Schaum vor dem Mund

Der Hass in der Gesellschaft hat pandemische Ausmaße angenommen.

Als „Hater“ bezeichnet man Leute, die eine besondere Befriedigung daraus zu schöpfen scheinen, im Internet andere zu beschimpfen. Ähnlich wie bei Angststörungen, wird auch die Fixierung auf Hass aber nicht mehr als Krankheit erkannt, wenn es sehr viele Mitmenschen sind, die unter ihr leiden. Seit Beginn von „Corona“ erleben wir eine unerhörte Welle des Hasses und der Ausgrenzung aller, die die vorgegebene Erzählung nicht verinnerlichen wollen und es wagen, Kritik oder auch nur Zweifel zu äußern. Der Hasssturm erfasst aber nicht nur „Corona-Leugner“ und „Covidioten“ oder prominente Einzelpersonen wie Nena oder Novak Djokovic, sondern auch Berufsstände wie Heilpraktiker sowie Weltanschauungen, beispielsweise die Esoterik oder die pädagogischen Ansätze der Waldorfschulen. Dass bei diesem schon pathologisch zu nennenden Handeln keine Selbsterkenntnis erfolgt, liegt auch in dem Wohlgefühl begründet, welches das Hassen — insbesondere mit gutem Gewissen — bei vielen Menschen auslöst.

Italiens Medien und Politik schäumen vor Wut und Fassungslosigkeit, und auch in Deutschlands Presselandschaft ist das Entsetzen groß — „Skandal-Banner in Italien!“ titelte die Bild. Der Tenor: Man sei ja einiges von diesen Typen gewohnt gewesen, aber jetzt haben sie es endgültig zu weit getrieben und eine moralische Grenze überschritten, die für alle Friedfertigen und Vernunftbegabten als in Stein gemeißelt gilt. Schockierend. Beschämend. Erbärmlich.

Was ist passiert?

Vor dem Punktspiel der ersten italienischen Liga Serie A, Hellas Verona gegen SSC Neapel am 13. März 2022, befestigten die Hellas-Ultras ein Spruchband am Zaun eines Parkplatzes vor dem örtlichen Stadion Bentegodi. Auf dem Stück Stoff waren aber nicht die handelsüblichen drastischen Beleidigungen aus der Fußballszene zu lesen — die im Falle Verona versus Neapel ohnehin schon ziemlich deftig ausfallen, Beispiel: „Keine Tierversuche, nehmt Neapolitaner!“ —, sondern die Flaggen Russlands und der Ukraine sowie die geographischen Koordinaten eines Punktes im neapolitanischen Stadtviertel Santa Lucia, daneben die Signatur „Curva Sud“ mit dem Scaliger-Wappen — Herren von der Leiter — der Provinz Verona.

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In einem Reiseführer heißt es:

„Borgo Santa Lucia ist ein Stadtviertel am Meer mit Cafés im Freien und familienfreundlichen Pizzerien (…). Am Aussichtspunkt der Rotonda di Via Nazario Sauro hat man einen wunderbaren Blick auf den Golf von Neapel und den Vesuv. Die Basilica di Santa Lucia a Mare mit einem restaurierten Portikus wird zu beiden Seiten von imposanten Palazzi überragt.“

Und diesen pittoresken Ort, wünschte sich die Curva Sud, mögen die Russen doch bitteschön mal bombardieren.

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Im Spiegel

Nun kann man sich der Empörung anschließen und strenge Strafen für die in dieser Hinsicht einschlägig bekannten Hellas-Ultras fordern. Man kann es aber auch nicht dabei belassen und darüber hinaus konstatieren, dass das Banner von Verona noch eine tiefere Bedeutung hat als nur die hässliche, provokante Äußerung in Richtung Neapel und seiner Einwohner: nämlich die eines Spiegels.

Denn wo liegt der Unterschied zu den von tiefem, ja perversem Hass getränkten Äußerungen gegenüber Gegnern der Corona-Maßnahmen und „Ungeimpften“ und seit Kurzem gegen Russen?

Wenn sich beim Anblick von Demonstranten der Einsatz eines Flammenwerfers gewünscht oder in den Kommentarspalten von Online-Zeitungen über Ungeimpfte fantasiert wird, die im Krankenhaus um ein Beatmungsgerät winseln, vom Arzt kalt lächelnd abgewiesen werden, um sodann ihren verdienten qualvollen Erstickungstod zu erleiden. Hasta la vista, Baby.

