Revolution des Bewusstseins
Das besitzorientierte Denken der in Zivilisationen lebenden Menschen hat das Verfügen über existenzielle Selbstverständlichkeiten zu einer Frage des ökonomischen Status gemacht.
Luft, Wasser und Erde, also Grund und Boden, sind die Basis menschlichen Lebens. Es sind natürliche Selbstverständlichkeiten, ohne die niemand existieren kann. Diese Tatsache wird in den materialistisch geprägten Gesellschaften, in denen das Individuum seine Verbindung zur Natur verloren hat, durch ein ausuferndes Besitzbewusstsein vom Tisch gefegt. Mehr haben und mehr besitzen zu wollen als genug, ist die erwünschte Norm, die der Menschheit den Todesstoß versetzt.
Die unendliche Kreativität der Natur hat die Selbstverständlichkeiten erschaffen, so wie sie auch jedes Bakterium, jedes Sandkorn, jeden Stein, jedes Mineral, jede Wolke, jede Pflanze, jedes Insekt und jeden Menschen erschaffen hat. Alles zusammen bildet ein Ganzes. Eine Politik, die den Ausverkauf der Selbstverständlichkeiten vorantreibt, verneint diese natürliche Einheit, schließt selektiv Menschen vom Ganzen aus und praktiziert den finalen globalen Genozid.
Eine verbindliche Wahrheit
Allein durch seine Existenz — die auf diesem Staubkorn der Galaxis, das sich Erde nennt, ohne diese Selbstverständlichkeiten nicht möglich wäre — begründet sich der Anspruch eines jeden Menschen auf ihre freie Nutzung. Das ist eine der wenigen verbindlichen Wahrheiten und gleichsam ein Naturgesetz, das für seine irdische und außerirdische Wirksamkeit keine wissenschaftliche Expertise, religiöse Zustimmung, juristische Besprechung oder vertragliche Formulierung benötigt. Die Legitimation erteilen die unzähligen Lebewesen, die Tag für Tag auf diesem Planeten verhungern, verdursten oder ersticken.
Paradoxerweise werden in der zivilisierten Welt, in der man alle erdenklichen Versuche unternimmt, um sich als aufgeklärt, humanistisch und verantwortungsbewusst zu positionieren, Wasser, Grund und Boden wie auch Bestandteile der Luft dem freien Zugriff entzogen.
Das Bewusstsein, die elementare Klarheit über die Untrennbarkeit der menschlichen Existenz und der Selbstverständlichkeiten, wurde im Laufe des Zivilisationsprozesses zersetzt. Das Recht auf Privatbesitz und die uneingeschränkte Verfügungsgewalt wurde auf die Selbstverständlichkeiten ausgedehnt. Das ist ein herber Verlust an Freiheit und eine Barriere bei der Auseinandersetzung mit dem Selbstbild: Warum bin ich?
Eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Daseins lässt sich aus der Dualität Existenz und Selbstverständlichkeiten ableiten. Sie ist kein Maßstab zur Erklärung des Weltgefüges, sondern eine moralische Orientierung für ein lebenswertes Leben. Nämlich die uneingeschränkte personale Freiheit zu genießen, die Selbstverständlichkeiten zur Existenzsicherung heranziehen zu dürfen und den Garten des Überflusses, die Natur, die in ihrer Großzügigkeit jedem eine Heimat bietet, gleichsam vor der Vernutzung zu schützen.
Aus dieser sinnstiftenden Doppelfunktion, die jedem Individuum aus sich selbst heraus Beschränkungen bei der Nutzung auferlegt, wurde der einst in Freiheit lebende und ungezähmte Mensch entlassen —nun ist er zivilisiert.
Aber wo Zivilisation beginnt, wird Kultur vernichtet und die Verbindung zum Ganzen zerstört, also das, was mit dem Wort Spiritualität am besten beschrieben ist.
Der zivilisierte Mensch ist heute ein vereinzeltes Atom, aufgegangen in der Anonymität der industrialisierten Massengesellschaft, in der das Sein durch das Haben bestimmt wird. Der Zivilisationsprozess löste die natürlichen Gemeinschaften auf, in der das Teilen mehr soziale Anerkennung erfährt als das Besitzen. Raffen wurde zur beklatschten Eigenschaft. Wer hat, der strahlt, wer nichts hat, ist ein Störfaktor. Unbeachtet wie Knochen in der Sonne verblasst sein Ich. In einer echten Gemeinschaft wird jeder gesehen. Das ist vielleicht der markanteste Unterschied zwischen dem ursprünglichen Wir und dem zivilisierten Individualismus.
