sklaven. Selbst das Plankton wird besser behandelt.

Hütet Euch aber, sie mit Vorwürfen zu überhäufen, ihre Unzulänglichkeiten anzuprangern. Sie der Fahrlässigkeit zu beschuldigen, bedeutet ihnen mehr Macht zu verleihen, als sie verdienen. Fragt Euch lieber, wieso Ihr es so bequem empfinden konntet, regiert zu werden. Die Vorzüge der chinesischen Option gegen die britische Option zu loben, die imperial-legalistische Fassung gegen die liberal-darwinistische, das ist der beste Weg, das Schreckliche der beiden zu missverstehen. Seit François Quesnay haben die „Liberalen“ immer neidisch auf das chinesische Reich geschaut, und sie tun das heute immer noch. Sie sind siamesische Zwillinge.

Wenn der eine uns zu unserem eigenen Besten in die Hausquarantäne einsperrt und der andere in die Quarantäne der „Gesellschaft“, kommt das auf das Selbe heraus, nämlich die einzige, nicht nihilistische Handlungsweise zu unterdrücken: sich zu kümmern, um sich selbst; um die, die man liebt und um das, was man liebt, bei denen, die man nicht kennt. Lasst diejenigen, die Euch in den Abgrund geführt haben, nicht behaupten, Euch aus diesem wieder herauszuführen: Sie würden Euch nur eine noch perfektioniertere Hölle, ein noch tieferes Grab vorbereiten. An dem Tag, wo sie es könnten, würden sie das Militär im Jenseits patrouillieren lassen.

Dankt mir also lieber. Wie lange noch hätte man ohne mich all diese Sachen, die nicht zur Diskussion standen, als notwendig dargestellt, von denen man heute auf einmal die Aufhebung per Dekret anordnet? Die Globalisierung, die Wettbewerbe, der Flugverkehr, die haushaltlichen Obergrenzen, die Wahlen, die sportlichen Ereignisse, Disneyland, die Fitnessstudios, die meisten Geschäfte, die Nationalversammlung, die schulische Einkasernierung, die Massenveranstaltungen, die Mehrheit der Bürojobs, diese trunkene Geselligkeit, die nur die Kehrseite der angstvollen Einsamkeit der metropolitanen Monaden ist: Das alles war also ohne Notwendigkeit, wenn sich ein Notstand einrichtet.

Dankt mir für die Wahrheitsprobe der nächsten Wochen: Ihr werdet endlich Euer eigenes Leben leben können, ohne die tausend Ausreden und Ausflüchte, die jahraus, jahrein das Unhaltbare halten lassen. Ohne Euch darüber im Klaren zu sein, habt Ihr Euch nie in Eurer eigenen Existenz eingerichtet. Ihr lebtet zwischen Kartons und wusstet es nicht. Nun werdet Ihr mit den Euch Nahestehenden leben. Ihr werdet zu Hause leben. Ihr werdet aufhören, auf der Transitstrecke Richtung Tod zu sein. Ihr werdet vielleicht Euren Ehemann hassen. Eure Kinder werden Euch vielleicht extrem nerven. Vielleicht werdet Ihr Lust haben, den Dekor Eurer alltäglichen Lebensgewohnheiten zu sprengen.

Um ehrlich zu sein, wart Ihr nicht mehr auf der Welt, in diesen Metropolen der Trennung. Eure Welt war in allen ihren Dimensionen nur mehr unter der Bedingung erträglich, ohne Ende zu flüchten. Man musste bis zur Besinnungslosigkeit immer in Bewegung bleiben und sich ständig zerstreuen, so groß war die allgegenwärtige Hässlichkeit. Etwas Gespenstisches herrschte zwischen den Menschen. Alles war dermaßen effizient geworden, dass nichts mehr eine Bedeutung hatte. Dankt mir dafür und willkommen auf der Erde!

