Schlussbilanz eines „Putin-Verstehers“

Da der russische Präsident die in ihn gesetzten Erwartungen enttäuscht hat, ist zu viel Solidarität mit ihm nicht mehr angebracht.

Es ist nicht falsch, jemanden verstehen zu wollen. Dies ist nicht gleichbedeutend mit Zustimmung zu allen seinen Worten und Taten, und es ist die Grundvoraussetzung für den Frieden. Vielen selbstständig denkenden Menschen hat Wladimir Putin in den Jahren seiner Amtszeit Respekt eingeflößt — als ein versöhnlich Redender und meist besonnen Handelnder, dessen Entscheidungen zumindest nachvollziehbar waren. Dies fiel vor allem im Kontrast zur gewalttätigen und invasiven Politik der USA ins Gewicht. Aber ist es angebracht, dem russischen Präsidenten jetzt auch in einen mörderischen und völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu folgen? Sollte sich nicht in dem Maße, wie sich seine Taten verfinstern, auch unser Bild von Putin verändern? Müssen wir jemandem die Treue halten, der so offensichtlich alle seine Unterstützer in die Irre geführt hat? Vielleicht sind viele, die ihn bisher idealisiert haben, ja eher Putin-Missversteher gewesen. Vielleicht sollte sich das Verständnis der freien Medienszene jetzt eher anderen Menschen zuwenden: den Opfern dieses entsetzlichen Krieges. Der Autor verkennt nicht die schweren Verbrechen der NATO-Allianz in den letzten Jahrzehnten. Dennoch kündigt er Wladimir Putin im Licht der neueren Ereignisse die Freundschaft auf. Dies gilt ausdrücklich nicht für das russische Volk, das er — wie bewegende persönliche Erfahrungsberichte zeigen — schätzen gelernt hat.

Ich bin mitten im Zweiten Weltkrieg geboren und war ein Vierteljahrhundert Richter an einem höheren Gericht in Bayern. Meine Lebenserfahrung sagt, wer gerecht sein will, muss immer dieselben Maßstäbe anlegen. Das gilt auch bei Wladimir Putin, aktuell der meistgehasste Mensch in der westlichen Welt.

Die bewegendste Reise meines Lebens führte mich 1992 in den kleinen russischen Ort Uljanowo. Dort fand ich nach vielen Mühen das Grab meines im Krieg gefallenen Vaters. Auf dieser Reise war mir ein Blick in die russische Seele vergönnt. Die Russen, mit denen ich es auf dieser denkwürdigen Reise zu tun hatte, haben mich immer wieder verwundert. Eigentlich hatte ich, der Sohn eines deutschen Soldaten, der ihr Land überfallen hat, Distanz und Ablehnung erwartet. Was ich fand, war Anteilnahme und Sympathie. Seitdem schlägt mein Herz für das Land, in dessen Erde mein Vater ruht.

Putin-Versteher

Heute, 30 Jahre später, überlege ich, wie Putins Krieg gegen die Ukraine meine Haltung zu Russland verändert hat und ob ich ein verblendeter „Putin-Versteher“ war. Die Antwort auf letztere Frage hängt zunächst davon ab, welche Bedeutung man dem Begriff „verstehen“ beimisst. Nach meinem Sprachverständnis ist ein Versteher jemand, der sich bemüht, etwas zu begreifen. Das ist etwas fundamental anderes als billigen und rechtfertigen. Vielleicht hängt es mit meinem früheren Beruf zusammen, dass ich mich erst einmal bemühe zu begreifen, warum der russische Präsident Wladimir Putin so gehandelt hat, wie er gehandelt hat. Denn wenn ich es nicht begreife, kann ich kein Urteil fällen, zumindest kein gerechtes.

Mit einem vorschnellen Urteil ist niemandem gedient, weder dem Täter noch seinen Opfern und schon gleich gar nicht der Gerechtigkeit. Im Lichte meines Wortverständnisses muss ich einräumen, dass ich ein Putin-Versteher bin. Das habe ich in Artikeln und Vorträgen mehrfach zum Ausdruck gebracht. Mit der Etikettierung, ein Putin-Versteher zu sein, musste ich mich erstmals 2014 im Kontext mit dem Anschluss der Krim an die Russische Föderation befassen. Damals kritisierte ich den früheren Chefredakteur einer vielgelesenen überregionalen Zeitung wegen der verleumderischen und hetzerischen Artikel und Kommentare über Putin in seinem Blatt. Er bescheinigte mir daraufhin ein übergroßes Verständnis für Herrn Putin.

