Russland, mein Russland

Man muss nicht immer dort gewesen sein — es gibt Menschen, die das Riesenland im Osten in ihrem Herzen tragen.

Über Russland ist in jüngster Zeit viel geschrieben worden. Vor allem über eine — aus westlicher Sicht — falsche Politik. Den Satz „Geh doch nach Moskau, wenn’s dir hier nicht passt“ bekam man schon im ersten Kalten Krieg zu hören. Andere denken, ohne im Land gewesen zu sein, könne man sich ohnehin kein Urteil über Russland erlauben. Der Autor ist aus der Schweiz, fühlte aber von Kindesbeinen an eine starke Verbindung zu dem schon damals im Westen wenig beliebten Land. Er studierte es aus der Ferne in Form von Filmen, Romanen, Musik, Naturdokumentationen. Seine Liebe zu dem Riesenland wuchs ganz unabhängig davon, was in der Presse darüber zu lesen war. Und auch wenn manches jenseits des nunmehr nach Osten gerückten Eisernen Vorhangs im Argen liegt — gilt dies für unsere vermeintlich so freie Welt etwa nicht ebenso? Ein Beitrag des Literatur-Salons.

Raissa Smetanina. Das ist ein Name aus meiner Kindheit. Schlüssel für eine Gegenwelt ebenso. Allerdings war ich ziemlich glücklich mit dem, was ich vorfand. Mit den Eltern, dem Garten, den Kindern, Wiesen und Wäldern rundherum. Eine Gegenwelt in das Vorgefundene einzuflechten, das ist jedoch meine Bestimmung. Und so habe ich das Abseitige als meine Schicht des Glücks schon früh entdeckt. Das Abfallende, Entartete, Dahinterliegende und Unanständige.

Damals, als es anfing, in den frühen Siebzigern, war ich der Einzige im Dorf, der für Russland war. Alle waren für die Amerikaner und ich für die Russen. Im Sport, in der Politik und überhaupt.

Außer Namen wusste ich indes kaum mehr, als dass es die Amerikaner gab und ihre Freunde und das nannte man NATO, dagegen aber die Sowjetunion, die ihre Freunde zu Versammlungen lud, die der Nachrichtensprecher des Schweizer Radios nachmittags um halb eins in meinen Ohren zwar sachlich und doch, wie mir schien, mit besonders tiefer Stimme als Warschauer Pack aussprach.

Weshalb ich für Russland war, wusste ich nicht. Wie ich manch anderes nicht wusste. Ich war einfach für Russland, das auf der Kleidung der Sportler mit CCCP angeschrieben war. Und weil das so angeschrieben dastand, hieß für mich Russland — auch Sowjetunion genannt, was mich weiter nicht wunderte, nannte man die Schweiz doch gelegentlich auch Eidgenossenschaft — in der Tat CCCP und ich sprach, meine Helden im Sport anfeuernd, diese drei Cs und das P aus wie eine Zauberformel, gerade weil ich mir nicht erklären konnte, weshalb die so angeschrieben waren.

Es gab einen Schweizer Alpinisten und Kommunisten, der in den Dreißigern mit sowjetischen Bergsteigerkollegen mehrere Gipfel in Zentralasien erklomm. Trotz gleichen Familiennamens, selten genug, konnte ich keine Belege finden, die meinen Großvater, eine halbe Generation jünger und ebenso einer jener seltenen Schweizer Kommunisten, mit diesem im Pamir zu Tode gekommenen Bergsteiger überzeugend verknüpft hätten. Vielleicht kannten sie sich zumindest aus Parteiversammlungen. Mütterlicherseits führten die Spuren nach Appenzell, also noch weniger nach Russland. Kurzum, meine Russlandliebe war von meiner Familie abgetrennt. Weder Vater noch Mutter und schon gar nicht die Geschwister hatten damit zu tun. Das war mir recht und im Grunde Voraussetzung.

Die Russlandliebe setzte sich fort, als das Rätsel mit den drei Cs und dem P aufgelöst und ebenso klar wurde, dass es nicht ein Warschauer Pack, sondern ein Pakt war — vom Gesindel zum Mephistophelischen übergehend sozusagen und ich konnte mich nicht entscheiden, was ich für besser halten sollte: Pack oder Pakt? Und dass selbst mir diese Warschauerpackpanzer, die zu Warschauerpaktpanzer wurden, ein leises Unbehagen bereiteten, Panzer, die, so deutete ich die Stimme des ansonsten sachlichen Nachrichtensprechers, auch gegen unsere Siedlung gerichtet sein mussten, soll nicht verschwiegen sein.

