„Opposition ist, was die Verhältnisse zum Tanzen bringt“

Interview mit Rubikon-Beiratsmitglied Klaus-Jürgen Bruder zum Tunnelblick vieler Linker.

„Die Linke versäumt es, die Menschen aus der Vereinzelung und Resignation herauszuführen und ihnen eine Perspektive zu geben, wie man die Veränderung der Verhältnisse selbst in die Hand nehmen kann. Stattdessen hält sie sich raus", kritisiert Klaus-Jürgen Bruder im Interview.

Herr Bruder, der im März bevorstehende Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie, deren Vorsitzender Sie sind, trägt den Titel „Paralyse der Kritik: Eine Gesellschaft ohne Opposition“. Wird das eine Hommage an Marcuse, von dem der Ausspruch stammt?

Sicher nicht. Wir haben Marcuse zitiert, weil er vor 60 Jahren für seine Zeit eine Diagnose stellte, die aus unserer Sicht die gegenwärtige politische Lage genauso treffend charakterisiert. Es gibt derzeit keine relevante Opposition, die eine Alternative zu den gesellschaftlichen Verhältnissen bietet und der herrschenden Politik wirkungsvoll entgegentritt. Selbst die Linkspartei ist, trotz all ihrer parlamentarischen Interventionen, dazu nicht in der Lage.

In der Tradition der NGfP befasst sich der Kongress aus der Perspektive der politischen Psychologie mit einem aktuellen Thema. In diesem Fall ist es die Paralyse der Kritik, über die es sich mit dem Ziel der Veränderung zu diskutieren lohnt. Ähnlich haben wir das 2017 mit den gesellschaftlichen Spaltungen, im Jahr davor mit dem Thema Migration und Rassismus und 2015 mit dem Krieg um die Köpfe getan. Immer ging es um die Analyse des Diskurses der Macht und darum, sich in diesen einzuschalten.

Was verstehen Sie unter dem Diskurs der Macht?

Er ist das Verbindungsglied zwischen den Herrschenden und der Bevölkerung; durch ihn werden dem Individuum die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse „erklärt“, akzeptierbar gemacht.

Dieser Diskurs organisiert und beherrscht – wie Derrida es beschrieben hat – überall die öffentliche Kundgebung, die Zeugenschaft im öffentlichen Raum. Derrida charakterisiert ihn als „herrschsüchtigen Diskurs“. Seine Parolen, Narrationen und Botschaften diffundieren von dort in die Kommunikationsnetze der Gesellschaft.

In all unseren Gesprächen mit den unterschiedlichsten Partnern geht es um die Vergewisserung der eigenen Position im Diskurs der Macht und um die „korrekte“ Haltung zu seinen Parolen. So wie der Diskurs die vorgefundenen gesellschaftlichen Verhältnisse dem Einzelnen „vermittelt“, ihm damit auch „Orientierung“ in den Verhältnissen „vermittelt“, erhält er diese aufrecht – sowohl im Bewusstsein und Handeln der Individuen wie in dem der Akteure in den gesellschaftlichen Verhältnissen.

Signalisiert Ihr Bezug auf Marcuse zugleich, dass Sie Opposition eher in der akademisch gebildeten Mittelschicht als in der Arbeiterklasse suchen?

Wir suchen Opposition überall. Aber wenn sie unter den Arbeitern nicht zu erkennen ist, beschäftigen wir uns primär mit den Gesellschaftsschichten, in denen Opposition sich artikuliert.

Opposition im Sinne von kritischer Stellungnahme vernehmen wir aus der Schicht der Intellektuellen; sei es aus der internationalen Ärzteorganisation IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War) oder bei den Juristen gegen den Krieg oder in vereinzelten Medien. Die Rolle der Intellektuellen wurde in der 68er Bewegung besonders herausgestellt, am prononciertesten durch Marcuse.

Im historischen Rückblick wird diese wichtige Rolle immer übersehen. Kritik der Verhältnisse ist aber die Aufgabe von Intellektuellen. Sie müssen die Arbeiter nicht belehren, ihnen nicht vorschreiben, was sie zu tun haben, aber sie müssen sie unaufhörlich informieren und alternative Hinweise geben.

Nehmen wir Robespierre, Danton, Lenin, Mao, Ho Chi Minh: Sie haben die Revolution nicht gemacht, aber sie haben der revolutionären Bewegung der Bevölkerung, den Bauern und den Arbeitern zu ihrer Zeit Orientierung gegeben – durch ihre Entschlossenheit, mit der sie deren Aktionen begleiteten. Dieser Aspekt ist mir wichtig.

