Pisse in den USA

Die Zahl der Berber und Obdachlosen hat sich in der Stadt Portland im nördlichen Oregon in nur zwei Jahren verdoppelt.

Nach Geschäftsschluss breitet ein Obdachloser im Eingang eines edlen Bonbongeschäfts seine vielen Pappkartons zum Schlafen aus. Plastiktüten, Wolldecken, Rucksäcke. Kotzreste und Pisse. Morgens ist der Wind in der Innenstadt besonders kalt. Er pfeift durch die Häuserschluchten. In den Ästen der Bäume haben sich große Plastiktüten verfangen und eine kaputte, alte Weihnachtsdeko flattert im Wind so doll, dass sie Krach macht.

Die Obdachlosen laufen alleine oder in Gruppen, manche haben einen Hund bei sich. Die meisten sind Männer. Lange Haare hinten, zottelig, dreckig, verfilzt und lange Bärte vorne. Oft haben ihre Münder keine Zähne, ihre Lippen sind aufgesprungen, ihre Gesichter sind voller Pickel.

Manche schreien und rufen laut. Sie sprechen nicht mit den Passanten, sondern mit sich selbst. Die Männer sehen sehr alt aus, sind es aber nicht. Sie sind so um die vierzig Jahre alt. Vor dem Gebäude der Heilsarmee stehen sie in einer langen Schlange, die fast um den ganzen Block herum geht. Geradezu unerträglich steht ein ekeliger Geruch von Pisse über diesem Häuserblock.

midlife mortality in US

Quelle: https://www.brookings.edu/blog/brookings-now/2017/03/23/working-class-white-americans-are-now-dying-in-middle-age-at-faster-rates-than-minority-groups (Abruf am 11. April 2017)

Meine Erlebnisse in Portland decken sich mit den Ergebnissen einer Studie aus den USA, die unter dem Titel „Selbstmord aus Verzweiflung“ jüngst für großes Aufsehen sorgte. Danach stieg die Selbstmordrate weißer Männer im mittleren Alter seit dem Jahr 2000 dramatisch an, insbesondere auch in einem Ländervergleich mit Kanada, Australien und Großbritannien.

Wo in einem privatisierten Bildungssystem die Studiengebühren so hoch sind, dass sie für viele Menschen nicht mehr erschwinglich sind, da bleibt man auf der Strecke. Wo das private Gesundheitssystem derartig verkorkst ist wie in den USA, da können viele Menschen den Gang zum Zahnarzt nicht mehr bezahlen.

Wo ein außenpolitisch aktiver Militärstaat wie die USA seine Unterschichtenmänner in völkerrechtswidrigen Kriegen verheizt, da finden traumatisierte Kriegsveteranen nicht mehr in den normalen Alltag von Familie und Beruf zurück.

In den Buchhandlungen von Portland ist der Bestseller zurzeit das Buch The Trump Survival Guide: Everything You Need to Know About Living Through What You Hoped Would Never Happen von Gene Stone. Die vielen How-to-do-Bücher des Schriftstellers Gene Stone erscheinen in den USA unter der Rubrik „lustig“.

Wie wäre es, wenn man mal nicht über Witze spricht, sondern über den amerikanischen Kapitalismus?