Ich beruhigte mich dahingehend, dass mich die Russen oder eben Sowjets, sollten sie eines Tages die Siedlung und die sauber gemähten Rasenflächen mit ihren Panzern tatsächlich überrollen, nach der erfolgreichen Eroberung aus ihren Panzern kletternd ja immerhin als einen der ihren erkennen und in ein nicht enden wollendes Händeschütteln verwickeln würden — dies spätestens, wenn sie in meinem Zimmer die aus der Sportzeitung herausgeschnittene Skilangläuferin Raissa Smetanina oder die Paarläufer Irina Rodnina und Alexander Saizew neben den Köpfen von Breschnew, Kossygin, Podgorny oder Gromyko, herausgetrennt aus dem vom Vater gelegentlich nach Hause gebrachten Spiegel, an der Wand hängen sähen und somit gar nicht anders könnten, als mich einer Sonderbehandlung zuzuführen, während meine bisherigen Freunde hinter Gitter abgeführt würden, Freunde, die mir, die Gefängnisstäbe mit ihren Händen umklammernd, bitter bereuend zulachten.

Die Zeit floss dahin, die Siedlung wurde von den Panzern nicht überrollt und ich verliebte mich auf dem Steg des nahen Badesees in Ursi, ein Mädchen mit sinnlich Lippen, roten Wangen, Pagenschnitt und straffem Badeanzug. Außerdem wurde der Erdnussfarmer Jimmy Carter Präsident und machte die Amerikaner gegen meinen Willen selbst mir sympathisch. Und so musste ich die Köpfe von Breschnew und Co noch vor 1980 von den Wänden wohl wieder entfernt haben, und dass mit diesem Stalin etwas nicht Ordnung gewesen sein konnte, das ging ja doch auch an mir nicht gänzlich vorbei, obgleich selbst dies meine tiefe Verbundenheit mit Russland nicht zu beeinträchtigen vermochte, im Gegenteil, spürte ich doch deutlich, dass ich nicht nur Russland, sondern mehr noch das Leid der Menschen darin wenn nicht zu lieben, so doch in gewisser Weise zu schätzen begann. Das schwer über unendlichen Weiten Hängende: Das war Russland.

Und als ich russische Musik zu hören begann, Tschaikowski, Rachmaninow, Mussorgski, und später beim Lesen der Gebrüder Karamasow, am meisten aber in den Filmen Andrei Tarkowskis Stalker, Andrej Rubljow, Serkalo potenzierte sich meine Russlandliebe abermals, denn im Gegensatz zum Schnellfraß des Westens und seinem Hang zum Technischen, Bequemen und Leichten, fand ich in diesen Klängen und Bildern und in den langen Sätzen Dostojewskis meine Fragen an das Leben wieder, Fragen, die eines weiten Raumes bedurften, um überhaupt erst gestellt zu werden.

Die Liebe zu Russland ist geblieben, obgleich ich niemals nach Russland gekommen bin und der Versuch, die russische Sprache zu erlernen, dreimal scheiterte. Allerdings vermied ich es wohl absichtlich, eine Reise nach Russland zu planen, als hätte ich Angst, dort angekommen mein Russland zu verlieren.

Einmal aber, Mitte Neunziger, rückte Russland dennoch sehr nahe. Zusammen mit meinem Doppelgänger wollte ich mit einem VW LT 35 Diesel nach Indien reisen und dabei das Kaspische Meer nördlich über den Südural und das westliche Südsibirien umfahren, um weiter über Kasachstan und China nach Indien zu gelangen. Damit wäre ich endlich nach Russland gelangt, ohne Russland als Ziel anzuschreiben. Indes, auf chinesischem Boden hätten wir einen Staatsbeamten am Steuer unseres VW-Busses dulden müssen, ansonsten hätten wir keine Genehmigung zur Durchfahrt erhalten. Das ließ am Ende unseren Plan platzen. Stattdessen verbrachten wir, die südliche Route über die Türkei, Iran und Pakistan wählend, lange Wochen in Georgien, ein Land das mir unmittelbar ans Herz wuchs und das ich in den Folgejahren weitere Male besuchte.

