Nazi-Terrorismus

Der „Nationalsozialistische Untergrund“ und unaufgearbeiteter Nazi-Terrorismus.

Sechs Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU harrt der genaue Umfang und die Reichweite des hier aktiv organisierten Nazi-Terrorismus noch immer der Aufklärung. Die kurz nach dem Bankraub in Eisenach am 4. November 2011 staatsunabhängig durchgeführte Publikation des sogenannten Paulchen-Panter-Bekennervideos hat die bundesdeutschen Sicherheitsbehörden nur kurzfristig irritiert.

Unter Federführung der Generalbundesanwaltschaft (GBA) wurde schon wenige Monate danach die Entscheidung getroffen, den NSU gerade nicht als ein „Netzwerk von Kameraden“, wie es zutreffend im Bekennervideo benannt wurde, sondern lediglich als eine ziemlich wirksam von aller Öffentlichkeit abgeschottet arbeitende Zelle zu interpretieren. Bedeutend ist hier die faktische Übernahme des schon früh in die Öffentlichkeit eingeführten journalistischen Oberflächenbegriffes eines sogenannten „Terror-Trios“ durch die GBA (1).

Hier hatte die am Anfang der Ermittlungen öffentlich von Harald Range vertretene These, beim NSU handele es sich möglicherweise um einen „militanten Arm der NPD“ (2) die nützliche Eigenschaft, von den vielfältigen Unterstützungs- und Förderungsleistungen für den NSU durch lokale Nazi-Kameradschaften, dem vom Landesamt für Verfassungsschutz geführten wie alimentierten Thüringer Heimatschutz und vor allem dem Blood & Honour Netzwerk in Sachsen abzulenken (3). Und siehe da: Schon Anfang März 2012, das heißt, gerade mal vier Monate nach der Selbstenttarnung des NSU, glaubte die GBA, die ein Jahrzehnt lang nichts von dem NSU mitbekommen haben will, ziemlich sicher über die gesellschaftliche Isolation des besagten „Terror-Trios“ Bescheid zu wissen.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) berichtete unter Berufung auf die GBA, dass eine ganze Reihe von Unterstützerinnen des NSU „wegen Verjährung ihrer Taten strafrechtlich nicht zur Rechenschaft gezogen werden“ können. Das betreffe besonders „ehemalige Helfer des NSU aus dem Thüringer Heimatschutzbund, die das Trio aus Jena nach ihrem Abtauchen Anfang 1998 unterstützt hatten, unter ihnen der Jenaer Rechtsextremist André K.“ Und weiter rapportiert die FAZ die Auffassung der GBA, dass es „nach dem Sommer 2000 (…) Kontakte zu den Helfern aus der rechtsextremistischen Szene aus Thüringen nur noch in Einzelfällen gegeben (haben soll), da das Trio den Kreis der Unterstützer auf wenige Vertraute beschränkte“ (4).

Zusätzlich zu dieser Minimierungsstrategie fand auch eine Umkehrung der politischen Intentionen und Bedeutung dieser Nazi-Terror-Gruppe durch diese Behörde statt. Der stellvertretende Leiter der GBA Rainer Griesbaum kleidete das schon im April 2012 in die Worte, dass lediglich „zu Beginn die Zielgruppe des NSU Personen mit Migrationshintergrund“ gewesen seien, sich dessen Taten aber dann „offensichtlich … schwerpunktmäßig gegen den Staat“ gerichtet haben sollen, wofür ihm besonders der „Mordanschlag in Heilbronn auf die beiden Polizeibeamten" als zentraler Beweis galt. Auf so eine Interpretation muss man auch erst einmal kommen: Sechs lange Jahre, in denen neun Migranten liquidiert werden, und zahllose zum Teil schwer Verletzte durch wenigstens drei Bombenanschläge zu beklagen sind, werden kurzerhand unter den Begriff „Beginn“ subsumiert, alles nur um sich dann „offensichtlich … schwerpunktmäßig gegen den Staat“ zu orientieren (5).