Hier und jetzt
Mit jedem technologischen Entwicklungsschritt, vom Faustkeil bis zur Gigafactory, vom Feuerstein bis zum Atomreaktor, von der Einzelanfertigung zur Fließbandproduktion und dem unstillbaren Verlangen nach Mehrwert, entfernte sich der Mensch weiter von seinem Ursprung. Das bewusste Sein in und mit der Natur ist verschüttet unter dem Geröll des nimmersatten Habenwollens in einer unnatürlichen Lebenswelt aus Plastik, Beton und Asphalt.
Das Besitzbewusstsein ist als Konstruktion fest im Denken verankert und ins praktische Handeln integriert.
Zweck und Nutzen sind die Taktgeber der sozialen Beziehungen. Achtsamkeit und gegenseitige Sorge, Kernelemente echter Gemeinschaften, sind käufliche Dienstleistungen.
Damit sind die Konturen der materialistischen Zivilisation skizziert. Es ist eine Gesellschaftsform des „Jeder für sich“ gegen jeden und des „Alle gegen sich selbst“.
Die elementaren Bedürfnisse, zu atmen, zu trinken und zu essen, wurden in diese säuerliche Melange eingetaucht und veredelt mit einer irrationalen Fortschrittsgläubigkeit, der Verrechtlichung aller Lebensbereiche und dem endlosen Streben nach Annehmlichkeiten für nie befriedigte Bedürfnisse. Versüßt mit dem Schlüsselwort Wohlstand, wurde die Verbindlichkeit gegenüber der Natur aufgelöst. Entstanden ist ein Reich des künstlich erzeugten Mangels. Das unnatürliche Recht einzelner Personen und kommerzieller Strukturen auf den exklusiven Zugriff und die Ausbeutung aller Ressourcen gilt als Normalität. Hier ist das Selbstverständliche nicht mehr selbstverständlich.
Im Feuersturm des Besitzbewusstseins, der Börsenplätze und Aktiencharts werden die Selbstverständlichkeiten von den Flammen aufgefressen, die umso wilder lodern, je mehr Selbstverständlichkeiten sie verzehren können: Trinkwasser als Kühlmittel für Serverfarmen, mit Solarparks veredelte Wiesen, mit Chemikalien durchtränktes Ackerland, von Abgasen verseuchte Luft in den überfüllten Wüsten, die sich Metropolen nennen, und der Emissionshandel, die moderne Variante des abendländischen Ablasshandels.
CO2-Zertifikate sind der Klingelbeutel in den Kathedralen der Pseudonaturschützer, die jedem noch so kleinen Lebewesen, das ihre Erträge mindert, mit Gift zu Leibe rücken, die Meere mit ihrem Müll verseuchen und den Planeten im Grunde verwüsten. Klingende Münze befreit ihr nicht vorhandenes Gewissen und die nach Rendite geifernden Shareholder von ihrer Schuld gegenüber dem Ganzen.
Die Glücklichen
Während ursprüngliche Gemeinschaften der Jäger und Sammler, in denen der Einzelne seine Identität aus der Gemeinschaft und dem gegenwärtigen Moment des Lebens speist — dem Hier und Jetzt —, keine Versuche unternehmen, mehr zu nutzen, als sie brauchen, sind in der zivilisierten Welt Empfindung, Wahrnehmung und Erleben auf das Haben fixiert. Durch das Erbrecht wird es von Generation zu Generation weitergereicht und auf die Zukunft ausgedehnt.
Die Pirahã beispielsweise, ein indigenes Volk von etwa 350 Menschen, das im Amazonasgebiet Brasiliens lebt, ist im Jetzt. Sie wissen nicht, was Besitz ist, zählen nicht, was sie haben, und schenken Vergangenheit und Zukunft keine Beachtung. Glaubhaft ist für sie nur das, was sie selbst sehen und erleben, und hin und wieder auch das, was ihnen jemand berichtet, der unmittelbarer Zeuge eines Ereignisses gewesen ist. Dieses Konzept der Wahrhaftigkeit imprägniert die Pirahã gegen Gerüchte und erstickt Empfindungen wie Besorgnis, Verzweiflung oder Angst, morgen nicht mehr das zu haben, was man heute hat, im Keim.