Die Georgienliebe aber rieb sich alsbald an der Russlandliebe, denn im nachsowjetischen Georgien war, historisch verständlich, alles Russische verpönt und böse. Vor allem in den Hauptstadtkreisen, in denen wir uns aufhielten. Dem Amerikanischen — selbst in der Fassung des Georg W. — dagegen verschrieb man sich weitgehend bedenkenlos. Nicht, dass ich die Bushs und McCains nun ebenso zu lieben begonnen hätte, aber ohne Auswirkung war das dennoch nicht, teilte ich doch plötzlich mein Russland auf, etwa, indem ich mich deutlich vom damals schon im Amt wirkenden Präsidenten Putin absetzte. Ein verschlagener KGBler sei er, so sprach ich gegen ihn an, ganz im Sinne meiner georgischen Freunde. Und dass Chodorkowski eines seiner unschuldigen Opfer sei, das glaubte ich eine Zeit lang tatsächlich. Erst der OSZE-Bericht über den Georgienkrieg aus dem Jahr 2008, verantwortet von der Schweizer Chefdiplomatin in Heidi Tagliavini, ein Bericht, der die Schuld für den Kriegsausbruch beim damaligen georgischen Präsidenten Saakaschwili verortete, brachte mich zur Vernunft zurück.

Zurückblickend nährte Georgien meine Russlandliebe am Ende gar. Unzählige Male fuhr ich in Gedanken die georgische Heerstraße durch den Kaukasus bis ins russische Wladikawkas weiter. In Georgien selbst aber fühlte ich mich dem östlichsten Landesteil Kacheti am meisten zugetan. Dort nämlich hing über der weiten Ebene des Alasani-Tales und in den Klängen der lokalen Volksmusik die wunderbare Schwere, die ich mit Russland und der Sehnsucht meiner Kindheit verband. Und dass die Kacheten Wein und nicht Wodka tranken, störte nicht. Mit Wodka war meine Russlandliebe nie verknüpft.

Mit den Jahren wuchs die Ahnung, niemals in meinem Leben nach Russland zu gelangen, und der Wunsch, Russland immerhin ein kleines bisschen real zu erleben, ließ mich in Dokumentationen über das Land eintauchen. Und weil es Russland war und nicht irgendein Land, schaute ich eben nicht, vielmehr war ich seelisch vor Ort, wenn die Kameras Straßen, Plätze, Menschen und Landschaften filmten.

Auf diese Weise war ich mehrmals im Sanddorf Schoina an der Polarmeerküste, ich war mit jungen, mitunter betörend schönen Zirkusartistenkünstlern und Künstlerinnen, die ihre mehrjährige Ausbildung mit improvisierten Vorstellungen in alten Dörfern rund um den Seligersee auf den Waldaihöhen abschlossen, besuchte die Kirchen und Klöster Walaam, Kischi und Solowetzki auf Inseln im Ladogasee, Onegasee und Weißen Meer und war mit Bären am Baikalsee und auf Kamtschatka auf Lachsjagd. Ich trieb auf dem Jenissei und der Lena dem Eismeer zu, durchquerte auf Wegen und Straßen, die sich alsbald auflösten, Taiga und Tundra, fuhr in Lkws zu Winterzeit durchs Werchojansker Gebirge und nach Tiksi, verbrachte auf dem vereisten Baikalsee zusammengerechnet ganze Wochen, fror in Oimjakon bei Temperaturen unter minus 50 Grad und ließ endlich meine Sehnsucht und ihren Rausch hinter dem Altai in den mongolischen Steppen verdampfen. Das Bild aus dem Beamer erlosch und ich fand mich im Wohnzimmer wieder.

Die angesprochene Kälte allerdings, um präzise zu sein, blieb gewissermaßen abstrakt. Während alles andere in mir sinnlich wurde, Landschaften, Begegnungen, Dörfer, Bären und der Lachs, den sie zerfetzten, weiß ich bis heute nicht, wie sich die Kälte in Oimjakon wirklich anfühlt. Ist es eine Ohrfeige oder doch vielmehr eine dumpfe Betäubung, welche alles Seiende entrückt?

Gänzlich Teil meiner selbst ist inzwischen das Wilde Russland geworden. Wenn ich die DVDs mit dem gleichnamigen Titel einlege, so nicht, um etwas über Russland zu erfahren, nicht, um Russland zu bereisen, ich lege die DVD ein, um mich von der Welt zu reinigen, von den Nachrichten, von den Stimmen der Moderatoren, von der Zivilisation, der ich ausgesetzt bin. Lege ich das Wilde Russland ein, so zersplittert nämlich der westliche Machbarkeitswahn an den sieben Felsenheiligen der Mansen im Ural. Und er verliert sich in den Weiten der Amurmündung im Fernen Osten, versinkt in den Tiefen des Baikalsees, wird von der Lena ins Eismeer getrieben und zuletzt von den Vulkanen auf Kamtschatka eingeäschert. Ich brauche keine Psychologen und Therapeuten, keine Heiler, ich brauche das Wilde Russland. Die Bilder allein, die Klänge, die dazu gemischt sind, die Namen: Das ist mein Gottesdienst und meine Rettung seit nun bald fünfzehn Jahren.