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Ein Unterschied besteht natürlich schon: Während der Hass der Veroneser klar und pur ist und ohne Alibi auskommt, funktioniert das beim Hass der neuen Wutbürger nicht so konsequent. Die Hellas-Ultras hassen nicht nur Neapel, sie hassen so ziemlich alles und alle und vielleicht sogar sich selbst. Aber der neue salon- und ikeawohnzimmerfähige Hass kann nicht hassen um des Hasses Willen wie die Curva Sud. Dieser Hass benötigt eine Rechtfertigung, einen moralischen Lendenschurz, ein Banner mit den Koordinaten des Guten, Wahren und Schönen.

Als der Journalist Boris Reitschuster Ende August 2021 in Berlin eine Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen in Bild und Ton begleitete, wurde er von einem Balkon mit einem Blumentopf aus Keramik beworfen und entging nur knapp einer schweren Verletzung oder gar Schlimmerem. Die Kamera schwenkte hoch zum Ort des Verursachers und zu sehen war: Am Balkongitter hing die Premiumversion einer Regenbogenfahne — mit inkludiertem Herz!

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Die Hellas-Verona-Ultras haben, natürlich vollkommen unbeabsichtigt und unwissentlich, den Hassern die Möglichkeit zur Selbsterkenntnis ermöglicht — die sie selbstverständlich ausschlagen werden, da ihre artikulierte Verachtung ja „Impfgegnernazis“ und „bösen Russen“ gilt. Und da Veronas Ultras natürlich auch Nazis sind, hat sich der Fall erledigt und alles seine Richtigkeit.

Allerdings wird der Tag kommen, an dem der eine oder andere mit einem der folgenden Narrative selbst nicht einverstanden ist, doch dann wird die Religion der einzig gültigen Erzählung schon unwiderruflich zementiert und der Meinungskorridor so eng sein wie eine Speedrutsche im Spaßbad. Vermutlich werden viele Menschen derweil bereits unter Arthrose leiden durch das ständige Fahnenwechseln — Black Lives Matter, Fridays for Future, Regenbogen, Ukraine …

Der bis dato Gehorchende kann dann nicht mehr aufhören sich zu fügen, um nicht selbst als „Leugner“ gebrandmarkt zu werden, so wie das Verweigern weiterer Impfungen auch einen Geimpften wieder zum Ungeimpften macht. Die Möglichkeit des Ablehnens ist endgültig verwirkt. Wie sagt bei Kafka der Türhüter zum Mann vom Lande: „Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“

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Freie Fahrt für Wutbürger

„Corona“ ist gewiss auch deshalb so erfolgreich, weil die Menschen endlich guten Gewissens hassen dürfen. Der Hass ist einfacher, schlichter, eindimensionaler als die mitunter ambivalente, facetten- und farbenreichere Liebe. „Bisweilen machen wir einige krampfhafte Versuche zur Liebe oder zur Freundschaft, oder wir greifen in unserer Ratlosigkeit zum Hass, indem wir glauben, er sei eine etwas handlichere Sache als die Liebe“, schrieb Egon Friedell. Warum hasst der Mensch?

Um sich besser zu fühlen durch einen abwärts gerichteten sozialen Vergleich und durch Verachtung anderer den eigenen Selbstwert zu steigern; so entsteht der „Untermensch“ — das kann auch ein Ungeimpfter oder ein Russe sein oder, noch schlimmer, ein ungeimpfter Russe.

Um Ängste zu betäuben und durch klare Feindbilder Halt und Orientierung zu finden in einer komplizierten und komplexen Welt. So lauten gängige Erklärungen.

Zu hassen stellt für viele Menschen ein Grundbedürfnis dar, das aber wiederum die meisten verschämt verneinen und verschweigen wie Fußpilz oder Hämorrhoiden. Selbstverständlich existiert auch unter vielen norditalienischen Bürgern Hass und Verachtung gegenüber dem Süden Italiens und seinen Bewohnern, die sie als faul und schmuddelig ansehen und die sich, so ihre Einschätzung, auf Kosten des hart arbeitenden Nordens ein schönes Leben machen.

Die Lega Nord und der Vorschlag, der Norden möge sich vom Rest Italiens abspalten und ein eigenes Land namens Padanien bilden, legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Und so hätte auch mancher gutbürgerliche Norditaliener nichts gegen die eine oder andere Bombe auf Neapel oder Bari einzuwenden. Aber das würde er natürlich nie aussprechen, geschweige denn auf ein Bettlaken pinseln und dieses in der Öffentlichkeit aufhängen.