So wurde schon zu einem frühen Zeitpunkt der Ermittlungen von der GBA eine Anti-Staats-Fiktion zur Konfiguration des NSU in die Welt gesetzt. Sie hat sich über Jahre in den laufenden Strafprozess vor dem OLG München mit der von der GBA hartnäckig verfolgten These eines gesellschaftlich isoliert agierenden naziterroristischen Trios fortgesetzt. (6)

Gegen diese politisch interessierte, gleichwohl erkennbar wirklichkeitsferne Strategie der GBA, Nazi-Terrorismus sowohl zu minimieren wie auch falsch zu politisieren, richten sich drei aktuelle Publikationen durch außerinstitutionelle Initiativen. Das Antifaschistische Infoblatt widmet in seiner jüngsten Ausgabe seinen Schwerpunkt dem „Rechtsterrorismus unter Aufsicht der Geheimdienste“. Dabei ist der Begriff des „Rechtsterrorismus“ vom Antifa Infoblatt schlecht gewählt, da er deckungsgleich mit dem der Sicherheitsbehörden ist. Bekanntermaßen ist damit auf der Folie der Extremismusdoktrin natürlich immer der „Linksterrorismus“ mitgemeint, um auch so Nazi-Terrorismus zu verharmlosen (7).

Dessen ungeachtet: Anwälte der Nebenklage im Münchener NSU-Prozess sprechen inzwischen von 40 bis 45 Spitzeln deutscher Sicherheitsbehörden, die in der Zeit zwischen 1998 bis 2011 im näheren und weiteren Umfeld des NSU aktiv waren und dort – wie es die Sicherheitsbehörden der Öffentlichkeit bis heute weiß machen – so gut wie nichts an substantiellen Erkenntnissen über die Mord-, Bomben- und Überfallserie des NSU erlangt haben wollen (8).

In ausführlichen Beiträgen resümieren die Autoren Andreas Förster und Dirk Laabs das Zusammenwirken dieser Vielzahl von V-Leuten in der Interaktion mit der NSU-Kerngruppe. Förster bilanziert dabei die in einem internen Positionspapier des BKA schon im Frühjahr 1997 ausgesprochene Warnung vor einem sogenannten „Brandstifter-Effekt“, das heißt, dass die staatlich alimentierten V-Leute in der Naziszene sich „gegenseitig zu größeren Aktionen“ anstacheln, dahingehend, dass diese Frage „durch den NSU auf brutale Art beantwortet worden“ sei. Die NSU-Affäre, so Förster weiter, zeige, dass der Geheimdienst „ein mörderisches Biotop mitgeschaffen hat, das längst außer Kontrolle geraten ist.“

Dirk Laabs konzentriert sich in seinem Beitrag auf die Geschichte des langjährigen Deutschlandchefs von Blood & Honour Stefan Lange, der mit ziemlicher Sicherheit schon seit dem Jahr 2000 unter dem Decknamen Nias als V-Mann des Bundesamts für Verfassungsschutz tätig war. Lange unterhielt exzellente Kontakte zu den wichtigsten Unterstützern der NSU-Kerntruppe aus dem dortigen Blood-&-Honour-Netzwerk, seine V-Mann-Tätigkeit wurde erst gegen Ende des zweiten Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages zum NSU im Frühjahr 2017 aufgedeckt. Nach Laabs ist es bislang den vielen Untersuchungsausschüssen zum NSU nicht gelungen, die Kernfrage zu beantworten, inwieweit eigentlich „die Strategie der Verfassungsschutzämter – Unterwanderung und teilweise Steuerung der militanten Neonaziszene – in Bezug auf den NSU tatsächlich gescheitert“ sei oder eben nicht. Und weiter fragt er, dieser Logik folgend:

„Haben alle V-Männer die Behörden angelogen und ihre ,Kameraden‘ gedeckt? Oder ist es anders herum: Haben einzelne Quellen vielleicht doch mehr als bislang bekannt zum NSU, deren Mitgliedern, Unterstützern und Plänen gemeldet – und es sind tatsächlich die Verfassungsschutzämter, die seit November 2011 die Wahrheit vertuschen?“

Das sind außerordentlich kenntnisreich gestellte Fragen zum NSU-Komplex. Sie besitzen auch dann noch ihre Gültigkeit, wenn das Strafverfahren vor dem OLG München in absehbarer Zeit abgeschlossen sein wird und es keine weiteren parlamentarischen Untersuchungsausschüsse zum NSU mehr geben wird (9).