Als Neue Gesellschaft für Psychologie wenden wir uns zuallererst an die Psychologen. Sie sollten – um ein Beispiel zu nennen – die Zustände in der psychosozialen Versorgung nicht nur beschreiben, sondern Ursachen für die problematische Lage offenlegen und entsprechend tätig werden.

Braucht Opposition heute nicht eine klare Vorstellung davon, wie marxistische politische Ökonomie, die von Marcuse in einer philosophisch-anthropologischen Interpretation des Arbeits- und Warenbegriffs aufgelöst wurde, auf die heutigen Verhältnisse anzuwenden ist?

Unser Kongress ist pluralistisch. Wir bieten ein Bouquet von Ideen an. Auf dem Kongress sprechen nicht nur Psychologen wie Jürgen Hardt, der Erziehungssoziologe Burkhard Bierhoff, die Historiker Karl-Heinz Roth und Hannes Heer, der Philosoph Friedrich Voßkühler, die Ökonomin Corinna Dengler und der Theologe Bernd Nielsen, um nur einige zu nennen.

Auch die theoretische Ausrichtung ist pluralistisch, obwohl ich im Marxismus die entscheidende theoretische Orientierung finde. Keine andere Theorie hat ihn bisher überflüssig gemacht. Aber was bringt die Beschäftigung mit der marxistischen Theorie allein? Sie macht noch keine Opposition.

Die Arbeiterklasse ist der Gegenpol zum Kapital, keine Frage, aber es sind die Intellektuellen, die über die Ressourcen verfügen, um die kritische Diskussion weiter zu entwickeln, Perspektiven für Emanzipation denkbar zu machen und Widerspruch zu üben.

Allerdings nützen die wenigsten dieses Privileg, „selbständig denken zu können“ (wie Mbembe sagt). Stattdessen arbeiten die meisten an der Effektivierung von Ausbeutung und Kontrolle, entwickeln Strategien gegen Widerstand und Protest.

Ich erinnere an den offenen Brief der NGfP gegen die Funktionalisierung der Psychotherapie für die Behandlung von in Auslandseinsätzen traumatisierten Soldaten mit dem Ziel, diese rasch wieder kampffähig zu machen. Viel zu wenige Berufskolleginnen und -kollegen haben sich diesem Protest angeschlossen.

Mindestens Parlamentarier aus den Oppositionsparteien würden Ihrer These von der Paralyse der Kritik widersprechen. Welche Art Opposition meinen Sie also?

Opposition, wie wir sie heute kennen, nannte Agnoli „Opposition seiner Majestät“: Sie stellt weder die etablierte Herrschaft noch gar die gesellschaftlichen Strukturen, auf denen diese beruht, in Frage. Opposition ist für mich das, was die Verhältnisse zum Tanzen bringt, indem man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt. Das übersteigt derzeit bereits jede Phantasie, gerade auch der Partei, die sich als Opposition versteht.

Die Linke versäumt es, die Menschen aus der Vereinzelung und Resignation herauszuführen und ihnen eine Perspektive zu geben, wie man die Veränderung der Verhältnisse selbst in die Hand nehmen kann. Stattdessen hält sie sich raus.

Das ist so, als hätten die Linken 1967 zu den Demonstrationen gegen den von den USA gestützten Schah von Persien aufgerufen und sich – nachdem die ersten Schüsse aus der Pistole in der Hand eines Polizisten gefallen sind – sofort zurückgezogen und distanziert.

So fördert man keine Bewegung. Wenn der Funke erstmal verpufft ist, sich die politisch Wachen – einmal die Studenten, ein anderes Mal die Hausbesetzer – im Stich gelassen fühlen, dann folgt erstmal eine Periode der Resignation.

Besteht ein wichtiger Unterschied zu 1968 nicht darin, dass es damals ein gemeinsames Anliegen gab: die Auseinandersetzung mit dem Faschismus und seinem Weiterleben in Teilen der Elterngeneration.

Das kann man so sagen, und Brückner führt dies auch als eine wichtige Bedingung auf, aber er sieht zugleich die „empörten und empörenden“ Reaktionen der Elterngeneration, die den Blick auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge der Gewalt, die hinter den Reaktionen der Elterngeneration stehen, weitete.