Putin

Wenn man der Persönlichkeit des russischen Präsidenten gerecht werden will, dann tut man gut daran, nicht beim Ukraine-Krieg zu beginnen, sondern die einzelnen Phasen von Putins öffentlichem Wirken getrennt zu betrachten. Ich beschränke mich auf die Bewertung der Tatsachen, die weitgehend unstrittig sind.

Am Anfang steht Putins Rede vom 25. September 2001 im Deutschen Bundestag. Der damals erst ein Jahr im Amt befindliche Präsident trug den größten Teil seiner Rede — wie er sagte — „in der Sprache von Goethe, Schiller und Kant“ vor. Er entwickelte seine Vorstellungen von den deutsch-russischen Beziehungen, vom Aufbau eines europäischen Hauses, einer neuen internationalen Sicherheitsarchitektur und er sprach von Humanismus. Die in gutem Deutsch gehaltene Rede war eine Reverenz an die Vertreter des Landes, das vor 60 Jahren die Sowjetunion mit einem verheerenden Krieg überzogen hat, dem 27 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Am Ende des Protokolls der Bundestagssitzung steht der nüchterne Satz: „Die Abgeordneten erheben sich.“

Ein Video zeigt, es war mehr: Putin erhielt stehende Ovationen — und zwar parteiübergreifend. Putin hatte die Herzen der Deutschen gewonnen. Auch meines. Das ist die Geburtsstunde des Putin-Verstehers, der meinen Namen trägt. Putin hatte die Hände weit ausgestreckt — für ein neues, friedliches und besseres Europa. Ich war mir sicher, dass nach Gorbatschows Staatsbesuch von 1989 und Putins Rede von 2001 der Kalte Krieg endgültig Geschichte ist und dass man fortan die wirklichen Probleme des Planeten Erde gemeinsam angehen kann.
Das war 2001.

Das Zerwürfnis

Inzwischen sind 20 Jahre vergangen. 2001 ist nur noch Referenzpunkt für die Bewertung des Niedergangs des deutsch-russischen Verhältnisses. Der Akteur auf russischer Seite ist heute derselbe wie damals. In Deutschland haben die Politiker, die die Schrecken des Krieges und die Not der Nachkriegszeit noch am eigenen Leib erlebt haben, endgültig Platz gemacht für eine Generation, die den Krieg nur aus dem Fernseher oder aus den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern kennt. Das erklärt manches, aber nicht das Entscheidende.

Um die eigentlichen Ursachen des Zerwürfnisses zu verstehen, muss man tiefer schürfen. Dazu gehört die Einsicht, dass die Verschlechterung nicht erst mit Putins Überfall auf die Ukraine begonnen hat.

Zwischen 2001 und heute waren — und sind! — fürchterliche Kriege, insbesondere in Afghanistan, Irak, Georgien, Libyen, Syrien, Jemen und Mali. In diese Zeitspanne fallen auch die Eingliederung der Krim in die Russische Föderation, die Kämpfe im Donbass und die Nato-Osterweiterung — bis heute 14 Staaten, größtenteils aus dem ehemaligen Warschauer Pakt. Das hat Einflusssphären verändert und Bedrohungsängste geschürt. Putin beobachtete das Heranrücken der Nato stets mit großem Argwohn. Seine wiederholten Bitten, die Sicherheitsinteressen seines Landes ernst zu nehmen, blieben ohne jegliche Resonanz, über viele Jahre hinweg.

Hinzu kam neuerdings das sich verstärkende Drängen der ukrainischen Staatsführung nach einer Aufnahme in die Nato und die EU. Putins eindringlicher Ruf, zumindest dies auszuschließen, blieb — wie zu erwarten — ungehört. Der Reflex hierauf waren die russische Anerkennung der Teilrepubliken Luhansk und Donezk und der Einsatzbefehl für die Invasion in die Ukraine. Zwei begreifbare, aber unverzeihliche Fehler Putins.

Scherbenhaufen

Heute stehen wir vor einem Scherbenhaufen. Ein äußeres Zeichen der Wandlung ist, dass sich die ehedem weichen Gesichtszüge Putins versteinert haben. Sie gleichen heute einem Granitfelsen, dem jede Regung fremd ist. Zeichen von Empathie sucht man in dem verhärmten Gesicht vergebens. Der Präsident sieht sich offensichtlich in einer historischen Mission, schwadroniert von glorreicher sowjetischer Vergangenheit, verirrt sich in absurde Hirngespinste und setzt seine „Abschreckungswaffen“ in erhöhte Alarmbereitschaft. Ein Irrer im Kreml? Oder sehen wir Spuren tiefer Enttäuschung und heilloser Verbitterung?