Allerdings bin ich auch schon über profane YouTube-Pfade durch ganz Russland bis nach Wladiwostok gefahren, mit einem Opel oder einem Mitsubishi, so glaube ich. Die Kamera an der Windschutzscheibe montiert. Oder mit schweren Motorrädern, die Kamera am Helm. Mit der Transsibirischen Eisenbahn sowieso, einmal jedoch ebenso mit dem Fahrrad eines Holländers. Durch ein Netz gegen Mücken geschützt, radelte ich im Hochsommer bei Temperaturen um die 40 Grad von Irkutsk Richtung Magadan. Das Netz erwies sich dem Mückenansturm nicht gewachsen. Diese YouTube-Fahrten, profan genug wie gesagt, sind nicht zu vergleichen mit dem Wilden Russland. Der Sehnsucht aus der Kindheit allerdings entspringen auch sie.

Wie bei allem Heiligen liegt das Heilige auch bei meinem Russlandkult zuletzt im Namen selbst. Im Wort, das am Anfang ist. Neben Smetanina, Moissejewa, Ponomarenko waren es früh schon Städte, über deren Lautfolgen ich meditierte. Samara, Tscheljabinsk, Krasnodar. Und selbst als die Ironie in mein pubertäres Leben trat und ich mich hinter Spielereien zu verstecken begann, behielten russische Namen ihre Faszination. Über „Nowosibirsk“ verfasste ich in dieser Phase ein langes, dadaistisches Poem, das in seinen besten Zügen an Jandl erinnert. Zwar fand sich das Heilige in dieser Spielanlage naturgemäß überschrieben, aber darunter blieb es erhalten. Und als ich Jahrzehnte später für das Ende eines romanartigen Textgeflechts — Erzählungen von Gott und vom Gehirn, so sein ursprünglicher Name — einen Ort brauchte, so kam das Ende in Russland zu liegen und der Ort hieß Krasnojarsk, ein Name, der mich viele Jahre immer wieder beschäftigt hatte.

Nun, es ist nicht wirklich Krasnojarsk, die Stadt, die gemeint ist, vielmehr handelt es sich bei dieser Endszenerie um eine weite Fläche an den Ufern des Jenissei bei Krasnojarsk, wo anlässlich eines lokalen Open-Air-Konzertes ziemlich unvorhergesehen eine weltbekannte Popband aus den Siebzigern unter lichtem sibirischen Gewölk zu ihrer letzten und einzigen analogen Wiedervereinigung zusammenfindet. Und wieder war es am Ende das Heilige im Namen selbst, was mich dazu bewog, dieses Unmögliche und in gewissem Sinne auch Grotesk-Pathetische als letzten Ort eben dieses Schreibens mit Krasnojarsk zu zeichnen und damit meine russische Gegenwelt aus der Kindheit in das Ende dieses unbekannten und niemals einer Veröffentlichung zugetriebenen Romans zu überführen.

In den letzten Jahren allerdings rückten vermehrt Berichte über Russland losgelöst von aller Heiligkeit in den Mittelpunkt meines Interesses. Berichte über das alltägliche, das reale Russland des 21. Jahrhunderts, über Proteste gegen eine Überbauung eines Parks in Jekaterinburg, über das Opernhaus in Perm und seinen griechischen Dirigenten, über Besuche in Schwulenklubs in St. Petersburg, Moskau und Nischni Nowgorod. Auch kritische Beiträge Edward Snowdens zur breitflächigen Überwachung der russischen Bürger durch elektronische Medien und Technologien gehörten dazu, wobei ich mich durchaus fragte, ob ein politischer Asylant hier im Westen sich gleichermaßen kritisch äußern könnte.

Dass sich das Smarte und Seelenlose auch in meiner Gegenwelt bedrohlich eingenistet hat, das ist mir unterdessen bewusst. Und doch ist die rätselhafte Schwerkraft des Orthodoxen geblieben. Dieses mein Russland in meinem Innern, gewachsen in der Kindheit: Es ist so stark, dass selbst die Smartphones es nicht tilgen können.

Und ich bin nicht der Einzige. Auch Rainer Maria Rilke war russlandkrank und auch er wollte davon nicht kuriert werden. Gleiches gilt für meinen kurdischen Freund, mit dem ich, durch den Vorgebirgspark ziehend, den Coronazauber verarbeitete.

Russland ist ein Inneres, das in einem fort aus sich selbst drängt, um seiner gewiss zu werden. Es ist die Ewigkeit und das Verschwinden zugleich. Mein Russland ist mein Abgrund und meine Romantik und meine ewige Flucht ins göttliche Nichts. Da greifen keine Sanktionen.