Schach mit Arafat

Zum Tod des israelischen Journalisten und Friedensaktivisten Uri Avnery.

Uri Avnery, einer der ersten Israelis, die sich für einen palästinensischen Staat aussprachen, ist tot. Robert Fisk, der ihn persönlich kannte, schreibt von seinen Begegnungen mit diesem streitbaren, unermüdlichen, mutigen israelischen Linken - ein Nachruf, der keiner sein soll.

Uri Avnery - einer meiner wenigen Helden im Mittleren Osten
von Robert Fisk

Irgendwie passte es, dass mir einer von Israels entschiedensten Gegnern, der libanesische Drusenführer Walid Jumblatt, als Erster von Avnerys Tod berichtete. Eine Legende, die die traurige Nachricht über eine andere Legende überbringt – ein Sozialist, der um einen Genossen zu trauern beginnt und sein Beileid für den 94-jährigen israelischen politischen Philosophen ausdrückt.

Dieser Philosoph war einst ein deutsch-jüdischer Schuljunge gewesen, der ursprünglich Helmut Ostermann hieß und sich geweigert hatte, in der Schule den Arm zum Hitlergruß zu heben – der aber, als ich Jumblatts Nachricht erhielt, noch immer und ganz besonders „ein unverzichtbarer Geist war, der die Geschichte des Faschismus, eines wesentlichen zerstörerischen Elementes des 20. Jahrhunderts verstand“ – laut Jumblatt. Avnery, so fügte er hinzu, verstand auch „die Geschichte des Zionismus – eine andere verachtenswerte Apartheidtheorie, die ein Ableger des Faschismus ist“.

Uri Avnery erlitt am Wochenende einen schweren Herzinfarkt und verstarb Montagmorgen – er war jedoch selbst ein Zionist oder glaubte zumindest an ein linkes, mutiges, aber demütiges Israel als „Licht unter den Nationen“, an das viele von uns in unserem Innersten glauben möchten.

Er war einer jener Israelis, zu denen wir weichherzigen Liberalen gehen, wenn wir in Israel ankommen – weil sie sagen, was wir hören wollen.

„Sag´ Jumblatt, er muss seine Sätze in Absätze einteilen“, sagte mir Avnery, als ich vor sechs Jahren seine Wohnung in Tel Aviv verließ. „Er sagt alles in einem einzigen langen Text und ich bekomme kaum noch Luft.“ Ich gab die Lektion brav an Jumblatt weiter – von einem Mann, dessen Absätze oft aus einem einzigen Satz bestanden – eine Angewohnheit, auf die man sonst eher im Boulevardjournalismus stößt, die manchmal aber die Dinge gut auf den Punkt bringt.

Schriftsteller, Journalist, Linker…

Ich gestehe, dass Uri Avnery einer meiner Helden des Mittleren Ostens war – derer gibt es nicht viele – und sein Leben wäre eine Verfilmung wert, wenngleich wahrscheinlich kein Spielberg die Regie führte: Er war Schriftsteller, Journalist, Linker, Veteran der israelischen Armee im Unabhängigkeitskrieg – dem selben Krieg, der 750.000 Palästinenser aus ihren Häusern und von ihrem Land vertrieb –, was Avnery nie vergaß.

1982 spielte er während der Belagerung von Beirut mit Arafat Schach – Sie können sich darauf verlassen, dass dies in den heutigen Nachrufen in den ersten zwei Absätzen Erwähnung finden wird. Seine ärgerlichen, aber milde zynischen Rundschreiben, Sendschreiben aus seinem mit Büchern vollgestopften Haus in Tel Aviv, nahe am Meer aber in einer bescheidenen ruhigen Straße gelegen, wo Avnery herumstromern und brüllen konnte, erschienen immer am Freitagnachmittag und verurteilten Netanjahu für seine Heuchelei sowie seinen Rassismus und Sharon für seinen Hass auf die Palästinenser.

Als ich ihn vor sechs Jahren zum letzten Mal wieder traf, war er ein bisschen taub geworden, aber er sprach so schnell und in so perfekten Sätzen, dass mein Stift über das Papier meines Notizbuches glitt, bis mir die Tinte ausging und ich mir Avnerys Stift ausleihen musste. Das Notizbuch habe ich noch immer – und die Farbe der Tinte wechselt in dem Augenblick von meinem Schwarz zu seinem blassen Blau, wo er mit hoher Geschwindigkeit über die Hamas spricht, mit der er sich oft getroffen hat – wütend darüber, dass aus Gaza eine Geschichte über Raketenangriffe und Racheakte wurde.

