Reife Liebe
Auf der Suche nach erfüllenden Beziehungen lohnt sich die Lektüre Erich Fromms. Teil 11 der Reihe „Persönliche Entwicklung“.
Teil 10 der Artikelreihe „Persönliche Entwicklung“ hat sich insbesondere mit „Pseudoformen“ der Liebe beschäftigt. Dieser Teil setzt sich mit der Frage auseinander, was reife Liebe ausmacht. Liebe ist nicht nur ein bloßes Gefühl, sondern auch beständiges Handeln, das Freiheit und Nähe gleichzeitig ermöglicht, das Wachstum des anderen unterstützt sowie Respekt vor der Individualität des anderen zeigt. Reife Liebe balanciert zwischen einem Sicherheitsbedürfnis, das nach Nähe und Bindung verlangt, und dem Freiheitsbedürfnis, das die Eigenständigkeit des anderen achtet. Reife Liebe erlaubt beides gleichzeitig. Reife Liebe möchte nicht besitzen, sondern trägt Verantwortung für den anderen. Auf den anderen aufzupassen, bedeutet nicht, ihn zu kontrollieren.
Reife Liebe bedeutet nicht Verschmelzung mit einhergehendem Verlust der Eigenständigkeit, wie viele glauben mögen, sondern Abstand sowie Achtung vor der eigenen Innerlichkeit und der des anderen, und sie ermöglicht auf diese Weise gemeinsames Wachstum. Das gemeinsame Werden steht im Vordergrund, nicht die Verschmelzung mit dem anderen. Reife Liebe sieht nicht nur, was der andere ist, sondern unterstützt ihn auf dem Weg zu dem, was er werden kann. Reife Liebe heißt, bewusst das Wachstum des anderen zu fördern. Dazu bedarf es der Disziplin, Verantwortung, Hingabe und Fürsorge, dem Vertrauen in den anderen, sowie dem Wissen über den anderen. Reife Liebe ist kein einmaliger Akt, sondern erfordert die Bereitschaft zum kontinuierlichen Einsatz der Partner, die Beziehung auf diesem hohen, reifen Niveau zu halten, beziehungsweise die Liebe weiter wachsen zu lassen.
Liebe schätzt die Authentizität des anderen, nimmt ihn so, wie er ist, und kann sich in den anderen hineinversetzen. Liebe reift, wenn die Partner sich authentisch zeigen können und sich nicht gegenseitig bewerten.
In seinen Gedichten und Essays beschreibt Erich Kästner reife Liebe als nicht stürmisch, sondern beständig, humorvoll und „freundschaftlich“. Sie soll auf Respekt basieren und nicht zum Drama werden.
Allzu großer Herzschmerz wird sich in einer reifen Liebesbeziehung kaum entwickeln.
Vier Basiselemente reifer Liebe
Erich Fromm beschreibt vier Grundelemente „reifer Liebe“:
„Die Liebe ist aber nicht nur ein Geben, ihr ‚aktiver‘ Charakter zeigt sich auch darin, dass sie in allen ihren Formen stets folgende Grundelemente enthält: Fürsorge, Verantwortungsgefühl, Achtung vor dem anderen und Erkenntnis.“
Nachfolgend wird insbesondere auf die vier von Erich Fromm angeführten Elemente eingegangen.
Fürsorge
Fürsorge bedeutet nicht Bevormundung, sondern aktive Hinwendung zum Wohlergehen des anderen. Das bedeutet, Interesse an der Innerlichkeit des anderen zu hegen, Achtsamkeit für seine Bedürfnisse und Wünsche zu entwickeln – sich dabei jedoch der Grenze zur Selbstaufgabe bewusst zu sein –, seine Entwicklung zu unterstützen und dafür auch Zeit und Energie zu investieren. Reife Fürsorge ist nicht vereinnahmend, sondern trägt Verantwortung ohne Kontrolle, unterstützt den anderen ohne Einengung und schützt ihn ohne Übergriff.
Ein fürsorgliches Wesen besitzt die Fähigkeit zum aktiven Zuhören und nimmt auch kleine verbale und nonverbale Signale wahr. Wenn ich möchte, dass sich der andere öffnet, um seine Bedürfnisse und Gefühle zu verstehen, muss auch ich mich öffnen und mein Inneres offenbaren, damit der andere seines zeigen kann. Authentisch zu sein bedeutet auch, seine eigenen Fehler einzugestehen.