Dank mir werdet Ihr für eine unbegrenzte Zeit nicht mehr arbeiten, Eure Kinder werden nicht mehr zur Schule gehen, und dennoch wird es das Gegenteil von Urlaub sein. Der Urlaub ist diese Zeit, die man um jeden Preis ausfüllen muss vor der geplanten Rückkehr an die Arbeit. Aber was sich jetzt vor Euch eröffnet, dank mir, ist eine unbestimmte Zeit, eine klaffende Unterbrechung. Ich deaktiviere das Werken. Nichts sagt Euch, dass die Un-Welt von früher zurückkehren wird. Diese ganze profitable Sinnlosigkeit wird vielleicht aufhören. Wenn man nicht mehr bezahlt wird, was wird näherliegen, als seine Miete nicht mehr zu bezahlen? Warum sollte derjenige, der nicht mehr arbeiten kann, der Bank noch Rückzahlungen machen? Ist es letztendlich nicht suizidär, dort zu leben, wo man nicht einmal einen Garten anbauen kann? Wer kein Geld mehr hat, wird deshalb nicht mit dem Essen aufhören, und wer das Eisen hat, hat das Brot.

Dankt mir: Ich habe Euch vor die Abzweigung gebracht, die stillschweigend Euer Leben strukturierte: die Ökonomie oder das Leben.

Nun seid Ihr am Zuge. Der Einsatz dieses Spiels ist historisch hoch. Entweder setzen die Regierenden ihren Ausnahmezustand durch, oder Ihr erfindet Euren eigenen. Entweder Ihr nehmt die Wahrheiten, die heute aufkommen, ernst, oder Ihr legt Euren Kopf auf den Richtblock! Entweder Ihr nutzt die Zeit, die ich Euch jetzt gebe, um die Welt danach anhand der Lehren des gegenwärtigen Einsturzes zu bilden, oder dieser wird sich verschärfen. Die Katastrophe endet, wenn die Ökonomie endet. Die Ökonomie ist die Verheerung. Das war bis vorigen Monat eine These, jetzt ist es eine Tatsache. Niemand kann leugnen, welches Ausmaß an Polizei, Überwachung, Propaganda, Logistik und Homeworking es brauchen wird, um diese Wahrheit zu verdrängen.

Verfallt mir gegenüber nicht in Panik oder Verneinung. Gebt nicht der biopolitischen Hysterie nach. Die kommenden Wochen werden schrecklich, belastend, grausam sein. Die Todespforten werden weit geöffnet sein. Ich bin die größte Verheerung der Verheerung, die die Produktion darstellt. Ich werde die Nihilisten in ihr eigenes Element zurück verfrachten. Niemals wird die Ungerechtigkeit der Welt offenkundiger sein. Es ist eine Zivilisation, die ich begraben komme, nicht Euch. Diejenigen, die leben wollen, werden neue, ihnen eigene Gewohnheiten entwickeln müssen. Mir aus dem Weg zu gehen, wird die Gelegenheit sein, eine neue Kunst der richtigen Distanz zu erfinden. Die Kunst einander zu grüßen, die man sogar als Beispiel der Institution schlechthin nahm, wird bald keinerlei Etikette mehr gehorchen. Diese Kunst wird jedem Einzelnen eigen sein.

Tut dies nicht für „die anderen“, für „die Bevölkerung“ oder für die „Gesellschaft“, tut dies für die Eurigen. Kümmert Euch um Eure Freunde und Eure Geliebten. Überlegt gemeinsam — in aller Eigenmacht —, was eine gerechte Form des Lebens sein kann. Bildet Cluster guten Lebens, breitet diese aus, und ich werde nichts gegen Euch ausrichten können. Dies ist ein Aufruf nicht an die Rückkehr einer massiven Disziplin, sondern an die Rückkehr der Aufmerksamkeit. Ein Aufruf nicht an das Ende aller Unbekümmertheit, sondern aller Nachlässigkeit. Welche andere Weise blieb mir, als Euch daran zu erinnern, dass die Rettung in jeder Geste liegt. Dass alles auch im Unbedeutendsten liegt.

Ich habe es wahrhaben müssen: Die Menschheit stellt sich nur die Fragen, um die sie nicht mehr umhinkommt.


Quellen und Anmerkungen:

Dieser Artikel erschien zuerst als Gastbeitrag in der französischen Zeitung Le Lundi am 27. März 2020.