Risse in der Kinderseele

Auch in der Schweiz hat gewaltfreie Erziehung jetzt Gesetzesrang. Gut so, denn Leibesstrafen begünstigen die Entwicklung autoritärer Charaktere.

Das Züchtigungsrecht der Eltern wurde in der Schweiz mit der Revision des Kinderrechts 1978 abgeschafft. Körperstrafen wurden dadurch aber nicht verboten. Nun soll die gewaltfreie Erziehung auch in der Schweiz wie in fast allen europäischen Staaten gesetzlich verankert werden. Die vom Bundesrat vorgeschlagene Bestimmung „verpflichtet die Eltern explizit, in der Erziehung weder körperliche Bestrafungen noch andere Formen entwürdigender Gewalt anzuwenden. Die Kantone haben dafür zu sorgen, dass bei Schwierigkeiten in der Erziehung für die Betroffenen ausreichend Beratungsstellen zur Verfügung stehen. Dies mit dem Ziel, die Eltern des Kindes bei Erziehungsfragen präventiv zu beraten und bei Bedarf zur Bewältigung eines Konfliktes Unterstützung zu bieten“.

Am 23. August 2023 wurde die Vernehmlassung für diese Änderung des Zivilgesetzbuches eröffnet, die bis zum 23. November 2023 dauert. Wie es im Bericht des Bundesrats heißt, „kamen internationale Studien zum Ergebnis, dass die gesetzliche Verankerung der gewaltfreien Erziehung das elterliche Erziehungsverhalten verändern und die Akzeptanz von Gewalt nachhaltig senken kann.“ (1)

Österreich: Absolutes Gewaltverbot in der Kindererziehung seit 1989

In Österreich zum Beispiel sind „körperliche Züchtigungen“ in Schulen laut Unterrichtsministerium bereits seit 1974 gesetzlich verboten. 1977 wurde das „Züchtigungsrecht der Eltern“ beseitigt. Ein absolutes Gewaltverbot in der Kindererziehung gibt es in Österreich schließlich seit dem Jahr 1989.

Viele Kinder in der Schweiz von Körperstrafen und Demütigungen betroffen

Noch immer sind viele Kinder in der Schweiz von Körperstrafen und Demütigungen betroffen. 62 Prozent der Eltern geben zwar an, nie körperliche Gewalt einzusetzen, laut einer Studie der Universität Freiburg. Nach dieser Studie werden etwa 2 Prozent der Kinder in der Schweiz mit Gegenständen geprügelt, beispielsweise mit einem Gürtel. Jedes zehnte Kind soll von den Eltern mit Ohrfeigen bestraft werden. Auch kalt abgeduscht werden viele Kinder, und noch mehr erhalten Schläge auf den Hintern. Weiter wurde in dieser Untersuchung festgestellt: Viele Kinder und Jugendliche werden von ihren Eltern beschimpft, beleidigt, gedemütigt oder über längere Zeit ins Zimmer eingesperrt.

60 Prozent setzen solche Strafmaßnahmen ein. Sind solche psychischen Übergriffe von Erziehenden harmloser als Schläge? Eine neue Studie der Wingate University in North Carolina kommt zum Schluss, dass solches Verhalten von Erziehenden ebenso verletzend ist wie körperliche Gewalt. Das Anschreien, Schimpfen, Drohen, Beleidigen, Demütigen, Schuldzuschreibungen oder abwertende Kommentare seien eine Form der Misshandlung und ähnlich gravierend wie Vernachlässigung oder körperlicher und sexueller Missbrauch. (2)

Zwischenfrage: Wie behandelt Väterchen Staat seine eigenen und fremden Erwachsenen, Jugendlichen und Kinder, wie leben sie in einem der reichsten Länder der Welt? 745.000 Menschen sind in der Schweiz von Armut betroffen, circa 15 Prozent der Bevölkerung, (3) Viele Flüchtlinge leben mit 9 Franken pro Tag in einem Lager. Asylsuchende haben manchmal nur in Bunkern ihr Heim. In Ausschaffungsgefängnissen sitzen Menschen, ohne ein Delikt begangen zu haben, sechs Monate und mit Gerichtsentscheid bis zu 12 Monaten. (4) (5) Nach den kürzlichen eidgenössischen Wahlen in den National- und Ständerat wollen einige Schweizer Politiker und Politikerinnen Flüchtlinge nicht mehr so stark verwöhnen…

Ohrfeigenverbot „völlig weltfremd“?

Die Präsidentin der Organisation Kinderschutz Schweiz, Yvonne Feri, forderte schon lange einen Artikel im Zivilgesetzbuch gegen jegliche Gewalt an Kindern. Vor zehn Jahren wurde ein Vorstoß von ihr für ein Gewaltverbot in der Erziehung vom Bundesrat und im Parlament in Bern abgeschmettert. Der staatliche Eingriff in die Erziehung war im Vorfeld umstritten. Gegner sprachen von einem „Ohrfeigenverbot“, das „völlig weltfremd“ sei und zu einer „Hippie-Erziehung“ führe. (6)

Gewalttätige Erziehung verursacht Risse in der Seele des Kindes

Die gewaltfreie Erziehung soll nun also auch in der Schweiz gesetzlich verankert werden, vielleicht schon im nächsten Jahr.