„Sprecht mit der Hamas!“

„Wann immer eine der beiden Seiten wieder mit der Schießerei anfangen will, wird sie das tun“, sagte er. Die Tinte hatte gerade ihre Farbe gewechselt. „In Gush Shalom {das Avnery gegründet hatte}, haben wir vor fünf Jahren einen Aufkleber angebracht, der sagte: ´Sprecht mit der Hamas`.“

Friede ist möglich - man muss ihn nur wollen

Dies ist kein Nachruf auf Uri Avnery, wenngleich diese Institution den großen journalistischen Verdienst eines Anfangs, Mittelteils und Endes innehat. Weil Avnerys Warnungen und Vorherwissen so aktuell waren – so absolut am Ball für die derzeitigen Nachrichten aus Tel Aviv –, dass sie jetzt, heute, wiederholt werden können, als wäre der große linke Kämpfer noch immer unter uns.

Er ist dort, in meinem sechs Jahre alten Notizbuch, so lebendig, und fordert noch immer den Frieden mit den Palästinensern, mit der Hamas, fordert auch Großzügigkeit und einen palästinensischen Staat gemäß der Grenzen von 1967 (plus/minus ein paar Meilen).

Er glaubte auch, in Israel könnte morgen schon Friede herrschen oder nächste Woche – wenn nur Netanjahu ihn wollte. „Das Unglück eines unverbesserlichen Optimisten“ – so beschrieb er mir gegenüber sein Dilemma. Vielleicht aber auch ein Illusionist?

Seine Familie war aus Nazi-Deutschland nach Palästina geflohen und ich besuchte ihn, der mit Arafat Schach gespielt hatte, wieder nach dem Massaker von 1982, bei dem bis zu 1700 Palästinenser in den Flüchtlingslagern Sabra und Chatila in Beirut ermordet worden waren – ein Kriegsverbrechen, das von der mit Israel verbündeten Christlichen Phalanx (eine mit israelischen Waffen unterstützte Miliz, Anmerkung der Übersetzerin) verübt worden war, während israelische Soldaten zusahen und nicht eingriffen. Ich bin über die Leichen des Lagers gestiegen. „Wie können die Überlebenden des (jüdischen) Holocaust und deren Kinder dies den Palästinensern antun?“ fragte ich Avnery. Die Antwort des damals nur 63-jährigen Avnery verdient es, wortwörtlich und in Gänze abgedruckt zu werden:

Die moralische Immunität Israels

„Ich werde dir etwas über den Holocaust erzählen. Es wäre schön zu glauben, dass Menschen, die sehr gelitten haben, durch dieses Leid auch geläutert würden. Aber das Gegenteil ist der Fall – sie werden dadurch schlimmer. Es korrumpiert. Es gibt da etwas im Leiden, das eine Art Egoismus erzeugt. Herzog {der damalige israelische Präsident} hielt im ehemaligen KZ Bergen-Belsen eine Rede – aber er sprach nur von den Juden. Wie konnte er es unterlassen zu erwähnen, dass andere – so viele andere – dort auch gelitten hatten? Kranke Menschen, wenn sie Schmerzen erleiden, können über niemand anderen als sich selbst sprechen.
Und wenn seinem Volk solch monströse Dinge angetan wurden, hat man das Gefühl, dass dies mit nichts zu vergleichen sei. Man hat dann eine moralische „Vollmacht“, eine Erlaubnis, alles zu tun, was man möchte – weil nichts an das herankommt, was einem angetan wurde. Diese moralische Immunität wird ganz klar in Israel empfunden. Ein jeder ist davon überzeugt, dass die israelischen Verteidigungsstreitkräfte humaner sind als jede andere Armee. „Reinheit der Waffen“ war 1948 der Slogan der Haganah-Armee. In Wirklichkeit war das aber nie der Fall.“

Politisches Märtyrertum

Und Avnery gehörte zu dieser Armee und erlitt im Krieg von 1948 eine schwere Verletzung. Er wurde sogar Mitglied der Knesset, nach seinem Treffen mit Yasser Arafat in Beirut jedoch vom israelischen Kabinett bedroht. Israelische Minister verlangten, er solle wegen Verrats angeklagt werden. Ich glaube, dass Avnery hierauf ziemlich stolz war.

Seine grantige, irritierende, mutige Persönlichkeit konnte das gelegentliche politische Märtyrertum gut aushalten – etwas, was die modernen Sozialisten nicht einmal in Erwägung zu ziehen wagen.

Netanjahu brachte den alten israelischen Soldaten von 1948 in Rage – als ich Avnery vor sechs Jahren zum letzten Mal traf und auch noch in den Tagen vor seinem Tod. „Was sollte der Gaza-Krieg erreichen?“, fragte ich ihn 2012, gab es doch immer einen eben stattgefundenen Gaza-Krieg in der neueren israelischen Geschichte – der damals letzte, im November 2012, hatte 107 Zivilisten in Gaza und 4 auf der israelischen Seite der Grenze das Leben gekostet. „Was machten Netanjahu und seine Regierung damals und auch heute dort?“, fragte ich ihn.