Die Amerikaner glauben, dass sie — ungeachtet ihrer inneren Zerrissenheit — ihren Fernzielen Ausschaltung der „Regionalmacht Russland“ (Obama) und globale Hegemonie einen wesentlichen Schritt näher gekommen sind. Das könnte sich als großer Irrtum erweisen. Zwar scheint es so, dass das vom Verfall bedrohte Militärbündnis Nato durch den Ukraine-Krieg nochmals gekittet worden ist. Doch der Preis hierfür ist hoch. Denn das weltpolitisch ins Abseits geratene Russland ist unübersehbar in die offenen Arme Chinas getrieben worden.

Auch von deutscher Seite ist nichts Gutes zu erwarten. An der Spitze steht ein fantasie- und empathieloser Kanzler. Wesentlich getragen wird er von einer kleinen Partei, die wie schon 2001 Teil der Bundesregierung ist. Diese Partei hat ihren Gründungsmythos — Gewaltfreiheit, Friedensbewegung — verraten. Der Unterschied zur Gründungszeit könnte größer kaum sein. Die Führungsfiguren von heute sind glühende Anhänger der Nato und erschöpfen sich in der Dämonisierung Putins und in Forderungen nach noch schärferen Sanktionen. Die kläglich gescheiterte grüne Kanzlerkandidatin ist jetzt deutsche Außenministerin und bemüht sich erkennbar, ihre männlichen Nato-Kollegen in Sachen Bellizismus zu übertreffen. Diplomatie Fehlanzeige. Jüngst sagte sie mit Blick auf das neueste Sanktionspaket triumphierend: „Das wird Russland ruinieren.“ Solche Worte sprechen für sich. Wir leben derzeit in einer heillosen Zeit.

Hysterie

Was ist los in unserem Land? Kirchenglocken läuten am siebten Kriegstag sieben Minuten lang. Behinderte russische Sportler werden von den Paralympics ausgeschlossen, „normale“ Sportler ohnehin. Der russische Chefdirigent der Münchner Philharmoniker Valery Gergiev wird vom Münchner Oberbürgermeister ultimativ aufgefordert, sich von Putin zu distanzieren. Bühnenauftritte der weltbekannten Sopranistin Anna Netrebko werden abgesagt. Diskutanten, die es wagen, in Talkshows auch die russische Sichtweise darzustellen, werden von einem entfesselten Moderator und der Front linientreuer „Atlantiker“ überbrüllt.

Für militärische Aufrüstung werden über Nacht 100 Milliarden Euro lockergemacht – für Umwelt- und Klimaschutz unvorstellbar. Das findet den ungeteilten Beifall der Mainstream-Medien. SPD-Politiker geraten unter massiven Rechtfertigungsdruck, weil sie sich jahrzehntelang für Friedenspolitik eingesetzt haben wie Mützenich, Platzeck, Schwesig, Stegner. Einem früheren SPD-Kanzler und Unterstützer der Gas-Pipeline Nord Stream 2 droht deswegen der Parteiausschluss; bis vor ein paar Tagen hat seine Partei das Vorhaben noch einhellig unterstützt. Die Liste der Absurditäten ließe sich beliebig fortsetzen. Es gibt keinen Widerspruch mehr. Ukraine über alles.

Die Hysterie in Deutschland ist heute grenzenlos.

Gewissensfrage: Gab es Vergleichbares bei den Kriegen der letzten 20 Jahre mit Millionen von Kriegstoten, Verstümmelten und Flüchtlingen? Die Kriege gegen Serbien, Afghanistan, Irak und Jemen waren nicht weniger grausam und völkerrechtswidrig als der Ukraine-Krieg. Allein für den Irak-Krieg schätzt eine US-Studie 500.000 Tote, andere sprechen von einer Million. Auch die Behauptung, der Krieg gegen die Ukraine sei der erste Krieg in Europa nach 1945, ist schlicht und einfach falsch. Wer es nicht glaubt, frage die Menschen auf dem Balkan oder die Nordiren.

Das Narrativ hinter dem Unfassbaren ist simpel und einprägsam: Wir sind die Guten und die anderen sind die Bösewichter, immerzu und überall. Die Wahrheit ist: Wir haben uns daran gewöhnt, mit zweierlei Maßstäben zu messen.

Das verletzt jedes intakte Gerechtigkeitsgefühl.

Der Stab über Putin wird gebrochen

Jetzt endlich kommt das, was ungeduldige Leser schon lange vermissen. Ich sage es ohne Umschweife: Putins Krieg ist unverantwortlich, brandgefährlich und völkerrechtswidrig. Außerdem hat Putin die Welt hinter die Fichte geführt, mich auch, das ärgert mich. Denn ich habe immer wieder versucht, ihn vor ungerechten Vorwürfen in Schutz zu nehmen.