Über den Tag der Urteilsverkündung in München hinaus wird auch die Anklageschrift des im Mai 2017 in Köln-Mülheim durchgeführten NSU-Tribunals Gültigkeit besitzen. Sie ist gerade in dritter Auflage in überarbeiteter Form erschienen. Das bis in die Gegenwart reichende so vielschichtige wie verheerende Wirken des NSU-Komplexes wird hier als ein Zusammenspiel von Sicherheitspolitikern, Nazis, Verfassungsschützern, Publizisten, Polizisten, Juristen und Extremismusforscherrn verstanden. Zusätzlich zu den bislang genannten über 90 Angeklagten wurden in der dritten Auflage drei weitere Exponenten im NSU-Komplex aufgenommen. Es handelt sich hier um den Publizisten Jürgen Elsässer, den langjährigen Referatsleiter Extremismus in der Bundeszentrale für politische Bildung Ulrich Doverman sowie um den Leiter der nach dem Mord an der Polizistin Michele Kiesewetter gebildeten Soko Parkplatz Kriminaloberrat Frank Huber (10).

Mit einer ähnlichen Intention wie die Anklageschrift es NSU-Tribunals wurde vom Kulturbüro Sachsen eine Broschüre unter dem Titel, „Unter den Teppich gekehrt“ publiziert. Sie fokussiert ihre Darstellung auf acht namentlich benannte Unterstützer der bislang in dem Strafverfahren vor dem OLG München als Mitglieder des NSU Benannten. Ihr Inhalt trägt der bitteren Tatsache Rechnung, dass unter den wichtigsten Unterstützern und Förderern der NSU-Kerntruppe ausnahmslos Blood-&-Honour-Mitglieder und -Anhänger aus Sachsen aktiv waren, – eine Gruppe also, die massiv von den Verfassungsschutzämtern und der Polizei unterwandert war.

Die Darstellung macht durch eine minutiöse Recherche und eine große Vielzahl von Belegen aus Antifarecherchen, Untersuchungsausschuss- und Gerichtsprotokollen deutlich, wie bedeutend die ganz praktischen Hilfs- und Unterstützungstätigkeiten eines Gunther Frank Fiedler, Hendrik Lasch, und einer Antje Probst, Susann Eminger und anderer für die Fortexistenz und das Florieren des NSU-Netzwerkes in der Zeit bis zur Selbstenttarnung im November 2011 waren. Es ist ein großes Verdienst dieser Publikation, den eigentümlich erscheinenden Umstand offenkundig zu machen, dass die Benannten dafür noch nicht juristisch zur Rechenschaft gezogen worden sind (11).

Aber das mag auch damit zusammenhängen, dass mit Thomas Starke und Ralf Marschner zwei „Vertrauenspersonen“ bundesdeutscher Sicherheitsbehörden in das sächsische NSU-Unterstützungsnetzwerk involviert waren, deren Vertrauen in die staatliche Fürsorgepflicht nicht enttäuscht werden soll (12).

Aus der Sicht der Öffentlichkeit gibt es jedenfalls nicht den geringsten Grund, darauf zu vertrauen, dass mit dem wohl Anfang 2018 zu erwartenden Urteil des OLG München die Aufarbeitung des Nazi-Terrors im Zusammenhang mit dem NSU auch nur annähernd vorangebracht werden wird. Die auch hier enttäuschten Hoffnungen vieler Angehöriger der Opfer des NSU-Terrors auf umfassende Aufklärung sind ein weiterer gutes Motiv dafür, sich den zur Urteilsverkündung vom Bündnis Tag X 2 allerorten geplanten Protestmanifestationen anzuschließen (13).


Quellen und Anmerkungen:

(1) Vgl. O.N., Nach Festnahme durch GSG 9 / Haftbefehl gegen Neonazi Andre E. auf: FAZ.NET vom 24.11.2011, URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/rechtsextremismus/nach-festnahme-durch-gsg-9-haftbefehl-gegen-neonazi-andre-e-11539496.html
(2) DPA, Generalbundesanwalt: NSU nicht militanter Arm der NPD, auf: Zeit-Online vom 9.2.2912, URL: http://www.zeit.de/news/2012-02/09/extremismus-generalbundesanwalt-nsu-nicht-militanter-arm-der-npd-09152402
(3) O.N., Wegen Verjährung / NSU-Helfer können nicht angeklagt werden, auf: FAZ.NET vom 10.3.2012, URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/wegen-verjaehrung-nsu-helfer-koennen-nicht-angeklagt-werden-11679373.html
(4) Vgl. Markus Mohr, Keine Spur / Was interessiert die Generalbundesanwaltschaft am NSU-Skandal?, in: Junge Welt vom 13.7.2012, S. 12, URL: http://aldeilis.net/german/was-interessiert-die-generalbundesanwaltschaft-am-nsu-skandal/
(5) Torben Börgers, Gespräch mit dem stellvertretenden Generalbundesanwalt Rainer Griesbaum, auf: ARD-Magazin Panorama vom 19.4.2012, URL: http://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2012/Interview-mit-dem-stellvertretenden-Generalbundesanwalt-Rainer-Griesbaum,pangriesbaum101.html
(6) Siehe auch die exzellent begründeten Attacken der beiden Rechtsanwälte Edith Lunnebach und Mehmet Daimagüler gegen die GBA zum Auftakt ihrer Plädoyers der Nebenklage im Strafverfahren zum NSU vor dem OLG München. RA Lunnebach schließt als Ergebnis der Beweisaufnahme kategorisch aus, das Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos den Bombenanschlag 2001 gegen den Inhaber eines kleinen Ladens in der Kölner Innenstadt verübt haben können. Vgl. Thies Marsen, 387. Verhandlungstag im NSU-Prozess Nebenklage-Plädoyers: Generalangriff auf die Sicherheitsbehörden, auf: Bayrischer Rundfunk vom 15.11.2017, URL: http://www.br.de/nachrichten/nsu-prozess/nsu-prozess-387-verhandlungstag-100.html
(7) Vgl. Roland Sieber, Schlagwort: Extremismus-Doktrin / Wenn die Rechte mit „Dönermorden“ kontert, auf: publikative.org vom 23.11.2012, URL: https://publikative.org/tag/extremismus-doktrin/
(8) Johannes Hartwig, „Der Verfassungsschutz wusste gut Bescheid“, Interview mit Sebastian Scharmer / Über die Rolle der Geheimdienste im NSU-Komplex, den Gerichtsprozess in München und Erwartungen an den NRW-Untersuchungsausschuss sprachen wir mit dem Berliner Rechtsanwalt Sebastian Scharmer. Er vertritt vor dem Oberlandesgericht München die Nebenklägerin Gamze Kubaşık, Tochter des 2006 in Dortmund ermordeten Mehmet Kubaşık, in: Lotta Nr. 56 vom 4.8.2014, URL: https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/56/der-verfassungsschutz-wusste-gut-bescheid
(9) Antifaschistisches Infoblatt Nr. 116 vom Herbst 2017, Schwerpunkt: „Rechtsterrorismus unter Aufsicht der Geheimdienste“, URL: https://www.antifainfoblatt.de/ausgabe/aib-116
(10) Tribunal NSU-Komplex auflösen, Wir klagen an! / Anklage des Tribunals „NSU-Komplex auflösen“, 17. – 21. Mai 2017 Köln-Mülheim (3. Auflage November 2017), URL: http://www.nsu-tribunal.de/anklage/
(11) Kulturbüro Sachsen e. V., Unter den Teppich gekehrt / Das Unterstützernetzwerk des NSU in Sachsen, Dresden November 2017, URL: https://www.kulturbuero-sachsen.de/index.php/10-aktuell/244-broschuere-zu-nsu-unterstuetzerumfeld-in-sachsen-veroeffentlicht.html
(12) Vgl. 12 Rechtsanwälte der Nebenklage im NSU-Strafprozess, Vom Bundesamt für Verfassungsschutz betreutes Morden? Top-V-Mann Ralf Marschner (alias „Primus“) soll nach dem „Untertauchen“ engen Kontakt zum Trio und zum Angeklagten André Eminger gehabt haben, PM vom 7.4.2016, URL: http://www.dka-kanzlei.de/news-reader/vom-bundesamt-fuer-verfassungsschutz-betreutes-morden.html
(13) Bündnis Tag X 2, Kein Schlusstrich ! (Aufruf zu einer Demonstration und Kundgebung zu Beginn der Urteilsverkündung im NSU-Prozess in München), URL: https://nsuprozess.net/ueber/