Was für den weltlichen Besitz gilt, ist ebenso für das Göttliche gültig. Das religiöse Storytelling von Sünde, Verdammnis und Erlösung, mit dem die katholische und die evangelische Kirche ihre Schatztruhen füllten und zu den bedeutendsten Großgrundbesitzern wurden, blieb bei den Pirahã wirkungslos.
Der US-amerikanische Sprachwissenschaftler Daniel Leonard Everett scheiterte in den 1970er-Jahren nicht nur mit dem Versuch, die Pirahã zu missionieren, sondern wurde nach seiner Erfahrung mit diesen freien Menschen ohne Angst, die inmitten der Selbstverständlichkeiten leben, zum Atheisten. Warum sollte man mit einem Gott glücklicher sein als ohne einen Gott? Darauf hatte der Missionar, der Jesus lediglich aus der Bibel und die Hölle nur vom Hörensagen kannte, keine Antwort (1).
Das Inferno
Die Selbstverständlichkeiten finden in der Zivilisation keinen Platz im sozialen Wertekanon. Sie werden unter Beihilfe der Religion, des Rechts und der Kraft des Kapitals zu Werkzeugen der Macht, um Herrschaft über die Besitzlosen auszuüben, sie zu dressieren, zu disziplinieren, nicht aber um sie zu inspirieren und sie aus dem Mangel zu befreien. Im Gegenteil: Der Reichtum wird immer stärker zugunsten einer Minderheit verdichtet. Über 40 Prozent der Weltbevölkerung teilen sich lediglich 0,6 Prozent des weltweiten Vermögens, während gerade einmal 1,6 Prozent der Menschen fast die Hälfte des weltweiten Vermögens besitzt.
Ein ähnliches Bild zeigt sich beim Ackerland. Es ist die Schlagader der Nahrungsmittelversorgung und in den Entwicklungsländern nicht selten der letzte Strohhalm, um sich wenigstens mit etwas Essbarem zu versorgen. Privatinvestoren, Konzerne, aber auch die Golfstaaten beispielsweise, deren Land- und Wasserressourcen begrenzt sind, kaufen das wertvolle Land mit ihren wertlosen Dollars aus dem Gas- und Ölgeschäft auf. Geld, dies zur Erinnerung, hat keinen Eigenwert. Es ist lediglich das aufkündbare Versprechen, dass man einen wirklichen Wert für sein Geld bekommt. Diese Substanzlosigkeit erinnert an Glasperlen, die für die Ureinwohner Nord- und Lateinamerikas eine magische Bedeutung und deshalb einen unschätzbaren Wert hatten, obwohl sie nicht mehr waren als billige Exportware der Kolonialisten aus Europa, deren Nachfahren in der Gegenwart nach Belieben die Gelddruckmaschine anwerfen.
Nach einer Schätzung der Entwicklungsorganisation Oxfam wurden zwischen 2001 und 2010 in Entwicklungsländern über 220 Millionen Hektar Land von ausländischen Investoren aufgekauft oder gepachtet. In Europa sieht es nicht anders aus. Bereits 2013 kritisierte die globalisierungskritische Nichtregierungsorganisation (NGO) attac die Praxis des sogenannten Land Grabbing in der Europäischen Union:
„(…) Land Grabbing ist nicht nur ein Problem des globalen Südens sondern schreitet auch in Europa voran: Drei Prozent der Grundbesitzer kontrollieren die Hälfte der landwirtschaftlichen Flächen in Europa. Diese ‚Landeliten‘ werden im Rahmen der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik (GAP) aktiv durch öffentliche Gelder gefördert. Kleinbäuerliche Betriebe hingegen erhalten immer weniger Förderungen und werden zunehmend verdrängt“ (2).
Diese Entwicklung ist keine außergewöhnliche Erscheinung. Aristoteles kritisierte bereits in der Antike die Ungleichheit der Vermögen. Im römischen Reich wurden im 3. Jahrhundert vor Christus die Kleinbauern durch die Großgrundbesitzer, die Sklaven auf den Feldern als billige Arbeitskräfte einsetzten, wirtschaftlich vernichtet. Heute sind es Maschinen und eine Handvoll Arbeiter, die den Acker umgraben und die Ernte einfahren. Morgen werden Roboter in vollautomatisierten Großbetrieben ihren Dienst verrichten. Wo bleibt der Mensch, der als Arbeitskraft nicht mehr gebraucht wird? Vielleicht wird er verfüttert …
Schon jetzt müssen Abermillionen darauf hoffen, dass ihnen, um zu überleben, eine Ration der Selbstverständlichkeiten von den Habenden zugeteilt wird.