Reife Fürsorge bedeutet, den anderen nicht zu verändern oder zu formen. Sie unterstützt, ohne besitzen zu wollen. Reife Liebe rechnet auch nicht gegen, sondern unterstützt selbstlos, ohne Erwartung einer Gegenleistung. Bei einer reifen Beziehung wird eine Gegenleistung kommen – ohne darüber nachzudenken, nicht aus einem Kalkül heraus, sondern von Herzen.
Wenn Sie sich das Bild einer gesunden Mutter-Kind-Beziehung vor Augen führen, dürfte es klar werden, was mit Fürsorge gemeint ist. Die Mutter sorgt in beeindruckender Weise für das leibliche und psychische Wohl ihres Kindes und lässt es dem Kind an nichts fehlen.
„Liebe ist die tätige Sorge für das Leben und das Wachstum dessen, was wir lieben.“
Jemandem, der sich nicht fürsorglich um das Subjekt/Objekt seiner Liebe kümmert, dem wird seine angebliche Liebe dazu nicht abgenommen. Wenn jemand nicht für sein Kind sorgt, seine Blumen verwelken lässt oder seine Eltern im Stich lässt, fällt es schwer, dessen Liebe ernst zu nehmen.
Erich Fromm betont in diesem Zusammenhang, dass man zu einer reifen Liebe nicht fähig ist, wenn man sich selbst nicht achtet. Fürsorge ohne Selbstfürsorge wird auf längere Sicht nicht gut gehen. Man sollte seine eigenen Bedürfnisse kennen und der Fürsorge für andere auch Grenzen setzen – besonders, wenn die Fürsorge ausgenutzt wird. Nur wer sich selbst nicht aufgibt und auch sich pflegt, kann gut für andere sorgen.
Verantwortung
Verantwortlichkeit zeigt sich in Handlungen und nicht in Lippenbekenntnissen, in der Bereitschaft, da zu sein – auch in unbequemen Situationen – sowie im Einhalten von Zusagen. Der andere kann sich bei reifer Verantwortung auf Sie verlassen, komme was da wolle.
In einer reifen Beziehung entsteht ein freiwilliger Austausch von Verantwortung. Manchmal trägt der eine mehr, manchmal der andere. Es ist gleichgültig, wer gerade mehr für den anderen macht. Im großen Ganzen entsteht ein Gleichgewicht, und selbst wenn es ein leichtes Ungleichgewicht gibt, weil der eine möglicherweise mehr geben kann als der andere, oder weil er „stärker“ ist, tut das einer reifen Beziehung keinen Abbruch. Es geht um wechselseitige Fürsorge und nicht darum, „gleich viel zu tun“.
Verwechseln Sie „Verantwortungsgefühl“ nicht mit „Pflicht“. Wenn Sie sich für irgendetwas verantwortlich fühlen, dann auf freiwilliger Basis, und nicht, um es irgendjemandem recht zu machen. Verantwortungsgefühl entwickelt sich von innen heraus, Pflicht wird von außen auferlegt.
„Sich für jemanden ‚verantwortlich‘ zu fühlen, heißt fähig und bereit sein zu antworten.“
Erich Fromm
Fromm führt weiter aus, Verantwortung sei die freiwillige Antwort auf die Bedürfnisse eines anderen Menschen. Das heißt: Verantwortung entsteht aus Liebe, nicht aus Pflichtgefühl oder Moralismus. „Ich muss mich kümmern …“ ist der falsche Ansatz. Verantwortung ist keine Last, sondern eine Bejahung des anderen aus freien Stücken.
Reife Verantwortung äußert sich im Respekt und der Unterstützung des anderen, und nicht in der Einmischung in sein Leben.
Wenn Sie wirklich lieben, sollen Sie Antworten auf die ausgesprochenen und unausgesprochenen Bedürfnisse des anderen geben. Es bedeutet jedoch auch, Verantwortung für alle anderen Menschen zu übernehmen, mit denen man direkt oder indirekt zu tun hat. Liebe ist eine grundsätzliche Haltung, die Verantwortung gegenüber allen Menschen, gegenüber der Natur beziehungsweise gegenüber Gott beinhaltet.