Apartheid statt Frieden

Avnerys Augen funkelten und er spuckte die Antwort förmlich heraus:

„Du meinst zu wissen, was sie {Netanjahus Regierung} wollen und Du nimmst an, dass dies der Frieden ist – deswegen hältst Du ihre Politik für dumm oder verrückt. Wenn Du aber davon ausgehst, dass ihnen der Frieden egal ist und sie einen jüdischen Staat vom Jordan bis zum Mittelmeer haben wollen, dann macht das alles zumindest einen gewissen Sinn. Das Problem ist nur, dass dies in eine Sackgasse führt … Wenn sie die Westbank genau so annektieren wie sie Ost-Jerusalem annektiert haben, macht das keinen so großen Unterschied.
Schwierig könnte es dadurch werden, dass es in dem Gebiet, das nun von Israel beherrscht wird, 49 Prozent Juden und 51 Prozent Araber gibt – und das Gleichgewicht wird sich weiter zu Gunsten der Araber verschieben, weil der arabische Bevölkerungszuwachs größer als jener der israelischen Bevölkerung ist. Die wirkliche Frage ist also: Was für eine Art Staat wird das sein, wenn diese Politik weiter betrieben wird? Unter den heutigen Bedingungen ist es ein Apartheidsstaat – eine vollständige Apartheid in den besetzten Gebieten und eine zunehmende Apartheid in Israel. Wenn es jedoch so weitergeht, wird zweifelsohne bald eine vollständige Apartheid im ganzen Land herrschen.“

Und weiter ging es mit Avnerys trostloser Erörterung: Wenn den Arabern Bürgerrechte bewilligt werden, wird es eine arabische Mehrheit in der Knesset geben – und das erste, was sie dann tun werden, ist die Umbenennung von „Israel“ in „Palästina“. „Damit wäre dann die ganze {zionistische} Übung der letzten 130 Jahre umsonst gewesen“. Avnery versicherte mir, eine massenweise ethnische Säuberung sei im 21. Jahrhundert nicht möglich. Ich bin mir da nicht so sicher.

Die israelische Linke - eine aussterbende Spezies

Er dachte oft über das Verschwinden der israelischen „Linken“ nach – nachdem der (israelische) Labour-Chef Ehud Barack 2000 von den Gesprächen in Camp David als selbst ernannter Leiter des „Friedenscamps“ zurückgekommen war „und uns erzählt hatte, wir hätten keinen Friedenspartner“, sagte Avnery, die Linken befänden sich „im Winterschlaf“. Die Aussage Baracks war ein Todesstoß gewesen – nicht Netanjahu hatte diese Worte geäußert, sondern die Führung der Labour Partei. Das war das Ende von „Peace Now“.

Vertane Chancen

Vielleicht sollten Avnerys nächste Worte auf seinem Grabstein eingemeißelt werden: „Als ich 1982 Arafat traf“ – er sollte ihm noch öfter begegnen –,

„lagen die Bedingungen alle auf dem Tisch. Die palästinensischen Mindest- und Höchstbedingungen waren eins: ein palästinensischer Staat an der Seite Israels, einschließlich der Westbank, dem Gazastreifen und Ost-Jerusalem als Hauptstadt, ein wenig Landaustausch und eine symbolische Lösung des Flüchtlingsproblems. Aber all das liegt nun auf dem Tisch wie eine verwelkte Blume …“

Avnery war bis zum Schluss davon überzeugt, dass die Hamas all dies auch akzeptieren würde. 1993 hielt er einen Vortrag vor Mitgliedern der Hamas in Gaza – „da stand {ich}, vor 500 schwarzbärtigen Scheichs, und sprach auf hebräisch zu ihnen – man applaudierte mir und lud mich zum Mittagessen ein.“ Avnery erklärte, dass Palästina ein „waqf“ für sie sei, das nicht übergeben werden könne; eine Waffenruhe jedoch könne von Gott abgesegnet werden.

„Hätten sie einen Waffenstillstand über 50 Jahre angeboten, hätte mir das persönlich gereicht … Sicher ist im Manifest der Hamas die Zerstörung Israels vorgesehen. Aber ein Manifest zu verwerfen ist sehr schwierig – haben die Russen je ihr Kommunistisches Manifest für null und nichtig erklärt? Die PLO tat es.“

Avnery ist tot - Lang lebe Avnery!

2012 schloss ich meinen Bericht über den damals 89-jährigen Avnery mit der Beobachtung ab, „dass es nicht wenige Liberale in Israel gibt, die hoffen, dass Uri Avnery für nochmals 89 Jahre lebt“. Nun gibt es noch weniger Liberale, und Avnery lebte nur für weitere knappe sechs Jahre. Nächsten Monat hätte eine Geburtstagsparty für den dann 95-Jährigen stattfinden sollen. Sollten sie das Fest trotzdem steigen lassen, sollten Avnerys Freunde und auch seine Feinde verkünden, dass Avnery tot ist – um dann hinzuzufügen: „Lang lebe Avnery!“


**Robert Fisk **ist Politikwissenschaftler und Journalist und lebt bereits seit 40 Jahren in der arabischen Welt. Seit 1989 ist er Korrespondent für den Mittleren Osten beim Independent in Beirut.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Uri Avnery: One of My Few Heroes in the Middle East". Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.