Der einzig angemessene Aufenthaltsort für so jemanden ist der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Dort könnte er sich mit amerikanischen Präsidenten wie zum Beispiel Bush, Clinton, Obama zum Spaziergang im Gefängnishof treffen. Denn auch sie haben das Völkerrecht mit Füßen getreten.

Dieses elitäre Treffen bleibt jedoch bis auf Weiteres ein Wunschtraum. Eine Strafverfolgung dieser Kriegsverbrecher ist derzeit nicht möglich. Weder Russland noch die USA — und auch nicht die Ukraine! — haben bisher den Vertrag über den Internationalen Strafgerichtshof ratifiziert — sie wissen warum. All die Schelme, die nach jahrelangem peinlichen Schweigen plötzlich so laut nach dem Völkerrecht rufen, mögen sich dafür einsetzen, dass die genannten Staaten das „Rom-Statut“ unterzeichnen!

Nur der Vollständigkeit halber: Aus dem gutgläubigen Putin-Versteher von 2001 ist ein enttäuschter Putin-Verächter geworden. Doch ich bleibe dabei, es hätte auch besser laufen können, wenn die auf der anderen Seite …. siehe oben.

Und Russland?

Mein Urteil über Putin gilt nicht in gleicher Weise für Russland. Es sind nicht die Russen, die den Krieg beschlossen haben. Immer mehr mutige Russen protestieren öffentlich gegen ihn. Deshalb widersetze ich mich der wohlfeilen Hetze der letzten Tage gegen Russland. „Der Russe“ ist nicht kriegssüchtiger als „der Ami“ oder „der Deutsche“. Ein kurzer Blick in die neuere Geschichte zeigt anderes. Nicht die Russen haben ständig den Westen überfallen. Es ist umgekehrt — Napoleons Russland-Feldzug 1812, Kriegserklärung Kaiser Wilhelm II an Russland 1914, Hitlers „Unternehmen Barbarossa“ 1941. Die behauptete russische Aggressivität wird auch nicht durch die Militärausgaben belegt — im Jahr 2020: RUS 67 Milliarden US-Dollar, USA 767 Milliarden US-Dollar; Nato-Staaten 1.100 Milliarden US-Dollar.

Noch wichtiger ist jedoch, dass Russland den Warschauer Pakt aufgelöst, Staaten der ehemaligen UdSSR in die Selbständigkeit entlassen, sein Militär aus Deutschland abgezogen und der deutschen Wiedervereinigung zugestimmt hat. Das sollten die Scharfmacher nicht vergessen. Zerrbilder und Hysterie waren noch nie gute Ratgeber.

Schauen wir auf die Tatsachen: Putin wird verschwinden, das kann schneller gehen, als wir heute denken. Russland gehört zu Europa und es wird immer unser geografischer Nachbar bleiben. Die russische Kultur ist aus Europa nicht wegzudenken. Oder sollen Puschkin, Dostojewski, Tolstoi, Gorki und Pasternak auf den Index der verbotenen Bücher? Und was machen wir mit Strawinsky, Schostakowitsch, Prokofjew, Tschaikowsky – Aufführungsverbot? Es ist unerlässlich, mit diesem großen Land so bald wie möglich wieder ein gutes Verhältnis aufzubauen. Der klügste Weg ist, deutsche und europäische Interessen in den Mittelpunkt unserer Politik zu stellen und nicht strategische Wünsche einer kränkelnden Weltmacht.

Sanktionen

Sanktionen sind generell weder gut noch schlecht. Es kommt darauf an, ob sie zielgenau und berechenbar sind. So gesehen sind Maßnahmen gegen verbrecherische Führungseliten genauso legitim wie Sperrungen von Rüstungsgütern und von durch Korruption erlangten Oligarchenvermögen. Fragen wirft der auf massiven amerikanischen Druck beschlossene deutsche Stopp von Nord Stream 2 auf. Zwar kann damit der Druck auf die russische Staatsführung gesteigert werden. Unverständlich aber ist, dass Amerika selbst bis vor ein paar Tagen Öl aus Russland bezogen hat. Hier gilt, entweder beide oder keiner.

Unangemessen sind die in den letzten Tagen beschlossenen Sanktionen, deren Leidtragende vor allem die einfachen russischen Menschen sind. Meines Wissens ist noch niemand auf die Idee gekommen, die Bevölkerung der USA für völkerrechtswidrige Kriege ihrer Präsidenten zu sanktionieren.

Warum sollte das im Falle Russlands anders sein? Es zeigt sich, dass das Arsenal der legitimen Sanktionen schnell erschöpft ist.