Verantwortlich für einen anderen kann nur jemand sein, der auch selbstverantwortlich ist und die eigene Lebensführung nicht auf den anderen abwälzt.
Achtung
Nun, bei all der Fürsorge und Verantwortung für den anderen kann es leicht passieren, ihn zu vereinnahmen oder ihn mit seiner „Liebe“ zu erdrücken. Ein weiterer Bestandteil der Liebe ist daher die Achtung der Freiheit des anderen, den Menschen so zu nehmen, wie er ist, und ihn nicht für seine eigenen Zwecke verändern zu wollen.
„Achtung hat nichts mit Furcht und nichts mit Ehrfurcht zu tun: Sie bezeichnet die Fähigkeit, jemanden so zu sehen, wie er ist, und seine einzigartige Individualität wahrzunehmen. Achtung bezieht sich darauf, dass man ein echtes Interesse daran hat, dass der andere wachsen und sich entfalten kann.“
Erich Fromm
In diesem Zusammenhang ist gegenseitiger Respekt ein wichtiger Faktor. Er ist von besonderer Bedeutung für einen ausgeglichenen Umgang miteinander. Beiderseitiger Respekt, die Achtung der Würde des anderen, dürfte der wohl wichtigste Faktor einer liebevollen Beziehung sein, und demzufolge Respektlosigkeit der Liebeskiller Nummer eins in einer Partnerschaft. Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht! Irgendwann ist eben Schluss mit lustig, und der fehlende Respekt einer oder auch beider Personen ist nicht mehr auszuhalten. Beziehungsprobleme bis hin zur Trennung sind dann vorprogrammiert.
Respektlosigkeit kann sich in vielen Gestalten äußern. Respektloses Verhalten und bedenkenloser Egoismus anderen Personen gegenüber zeigt sich in feiner, aber auch in sehr grober Form.
Subtilere Erscheinungsformen machen sich beispielshalber in einem nachtragenden Verhalten bemerkbar und darin, dem anderen kaum die Möglichkeit zu geben, etwas wiedergutzumachen. Wenn der Nachtragende seine dümmliche Opferrolle bis ultimo weiterspielt, bleiben Schuldgefühle des verwünschten und verwerflichen „Delinquenten“ nicht aus – und werden von der Mimose meist auch bewusst geschürt. Menschen, die sich aus ihrer Opferrolle nicht herausbewegen, bleiben in ihrer persönlichen Entwicklung stehen. Falls jemand Ihnen Unrecht angetan, seinen Fehler aber eingestanden hat, sollten Sie dem „Übeltäter“ die Möglichkeit geben, ihn wiedergutzumachen. Manche Menschen – in diesem Fall Menschlein – suhlen sich geradezu in ihrer Opferrolle und nutzen das schlechte Gewissen des Delinquenten bis zum Gehtnichtmehr aus. Das zeugt von eigener Unreife und mangelndem Respekt dem anderen gegenüber.
„Ein Wort macht alles ungeschehn. Ich warte darauf. O laßt mich’s nicht zu lang erharren!“
Johann Christoph Friedrich von Schiller
Auch wenn es einen Fehltritt größeren Ausmaßes nicht ungeschehen macht, kann man sich doch irgendwann einmal in die „niederen“ Gefilde des Übeltäters „herablassen“ und Gnade walten lassen. „Verzeihen ist die beste Rache“ meinen ja auch einige, die wahrscheinlich gerne gegenrechnen. Verzeihen tut nicht nur dem Reuigen, sondern auch dem Verzeihenden gut.
Dem anderen ständig ins Wort zu fallen, ihn nicht ausreden zu lassen, ist ebenfalls eine Demonstration fehlenden Respekts. Jeder hat das Recht, seine Meinung kundzutun, und das in gebührendem Umfang. Ständige Unterbrechungen sind meistens Zeichen mangelnder Achtung. Der Unterbrochene und nicht zu Wort Kommende fühlt sich ausgegrenzt, nicht ernst genommen und letztendlich nicht geliebt. Der Unterbrechende demonstriert mit solch einem Verhalten seine geringe Wertschätzung.
Weitere „aktive“ Mittel abfällig handelnder Menschen bestehen darin, sich über den anderen lustig zu machen, eindeutige, nonverbale Signale wie beispielsweise „Abwinken“ einzusetzen, die Äußerungen des Partners nicht ernst zu nehmen oder seine Aussagen abzuwerten. Ein derartiger Umgang mit dem Partner – eventuell auch vor anderen Personen – ist ein Zeichen für die Gleichgültigkeit des Achtungslosen den Gefühlen einer anderen Person gegenüber, sowie von geringer Wertschätzung oder auch fehlender Empathie.