Dabei ist in der Schweiz nicht nur unter Pädagogen seit Jahrzehnten bekannt: Eine gewalttätige Erziehung verursacht Risse in der Seele des Kindes, die auch einem Erwachsenen noch zu schaffen machen können.

Josef Rattner, ein Mitarbeiter der Psychologischen Beratungsstelle von Friederich Liebling, hat dies vor über fünfzig Jahren wie folgt formuliert:

„Die Tiefenpsychologie führt die Komplikationen des Erwachsenenlebens auf Misslichkeiten in den Kinderjahren zurück. Wo in der frühen Kindheit ein Riss in der Kinderseele erfolgt, wird eine verletzliche Stelle zurückbleiben, die bei allfälligen Lebensschwierigkeiten das Maß von Daseinsängsten derart erhöhen kann, dass Nervosität und seelische Krankheit ausbrechen.“ (7)

Für Rattner und für viele Pädagogen und Psychologen war schon damals klar: Kinder müssen gewaltlos erzogen werden, Ohrfeigen und Demütigungen schaden einem Kind, machen es krank und dumm.

Das Band des Vertrauens wird zerrissen

Der Psychiater Günter Pernhaupt und der Kinderarzt Hans Czermak hatten 1980 das Buch „Die gesunde Ohrfeige macht krank. Über die alltägliche Gewalt im Umgang mit Kindern“ publiziert. Pernhaupt und Czermak hatten in ihrem Buch gezeigt, „dass auch harmlose Klapse und Haarereißen Kinder krank machen können, und das Band des Vertrauens der Kinder zu den Eltern reißen lässt. In Zielgruppenuntersuchungen wurde schlüssig bewiesen, dass körperlich strafende Erziehung mit hoher Sicherheit zu einer krankhaften seelischen Entwicklung von Kindern führen kann, zum Beispiel zu Jugend-Kriminalität, Suizid, Depressionen und Drogenabhängigkeit.“ (8)

Im Wikipedia Eintrag zu Hans Czermak steht:

„Er (Czermak) stellte fest, dass 98 Prozent aller Kinder psychisch und physisch gesund geboren werden, aber bereits jedes zweite Kind schon nach einigen Lebensjahren mehr oder weniger psychisch gestört und behandlungsbedürftig ist. Er führte diese katastrophale Entwicklung auf die gängige und weitverbreitete Straf- und Prügelerziehung zurück, der viele Kinder schon ab dem ersten Lebensjahr ausgesetzt sind und die ein Ausgangspunkt für vielfältige Fehlentwicklungen Jugendlicher ist. Als deutliche Folgen dieser frühkindlichen Erziehungsdefizite sind Jugendliche aggressiv, leiden unter Depressionen, Schul- und Existenzängsten, zeigen Leistungs- und Entscheidungsschwächen; unterwerfen sich selbstzerstörerischen, rigiden Anpassungszwängen und entwickeln sich zu unglücklichen Außenseitern.“ (9)

Was auch noch zu erwähnen ist: Gefährliche Untertanenmentalität

Wer seine Kinder schlägt und demütigt, begünstigt auch politisch autoritäre Tendenzen und eine gefährliche Untertanenmentalität, die wir eigentlich alle nicht wollen. Dies zeigen Untersuchungen zur Entwicklung der autoritären Persönlichkeit.

Das Personal Hitlers wurde „gut“ erzogen.

Das Personal Hitlers, die Soldaten und Offiziere der Wehrmacht, die mordend und brandschatzend durch Europa zogen, wurden vermutlich von Vätern, Müttern und Lehrern auch autoritär und mit Körperstrafen „gut“ zum Gehorsam erzogen.

Soldaten und Offiziere gehorchten auf jeden Fall ihrem Führer. Sie erhielten für ihren „Dienst“ sogar später eine Rente, zusammen mit den SS-Schergen, die Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten, Deserteure, Kriegsdienstverweigerer, Zeugen Jehovas, Zigeuner und Homosexuelle in Konzentrationslager gesperrt und ermordet hatten. Deserteure und Kriegsdienstverweigerer in Deutschland erhielten jahrzehntelang keine Rente.

Deserteure und Kriegsdienstverweigerer wurden nach dem Zweiten Weltkrieg als Feiglinge und Vaterlandsverräter beschimpft.

Mehr als 30.000 Deserteure und Kriegsdienstverweigerer, Ungehorsame, wurden in der Zeit des Zweiten Weltkriegs in Deutschland zum Tode verurteilt. 23.000 wurden dann auch hingerichtet. Nach dem Krieg fanden die wenigsten überlebenden Deserteure und Kriegsdienstverweigerer Anerkennung, die meisten wurden als Feiglinge und Vaterlandsverräter beschimpft und bedroht. Erst 2002 sind die Urteile gegen die Deserteure der deutschen Wehrmacht gesetzlich aufgehoben und die wenigen Überlebenden damit rehabilitiert worden.