Aber was kann man sonst noch tun? Ehrliche Antwort: Ich weiß es nicht. Die Erfahrung lehrt, nichts tun ist selten eine gute Lösung, aber das Falsche tun, ist noch schlechter. Die Welt steht wieder einmal vor einem kaum aufzulösenden Dilemma. In einer solchen Lage bleibt nur das Gespräch, und zwar nicht nur mit Freunden, sondern auch — und vor allem — mit dem erklärten Feind. Es ist die Stunde der Diplomatie, und das heißt, zuzuhören und zu versuchen, die Sorgen des anderen zu verstehen. Das wurde im Fall Putin leider sträflich versäumt. Hier ist für die Zukunft noch viel Spielraum nach oben.

Waffenlieferungen

Das Dilemma geht noch weiter. Die Frage, ob Waffenlieferungen sinnvoll sind, wenn absehbar ist, dass sie dem Krieg keine entscheidende Wendung zugunsten des Angegriffenen geben können, sondern nur die Zahl der Opfer erhöhen, ist im Kern philosophischer Natur. Das Recht gibt hierauf keine befriedigende Antwort, wenn doch, ich kenne sie nicht.

Die weitere Frage, ob die angegriffene Ukraine mit Waffen versorgt werden darf und soll, ist extrem heikel. Unser ziviles Rechtssystem hält es für zulässig, dass man einem Angegriffenen hilft, als sogenannte „Nothilfe“. Das Völkerrecht ist komplizierter. Umstritten ist vor allem, ab wann man durch Waffenlieferungen an eine Konfliktpartei das Neutralitätsgebot verletzt und selbst zur Kriegspartei wird, was die andere Seite zu Gegenmaßnahmen berechtigt. Die Bundesregierung hat sich damit erkennbar schwergetan. Sie wurde vom Saulus zu Paulus. Zuerst wollte sie nichts liefern. Motto : „Keine Waffen in Krisengebiete“. Dann lieferte sie Stahlhelme. Inzwischen sind es 1.000 Panzerabwehrwaffen und 500 Boden-Luft-Raketen. Damit ist die ukrainische Staatsführung nicht zufrieden. Wolodymyr Selenskyj, Tag und Nacht bemüht, sich im olivgrünen T-Shirt zum Kriegshelden zu stilisieren, fordert mehr. Die Gefahr, dass damit der Funken für einen Krieg zwischen Atommächten ausgelöst werden kann, sieht er nicht, zumindest interessiert es ihn nicht.

Geradezu abenteuerlich ist der Plan Polens, seinen Bestand an MiG-29 Kampfflugzeugen auf den amerikanischen Militärflugplatz Ramstein in der Pfalz zu verlegen, um sie von dort unter USA-Verantwortung an die Ukraine zur Unterstützung im Kampf gegen Russland zu liefern. Damit würde die Nato endgültig zur Kriegspartei, eine Steilvorlage für den Dritten Weltkrieg.

Die größte Sorge

Putins Krieg wird irgendwann vorbei sein, so oder so. Ich hoffe bald und mit möglichst wenig Opfern. Wenn irgendwann die Waffen schweigen, werden wir sehen, dass vieles auf der Strecke geblieben ist, wofür die Zivilgesellschaften in vielen Ländern jahrzehntelang hingebungsvoll gekämpft haben, nämlich die Kultur der friedlichen Konfliktlösung und die Fortschritte im Umwelt- und Klimaschutz.

Beispiel Deutschland: Jenseits aller routinierten Bekenntnisse zu den regenerativen Energieformen mahnen Zukunftsdenker vom Schlage eines Friedrich Merz und eines Markus Söder an, wieder über die Nutzung der Atomenergie zu „reden“. Vermehrte Kohlenutzung ist ohnehin bereits ein Selbstläufer.

Klimaschutz, die Überlebensfrage für die Menschheit, ist wieder zum Thema für bessere Zeiten geworden. Die Folgen dieses geistigen Rückfalls in das letzte Jahrhundert könnten irreparabel sein.

Zukunftspolitik ist vor dem Krieg in die Knie gegangen.


Quellen und Anmerkungen:

https://www.nachdenkseiten.de/?p=72468
https://www.heise.de/tp/features/Corona-Rechtsstaat-auf-dem-Pruefstand-4706155.html?seite=all
https://www.nachdenkseiten.de/?p=34333#top
https://www.rubikon.news/artikel/schluss-mit-der-ignoranz
https://www.hintergrund.de/feuilleton/zeitfragen/vorboten-einer-neuzeitlichen-voelkerwanderung/