Keine Spur von Liebe! Viele Menschen sind sich über diese subtile Art, dem anderen zu zeigen, in ihm keinen gleichwertigen Kommunikationspartner zu sehen, nicht einmal bewusst. Wenn Sie dem anderen Respekt zollen wollen, dann schenken Sie ihm Ihre Aufmerksamkeit und hören Sie ihm aktiv zu. Tauschen Sie Ihre Gedanken und Gefühle auf gleichwertiger und gleichberechtigter Ebene aus.
Auch Andeutungen, die den Sinn des Gesagten nur unvollständig offenlegen, sollen den anderen verunsichern und sind als äußerst tückisches und unfaires Mittel der Gesprächsführung anzusehen. Dem Partner wird bewusst unverständlich mitgeteilt, was Sache ist! Er muss sich dann seinen Reim drauf machen. Hier handelt es sich in meinen Augen um einen miesen Versuch, vom anderen Energie abzuzapfen. Aussagen wie „Du bist wie dein(e) Mutter/Vater …“, wohlwissend, dass der Partner genau das nicht sein möchte, sind suggestive Unterstellungen. Es handelt sich insofern um Respektlosigkeit, da dem anderen die Möglichkeit genommen wird, selbst Stellung zu einem Sachverhalt zu nehmen – oder auch dazu zu schweigen.
Energievampire haben diverse Methoden, dem anderen die Energie zu nehmen und damit das eigene Energielevel zu erhöhen. Zu diesen Methoden gehören unter anderem der Versuch, den anderen zu kontrollieren, oder auch die Mitleidstour.
Manche „Respektlose“ decken den anderen mit Vorwürfen und Anschuldigungen ein, um selbst besser dazustehen. Hier handelt es sich um eine äußerst billige und respektlose Verhaltensweise, besonders dann, wenn sich der Beschuldigte tatsächlich permanent schuldig fühlt. Mit dem ist dann leicht Schlitten fahren für den eventuell narzisstisch veranlagten Ankläger. Hintergrund eines solchen unredlichen Verhaltens ist oftmals eine Sado-Maso-Beziehung, bei der einer austeilt und der andere einsteckt. Solche Konstellationen haben mit Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit in der Partnerschaft herzlich wenig zu tun.
Wenn Grenzen des gegenseitigen Anstands überschritten und die Rechte des Partners unverhältnismäßig stark missachtet werden, liegen gröbere Formen der Respektlosigkeit vor, die sich in Beschimpfungen, Beleidigungen und manchmal auch Handgreiflichkeiten eines Partners äußern. Derartige Verhaltensweisen lassen oftmals auf mangelndes Selbstwertgefühl, Unterlegenheit oder Ausweglosigkeit des Angreifenden schließen. Sie sagen eher über den Sender und dessen Minderwertigkeitskomplexe als über den Empfänger dieser Armseligkeiten etwas aus. Anstatt zu seinen Minderwertigkeitsgefühlen zu stehen und mit dem anderen darüber zu reden, zieht der Respektlose es vor, den anderen herabzusetzen, zu beschimpfen, zu beleidigen oder gar zu schlagen. Schäbig!
Neben diesen aktiven Formen der Respektlosigkeit finden sich auch passive, die sich beispielsweise in der oberflächlichen Wahrnehmung der Anwesenheit des anderen oder dessen Leistungen widerspiegeln. Auch Eltern zollen „Heldentaten“ ihrer Kinder manchmal zu wenig Respekt. „Papa, schau mal, was ich kann …“ wird oftmals nicht entsprechend anerkannt oder wegen vermeintlicher Belanglosigkeit übersehen, weil man selbst ja so unglaublich wichtig ist. In solchen Situationen stehe ich oft fassungslos daneben und denke mir, was ist diesen Menschen in ihrer Kindheit oder auch später widerfahren, dass sie so gleichgültig und wenig wertschätzend mit den Leistungen und Anerkennungsbedürfnissen ihrer Kinder umgehen.
