Natur als Muse

Die Poetik-Ecke V vereint Texte aus utopischen Räumen.

Am Wochenende vom 3. bis 5. September, also mitten in der neuen Normalität, haben sich Menschen zu einer Auszeit getroffen, Menschen, die von verschiedenen Seiten her dem Rubikon zuarbeiten. Neben kognitiv-klugen Veranstaltungen wie Referaten, Diskussionen und Ideensammlungen gab es auch künstlerisch-meditative Räume. Aus zwei solchen Räumen — dem Versuch, die „Natur“ in sich Wort werden zu lassen, und einer Lesung von kurzen Osho-Texten auf einer nahezu stillen Wiese in der Nachmittagssonne irgendwo in den Weiten Ostdeutschlands — setzt sich die Poetik-Ecke V zusammen. Den Kontext und das Ambiente für die Leserinnen und Leser spürbar zu machen, ist zwar nicht leicht, doch die unkommentierte Textzusammenstellung lässt für die eine oder den anderen — vielleicht nachts einsam vor einem Screen sitzend — einen neuen Gegenraum entstehen, Anregung zur Subversion, Ansätze zu Ungehorsam ...

Natur-Gedichte und Osho, eine Textcollage

Klarheit wird nicht dadurch erlangt, dass man ein gewisses Wort wiederholt; man wird nur noch unklarer. Es ist nicht so, dass man intelligenter und bewusster wird, man wird nur schläfrig.

Ohne Titel
Im Tau schimmert das Spinnennetz
Ein Käfer hat es wohl zerfetzt
Es knackt und knirscht von unten her
Es brummt und schwirrt am Ohr so sehr

Der starke grüne Stamm — er glänzt
Unsichtbar flattert das Baumgespenst
Ein Maulwurfshügel schmilzt dahin
Der Nachbargarten wohlig singt

Der Pilz lugt aus totem Holz hervor
Verkehrslärm dringt ihm nicht ans Ohr
Im Kleinen ist's hier eine Flucht
vor tumber Sicherheitensucht

Was davon nimmt der wahr,
den man nur mit Schutzschild sah?
Wenn alle Sinne wohlbedeckt
ihn das Leben nicht mehr schreckt
hängt er nicht selbst im Spinnennetz?
Hätte er es bloß zerfetzt
(anonym)

Sie leben, und trotzdem leben sie nicht. Sie gehen wie Gefangene in Ketten. Ihren Bewegungen fehlt jede Freiheit, sie haben nichts Tänzerisches.

Gefahr
Gehst Du diesen wagnisvollen Weg
Erspürst Du selbst das Bodenreich
Frei von Furcht den spitzen Steg
Achtsam, neu und reich
Höre gut und sei dir klar
Rasen betreten auf eigene Gefahr
(anonym)

Der Mensch wird die Identität verlieren, die durch Solidarität entsteht. Aber diese Identität macht nur unglücklich und sonst nichts.

Gräser
Geistig arm und
Reich an Freiheit,
Ändert seine Unruhe nicht, wie
Seine Bewegung sich nicht
Erschöpft, getrieben von seinem Umfeld
Ruht es nur, wenn sein Lebensraum
seine Stille wahrt und es zum
Schweigen, zum Gefrieren mahnt
(Marcus Pacem)

Hörst du auf die eigene Natur? Oder hörst du auf die Stimmen der anderen?
Wenn du den anderen folgst, wirst du sterben, ohne je zu wissen, was Leben ist.

Buddleja
Betört Bienen, Falter, mich
Umflort von Morgenlicht
Die Blüten von Tau multipliziert
Der Duft intoxikiert
Leben und Tod auf einer Pflanze
Es trinken Schmetterlinge, es hängen tote Fliegen an
Jadegrünen, spitzen Blättern und
Achatvioletten, vanillehellen Blütenkolben
(Melina Cenicero)

Millionen von Menschen schleppen sich auf ein eingebildetes Ziel zu.

Herbst
hat den Sommer verdrängt,
endend im Winter,
reisend im Wechsel seiner Farben,
bringend uns kalte Nächte wie milde Wärme,
suchend die Schatten,
tauchend uns in Achtsamkeit und Ruhe.
(Peter Frey)

Die Wolke lässt uns Blitz und Donner fürchten.
Doch reift die Ernte, wenn der Regen aus ihr strömt.


Quellen und Anmerkungen:

Die Osho-Stellen stammen aus dem Buch „Die tantrische Vision — Wie die Liebe uns verändert“.