Wer zudem Institutionen erschafft, die ein Entscheidungsrecht über die Verteilung der Selbstverständlichkeiten ausüben, bewegt sich auf eine globale Dystopie zu, ein Inferno, in dem die Würde jedes Menschen ebenso antastbar ist wie jedes Leben überhaupt.
Die Bruchlinie der Zivilisation
Die Haben-Zivilisation ist die reale Bedrohung der Spezies Mensch. Um diese Wahrnehmung zu verschleiern, wird in den Leib des moralischen Ichs, das den Anblick der Verelendung und des Mangels nicht ertragen kann, die toxische Geisteshaltung der Selbstbewunderung injiziert: Ich bin, weil ich habe; habe ich, bin ich — alles andere interessiert mich nicht. Das ist der neoliberale „Way of Life“, in dem der Mensch bis aufs Blut und auf seine Organe ausgenutzt wird, der verbrauchte und überflüssige Humanschrott wie in Berlin, Paris oder Washington auf der Straße landet, wie in Kairo in einem Grab auf dem Friedhof vegetiert oder wie in Manila auf der Müllhalde.
Eine gesellschaftliche Konstruktion, die auf dieser Grundhaltung aufbaut ist, hat keine Zukunft.
Die sozialen Strukturen, die an der Oberfläche einen Schatten von Festigkeit werfen, sind labil. Um sie zu stützen, werden Gleichheit, Brüderlichkeit und Freiheit ebenso geheuchelt wie der Schutz der Natur, der nicht das Ganze umfasst, sondern selektiv ausgrenzt: Das isolierende Haben distanziert die Menschen voneinander, entfremdet sie von den Selbstverständlichkeiten als verbindendes Element und den Einzelnen letztlich von sich selbst als soziales Wesen. Das ist die Bruchlinie der Zivilisation.
Die Ungleichverteilung der Selbstverständlichkeiten, die zweifelsfrei begünstigt wird durch geografische Gegebenheiten, infrastrukturelle Rückständigkeit und so weiter, ist im Kern Ausdruck des Besitzbewusstseins, das immer mehr Subjekte von der ungehinderten Nutzung der Selbstverständlichkeiten ausschließt. Mehr als zwei Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu Trinkwasser im Haus oder auf dem Grundstück. Über 700 Millionen müssen länger als 30 Minuten gehen, um ihre Grundversorgung mit sauberem Wasser zu decken (3). Und es werden immer mehr, die in diese Verhältnisse hineingeboren werden oder in sie hinabstürzen.
Der Zeitpunkt rückt näher, wo sich diese Massen gegen ihre Perspektivlosigkeit mit allen Mitteln wehren werden. Vorzeichen sind der Aufstand der Armen in Südafrika im Sommer 2021 oder die jüngsten gesellschaftlichen Eruptionen in Indonesien und Nepal, ausgelöst durch die Ignoranz, Dekadenz und die Korruption der herrschenden Eliten, die von goldenen Tellern speisen, während die einfache Bevölkerung darbt.
Diese Beispiele sollten ausreichen, um zu verdeutlichen, dass eine Revolution des Bewusstseins dringend notwendig ist, die im Ergebnis das Recht auf die Selbstverständlichkeiten neu ordnet und den absurden Kampf ums Dasein in einer ultrareichen Welt ein für alle Mal beendet.
Die von Mangel und Abhängigkeit befreiten Menschen werden eine positive Zukunft erfinden.
Wird in ihr der Reichtum begrenzt, das Erbrecht abgeschafft, Trinkwasser und Ackerland vergesellschaftet, die Luft vom Schmutz des Fortschritts gereinigt und Wohlstand für alle zum Standard? Ist es der bewusste Weg zurück zum Ursprung? Was auch immer zu besprechen ist, wird besprochen werden. Die Überführung in gelebte Praxis zeigt die neue Realität. Alles andere gipfelt in Verbrechen gegen die Menschheit — und in ihrer Auslöschung.