Mögliche Gründe für den respektlosen Umgang mit anderen
Ein Grund könnte die Angst mancher Personen sein, ihre Unabhängigkeit dem anderen gegenüber durch die Öffnung ihres Herzens zu verlieren. Vor Intimität und der damit verbundenen Berührbarkeit ängstigen sich viele Menschen, weil sie vielleicht schon einige negative Erfahrungen mit ihrer Offenheit gemacht haben und öfters enttäuscht worden sind. Es würde den Betroffenen dennoch guttun, ihrer Sehnsucht nach Liebe nachzugeben. Sich mit dem Mantel der Respektlosigkeit zu bedecken, ist jedenfalls ein wenig effizientes Mittel, um seine Unabhängigkeit zu wahren.
Manche Menschen benutzen Respektlosigkeit auch als Mittel zur „hierarchischen Überordnung“. Sie versuchen durch respektlose Verhaltensweisen dem Partner dessen Grundlage für ein gesundes Selbstwertgefühl zu entziehen, um so die Beziehung in die gewünschte, armselige Richtung lenken zu können.
Verhaltensweisen, die darauf ausgerichtet sind, andere zu dominieren, kann ich absolut nichts abgewinnen.
Natürlich sollte man auch die Gründe der anderen Seite analysieren, warum sie das mit sich machen lässt. Wie auch immer: Wenn Sie eine gleichwertige Beziehung herstellen wollen, sollten Sie die Ursachen für das momentane Ungleichgewicht erkennen, darüber reden und versuchen, diesen Missstand zu beheben.
Macht- und besitzgierige, zur Liebe unfähige Menschen sind in meinen Augen die Hauptschuldigen für die ungerechten Zustände in der Welt sowie die Hauptverursacher von Krisen und Kriegen, aus minderwertigen Beweggründen heraus.
Um zu prüfen, ob Sie noch den nötigen Respekt Ihrem Partner gegenüber haben, können Sie sich in die Zeit Ihres Kennenlernens versetzen und sich fragen, ob Sie eine oder mehrere oben beschriebene Verhaltensweisen heute verstärkt an den Tag legen. Wenn ja, haben Sie ein paar Ansatzpunkte gefunden, sich weiterzuentwickeln. Eine weitere Möglichkeit wäre, sich zu fragen, ob Sie mit „wichtigen“ Menschen wie beispielsweise Ihrem Chef ebenso wie mit Ihrem Partner umgehen, und wenn nein, warum nicht.
Nun zu einem weiteren Aspekt der Liebe reifer Menschen.
Erkenntnis
Erkenntnis über den anderen gewinnt man durch einfühlendes Verständnis, ohne den anderen zu bewerten, ohne ihn zu manipulieren. Dadurch wird eine authentische, reife Beziehung zwischen zwei Menschen möglich, ohne Interpretation und Projektion.
Liebe verliert ihre Authentizität, wenn sie den anderen lediglich zur Erweiterung des eigenen Ich benutzt und ihn auf diese unterwürfige Rolle reduziert, ihn abhängig macht und ihm auf diese Weise seine Freiheit nimmt.
Erkenntnis meint tiefes Verstehen der inneren Welt des anderen, die Fähigkeit, hinter sein Verhalten, seine Masken und Rollen zu schauen. Erkenntnis bedeutet ein empathisches Erfassen von Bedürfnissen, Ängsten und Hoffnungen des anderen sowie ein echtes Interesse an seiner Wahrheit, und nicht an der eigenen Projektion auf ihn. Unreife Liebe projiziert eigene Wünsche, Ängste und Fantasien auf den anderen; reife Liebe dagegen erkennt ihn als eigenständige Person.
Manche Menschen interpretieren in den anderen auch etwas hinein, was er nicht ist, aus Angst, den anderen so zu sehen, wie er wirklich ist. Sie wollen vielleicht auch deswegen unwissend über den anderen bleiben, um sich vor einer möglichen Verantwortung ihm gegenüber zu schützen. Insofern bedarf es auch einer Portion Mut, den anderen zu sehen, wie er ist. Menschen sind nicht nur stark, sondern auch schwach, sie sind nicht immer nur gut, sondern haben auch ihre schlechten Seiten.
Wenn man bei sich selbst oder beim anderen destruktive Tendenzen erkennt, ist das oftmals unangenehm, aber auch ein erster Schritt der Erkenntnis, um daran arbeiten zu können.