Die Spannungen zwischen West- und Ostdeutschen wirken gegenüber dem italienischen Nord-Süd-Konflikt wie ein Streit zwischen zwei Geschwistern, wer im Kinderzimmer mehr Unordnung verursacht hat. „Besserwessi“, „Jammerossi“ — süß.

Auch der Normalo und Bildungsbürger will hassen, will offen und unverhohlen hassen wie Veronas Curva Sud, aber er hat sich bis dato nicht getraut, weil das nicht als sozialadäquat galt, als mehrheitsfähig. Möglich war es nur im stillen Kämmerlein per Computer-Tastatur. Verwunderlich wäre es nicht, wenn dabei viele noch eine Sturmhaube trugen wie auf den üblichen Symbolbildern die Hacker. Aber jetzt darf man öffentlich hassen. Unverblümt und frei heraus.

Und jetzt wird gehasst, gehasst aus vollem Herzen, gehasst mit Inbrunst, denn man zählt ja zu den Guten und die anderen sind böse. „Wir haben euch was mitgebracht — Hass, Hass, Hass!“, lautet ein alter Demo- und Fußballkurvenspruch. The Bad and the Ugly, das sind die anderen: die „Corona-Leugner“, die Russen und natürlich die „Putin-Versteher“, quasi die Delta-Variante des Querdenkers.

Und auch das ganz, ganz Böse, was man als Deutscher vorher selbst darstellte, verkörpern jetzt die anderen. Wir sind nicht nur die Guten — wir sind jetzt auch nicht mehr Adolf.

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Die Stunde der Heuchler

Im Jahr 2020 wurden weltweit 29 Kriege und bewaffnete Konflikte geführt. Nur wenige schafften es kurz in die Tagesschau oder ins heute-journal, und schon gar nicht ins breite öffentliche Bewusstsein. Wer da genau gegen wen kämpft, ob es sich um Konflikte zwischen inländischen Gruppen oder zweier oder mehr Länder handelt und vor allem, wie es den leidenden Zivilisten ergeht, interessierte nicht.

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Auch dass weltweit alle zehn Sekunden ein Kind unter fünf Jahren an Mangelernährung stirbt, ist nicht unbedingt medial ein Dauerbrenner.

Es handelt sich im Falle der Ukraine mithin um eine höchst selektive Humanität und Anteilnahme, die auf den dargelegten Gründen kaum beruhen kann. Natürlich gibt es viele Menschen, die tatkräftig helfen — interessanterweise äußern diese eher seltener Ablehnung oder Hass gegenüber „den Russen“. Mannigfaltig finden sich Hasssprache und Hasshandlungen bei jenen, die sich in blau-gelben Lippenbekenntnissen ergehen und denen die betroffenen Menschen im Grunde gleichgültig sind.

Das Einzige, was für diesen Personenkreis zählt, ist — nachdem der Hass auf „Querdenker“ und „Covidioten“ bisweilen schon ein wenig erschlafft war —, dass mit den Russen nun taufrisch eine neue Projektionsfläche für Hass und Verachtung vorhanden ist. Das ewige Koten in Klangschalen ist ja auf Dauer auch nicht abendfüllend.

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Und selbstverständlich, Sanktionen hin oder her, bezieht Deutschland weiter Gas aus Russland, denn beim Hassen oder wenn man so mit herabgelassener Hose auf der Klangschale hockt, möchte man es doch schön mollig haben. Wir wollen ja nicht übertreiben. Aber das hat sowieso bald ein Ende, denn demnächst kommt das Gas aus Katar und/oder den Vereinigten Arabischen Emiraten.

Hinsichtlich Freiheit, Menschenrechte — insbesondere Frauenrechte —, Arbeiterrechte, Justiz et cetera eine ganz andere Liga als das totalitäre Russland mit seinem Hitler 2.0! Auch Amnesty International ist begeistert und lobt die beiden Wüstenstaaten in höchsten Tönen. Und wenn dann ab 21. November 2022 bei der Fußball-WM noch der Ball rollt … Vizekanzler Robert Habeck hat ja bei einem Ortstermin in Katar die neuen Machtverhältnisse — bei der Begrüßung von Scheich Mohammed bin Hamad bin Kasim al-Abdullah Al Thani, Minister für Handel und Industrie, nahe am Kotau — auch körpersprachlich bereits prägnant zum Ausdruck gebracht.