Von diesen Zusammenhängen her gedacht muss man sagen: Es war damals eine Bewegung des Angriffs gegen einen überraschten Gegner, während wir heute in einer Situation des *Abwehr*kampfes gegen einen nicht nur vorbereiteten, sondern zugleich zu jeder Provokation bereiten Gegner stehen, der „keine Beschränkungen akzeptiert“ (Lieberman) und geradezu bösartig agiert.

Während die Opposition Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre „auf technischem Wege besiegt“ schien (Marcuse), leben wir heute vor dem Hintergrund einer politischen Niederlage der Opposition, im „Post“-Horizont, immer noch damit beschäftigt, uns vom 68er-Erbe zu befreien:

  • von seinen „radikal“-demokratischen Forderungen und Versprechungen, alles in Frage zu stellen, und zwar durch jeden, unabhängig von seinem sozialen Stand: kein Mensch ist inkompetent oder unbefugt
  • von seiner Unbedingtheit, selbst das Private politisch zu verstehen,
  • von seiner Intoleranz gegenüber Unrecht, Verbrechen und Gewalt in den menschlichen Beziehungen, („repressive Toleranz“)
  • von seiner Perspektive der Befreiung durch den Perspektivenwechsel, die Umkehrung der Laufrichtung (Thomas Bernhard).

Hat die Linke ihr Anliegen, wirtschaftliche und politische Macht neu auszutarieren, aus den Augen verloren? Eventuell auch vor der marktorientierten Globalisierung kapituliert?

Der Parlamentarismus und das ganze Drumherum ist eine Maschine mit eigenen Gesetzen. Seine ganze Energie auf den Parlamentarismus zu konzentrieren führt zu einer Blickverengung auf Wahlen und damit zu so etwas wie Marktpsychologie.

Man schaut, was bringt mir Stimmen, und propagiert es auch, um Stimmen zu bekommen. Das ist aber ein sich selbst verstärkendes System. Wenn man fragt, was bringt mir Stimmen, tut man das, was die anderen Parteien auch tun. Es ist die Reproduktion des immer Gleichen, nichts System-Transzendierendes.

Die Linke hat sich darauf eingelassen, hat keinen Standpunkt mehr außerhalb des Systems. Die wichtigste Frage ist die nach der Situation und Artikulation der Bevölkerung, danach, was sie bewegt. Nicht oberflächlich, sondern eher unterirdisch.

Marx nannte es den Maulwurf der Geschichte. Wer den nicht wahrnimmt, wundert sich über die Wahlergebnisse der AfD. Ihm entgehen aber eventuell auch andere, gegenläufige Entwicklungen. Er hat sich von der Bevölkerung entfernt. Für diese Analysen ist die Theorie von Marcuse eine Fundgrube.

Was erwarten Sie für den Fall, dass sich die Mitglieder der SPD am Ende mehrheitlich für eine Große Koalition entscheiden?

Die GroKo ist ein Lehrstück dafür, wie politisches Bewusstseins entsteht. Große Teile der Bevölkerung haben den Eindruck: „Die machen ja sowieso, was sie wollen, ungeachtet von Wahlergebnissen. Sie machen es überall: bei Waffenexporten, Auslandseinsätzen – egal, ob die Mehrheit der Bevölkerung dagegen ist.“

Das nennt man Entpolitisierung, manche sagen auch Politikverdrossenheit, und schieben der Bevölkerung den schwarzen Peter zu. Das ist eine immens wichtige Angelegenheit für die politische Psychologie.

Die große Frage besteht darin, ob sich nach dem Zustandekommen dieser Großen Koalition Resignation breit machen wird, eventuell sogar unter den Jusos, von denen viele bis zuletzt sehr engagiert dagegen gekämpft haben. Oder ob mehr Menschen begreifen, dass sie mehr hätten tun müssen, um diese Entwicklung zu verhindern.

Das wäre dann eine Chance für die Linke, Perspektiven aufzeigen, beziehungsweise sie erst einmal zu Wort kommen zu lassen. Jeder Abgeordnete könnte jede zweite Woche in seinem Wahlkreis Begegnungen organisieren, sich anhören, welche Probleme es gibt, welche Vorschläge entwickelt worden sind.

Das passiert nicht oder viel zu wenig. Im schlimmsten Fall stehen uns für das Entstehen einer Opposition weitere vier verschenkte Jahre bevor.

Haben Sie vielen Dank für das Gespräch.


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