Sie sollten sich die Mühe machen, sich mit dem anderen Menschen auseinanderzusetzen, und versuchen zu verstehen, wie er tatsächlich tickt.
„Es gibt viele Ebenen der Erkenntnis. Die Erkenntnis, die ein Aspekt der Liebe ist, bleibt nicht an der Oberfläche, sondern dringt zum Kern vor. Sie ist nur möglich, wenn ich mein eigenes Interesse transzendiere und den anderen so sehe, wie er wirklich ist.“
„Ich muss den anderen und mich selbst objektiv kennen, um sehen zu können, wie er wirklich ist – oder besser gesagt um die Illusionen, das irrational entstellte Bild zu überwinden, das ich mir von ihm mache.“
Erich Fromm
An dieser Stelle möchte ich Ihnen am Beispiel des Verhältnisses zwischen Mann und Frau darlegen, wie wichtig das gegenseitige Verständnis, basierend auf der Erkenntnis des anderen, ist.
Ein grundlegendes Problem zwischen den Geschlechtern versuche ich mit dem Begriff „Projektion“ zu beschreiben. Einige Männer wie Frauen können sich oftmals nicht vorstellen, dass die Partnerin oder der Partner anders reagiert, denkt oder fühlt, als man es selbst tut. Männer erwarten von Frauen beispielsweise, genauso „logisch“ zu denken und zu handeln wie sie selbst, und Frauen erhoffen sich von Männern, sich ähnlich gefühlsbetont zu verhalten wie ihr eigenes Geschlecht. In ihren Verhaltensweisen, in der Art ihrer Kommunikation, in ihrem Umgang mit Stress und so weiter kommen beide Geschlechter jedoch aus teilweise anderen Welten. Wenn das Verständnis beider Seiten füreinander, warum sie anders ticken, zunimmt, wenn man ein wenig versteht, wie das andere Geschlecht „funktioniert“, und entsprechend agiert beziehungsweise reagiert, steht einer befriedigenden, liebevollen Beziehung eigentlich nicht mehr viel im Wege. Anstatt zu versuchen, den anderen sich gleich zu machen, sollten sich beide an der Tatsache erfreuen, unterschiedlich zu denken, zu fühlen und sich zu verhalten, sich letztendlich aber zu ergänzen. Reife Liebe erkennt im anderen das Einzigartige und sieht das, was sonst vielleicht niemand sehen kann.
Selbstverständlich ist Mann nicht gleich Mann und Frau nicht gleich Frau. Obigen Ausführungen sind allgemeine evolutionsbiologische, evolutionspsychologische, soziologische, neurologische und psychologische Erkenntnisse zugrunde gelegt. Sie sollten hingegen konkrete Erkenntnisse über den Menschen gewinnen, für den Sie sich interessieren, und sich in ihn hineinversetzen können.
Um den anderen so zu nehmen, wie er wirklich ist, muss man ihn „erkennen“. Das dürfte insbesondere Menschen sehr schwerfallen, die sich selbst nicht gut kennen. In diesem Fall wäre es angebracht, sich auch selbst besser kennenzulernen.
Fazit
Diese vier Aspekte der Liebe – Fürsorge, Verantwortungsgefühl, Achtung und Erkenntnis – sind miteinander verbunden, und sie sind Kennzeichen der Liebe eines reifen Menschen. Im Gebot der Nächstenliebe spiegeln sich diese vier Aspekte der Liebe wider. Die Liebe eines reifen Menschen bezieht sich nicht nur auf ein konkretes Objekt seiner Liebe, sondern auf seinen Nächsten, wer immer das auch gerade ist. Wenn Sie diese Fähigkeit entwickelt haben, können Sie gar nicht mehr anders, als auch Ihren Nächsten zu lieben. Reife Liebe bedeutet: „Ich werde geliebt, weil ich liebe.“ Kindliche Liebe tickt eher umgekehrt, nach dem Muster: „Ich liebe, weil ich geliebt werde.“ Infantile Liebe ist so eine „Gegenrechnungskiste“, die weit entwickelte Menschen abgelegt haben.
Reife Liebe ist selbstlos, verantwortungsvoll und großzügig, nicht besitzergreifend. Sie ist eine willentliche, bewusste Entscheidung, die entsprechendes Handeln nach sich zieht, und nicht nur ein Gefühl.