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No war

„Gehen Sie in irgendein Restaurant in Salzburg. Auf den ersten Eindruck: lauter brave Leute. Hören Sie Ihren Tischnachbarn aber zu, entdecken Sie, dass sie nur von Ausrottung und Gaskammern träumen“, notierte Thomas Bernhard. Salzburg ist überall. So wird es schwer werden mit den Appellen an Verständigung und Friedfertigkeit, an Austausch und Verständnis.

Viele haben es sich doch gerade erst so schön eingerichtet im Hass. Und mal sehen, wen man als Nächstes verabscheuen und hassen darf.

Denn Hassen kann man jeden: Maßnahmengegner, Ungeimpfte, Russen, Isländer, Peruaner, Autofahrer, Radfahrer, Pedelecfahrer, Linkshänder, Schachspieler, Skatspieler, Fleischesser, Fleischlosesser, Alkoholiker, Abstinenzler, Hundebesitzer, Katzenbesitzer, Meerschweinchenbesitzer, Menschen mit Achselhaaren, Menschen ohne Achselhaare, Helene-Fischer-Fans, AC/DC-Fans, FC-Bayern-Fans, SV-Sandhausen-Fans oder auch einen übergewichtigen Mann aus einem mittelfränkischen Dorf.

Vielleicht hasst man ja auch bald Ukrainer. Irgendein Grund wird sich schon finden. Womöglich, weil die große Mehrheit der Ukrainer ungeimpft ist und offensichtlich auch nicht beabsichtigt, an diesem Zustand etwas zu ändern. Der Bayerische Rundfunk zitiert die Oberbürgermeister von Nürnberg und Fürth, Marcus König (CSU) und Thomas Jung (SPD): „Leider stellen wir fest, dass die Flüchtlinge uns nicht den Impfstoff aus den Händen reißen“, so König. Und Jung fügt hinzu: „Viele Menschen, die hier ankommen, haben sogar panische Angst vor ‚Zwangsimpfungen‘.“

„Modest Mussorgskis Oper Boris Godunow führt uns mitten in eine Zeit apokalyptischer Grundstimmung, die von Hysterie, Eskapismus und Paranoia geprägt ist“, schreibt das Opernhaus Zürich. Die für den 8. April 2022 geplante Premiere sowie weitere Aufführungen der Oper des 1881 verstorbenen russischen Komponisten wurde vom Opernhaus Warschau übrigens abgesagt, unausgesprochen aufgrund der Nationalität Mussorgskis.

Auch im Sport wurden russische Mannschaften und Einzelsportler bekanntlich gesperrt. Und die populärste Sportart, der Fußball, ergeht sich in Blau und Gelb: Blau-gelbe Banner, blau-gelbe Eckfahnen, blau-gelbe Kapitänsbinden, Teams, die in blau-gelb spielen, obgleich das gar nicht die Vereinsfarben sind, und überall blau-gelbe Ukraine-Fahnen und Bekenntnisse der Solidarität und Bitten um Frieden.

Zuweilen verrutscht die Fassade allerdings gewaltig. So zum Beispiel am 4. März 2022 beim Punktspiel der ersten niederländischen Liga Eredivisie zwischen Vitesse Arnheim und Sparta Rotterdam. Vor Spielbeginn kamen die Arnheim-Spieler mit Trainingsjacken auf den Rasen, die auf dem Rücken mit dem Wort „Vrede“ („Frieden“) bedruckt waren, und beide Teams samt Betreuern und Schiedsrichtern bildeten zusammen ein V; gleichzeitig präsentierte jeder Einzelne mit Zeige- und Mittelfinger ebenfalls diesen Buchstaben — das „V“ parallel also als Anfangsbuchstabe und Friedenszeichen. Das Ganze begleitet vom Applaus der Zuschauer, von denen viele ebenfalls die Fingergeste formten.

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Doch nach Anpfiff war die Friedensmesse schnell gelesen, denn Rotterdams Torwart Maduka Okoye wurde von Fans der Heimmannschaft mehrmals wüst rassistisch beleidigt, dann von einem auf das Spielfeld gelaufenen Arnheim-Rowdy bedrängt — wobei er diesen in Schach halten konnte — und zum Schluss schließlich mit Bechern beworfen. Getroffen ging er zu Boden. Auf den Werbebanden um ihn herum stand „Vrede“ und in Blau und Gelb:

„No war.“

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