Schule für Opportunisten

Der Lockdown strapaziert Schüler und ihre Eltern stark — für viele ist es aber auch erleichternd, mal weniger sozialer Kontrolle zu unterliegen.

Kleinere Kinder folgen ihren spielerischen Impulsen und haben meist Spaß dabei; mit fortschreitender „Sozialisation“ lernen sie jedoch etwas anderes: Stets werden sie von allen überwacht und bewertet. An sie werden Maßstäbe angelegt, die nicht ihre eigenen sind. Sie lernen, in einer unbehaglichen Welt voller Rivalen und Richter zu überleben. Dabei ist die soziale Kontrolle durch die Mitschüler oft sogar einengender und schmerzlicher, als es die dauernden Leistungsanforderungen der Erwachsenen sind. Derzeit wird viel über die Nachteile des Homeschoolings nachgedacht. In fehlenden sozialen Kontakten sehen die meisten vor allem Probleme. Die Nerven vieler Eltern und Schüler*innen werden stark strapaziert. Vielleicht können wir aber die Aufmerksamkeit auch einmal auf ein paar Vorteile richten: Nicht wenigen Schüler*innen tut es gut, einmal nicht den Blicken ganzer Horden von Gleichaltrigen und Lehrer*innen ausgesetzt zu sein. So könnte die Quarantäne mithelfen, bei einigen deren wahres Potenzial zum Vorschein zu bringen.

von Marta Mautone

Eine ausgeglichene und entspannte Sechstklässlerin vorzufinden, überraschte mich, als ich im Rahmen des Lockdowns für kurze Zeit wieder zu Hause einzog: Meine zwölfjährige Schwester malt viel, sie kocht jeden Abend für die ganze Familie und lernt alles über Hunderassen, weil sie ja später Tierärztin werden möchte. Die schulbezogenen Wutausbrüche und Streitereien innerhalb unserer Familie sind — würde ich behaupten — um mindestens 90 Prozent gesunken.

Deshalb ist nicht zu leugnen, dass die Auszeit von der Schule für manche Schüler ein wahres Geschenk ist. Einige — wie auch meine Schwester — scheinen sogar richtig aufzublühen, haben nun mehr Zeit für ihre Hobbys, probieren sich an neuen Sachen aus und entdecken ihre kreative Seite.

Brauchte es somit wirklich erst eine globale Pandemie, um uns auf unsere wahren Talente und Interessen aufmerksam zu machen? Nicht nur das — zudem ist es auch eine Pause vom „Gesehen werden“.

Alles wird gesehen und alles wird bewertet.

Der soziale Druck vereinnahmt uns oft mehr als uns lieb ist. Gerade in den Teenagerjahren sorgen ständige Beobachtung und Beurteilung für enormen Stress: die Art, wie man geht, mit wem man spricht, welches Handy man besitzt, welche YouTuber man kennt und welche man nicht kennt, was man isst, wie man isst, wie man seine Haare trägt, welche Farbe die Haare haben, ob man Bücher liest, welche Noten man hat, ob man gerne lernt oder sich einfach nichts merken kann und vieles mehr — von der Kleidung und den Schuhen ganz zu schweigen.

Dieses Analyse- und Bewertungssystem wurde mit den Jahren perfektioniert und erweitert und scheint in der Generation Z — unter anderem dank Social Media — seinen Höhepunkt erreicht zu haben.

Man verstellt sich, gibt sich anders, als man ist — nur um dazuzugehören und nicht aus der Reihe zu fallen. Menschen, die sich ständig nur anpassen, vergessen irgendwann, wer sie eigentlich sind. Es mag absurd klingen, aber vielleicht gibt uns Corona die Möglichkeit, uns wieder daran zu erinnern.

Vermutlich haben wir zuletzt so viel Zeit mit uns selbst verbracht, ohne uns von der Außenwelt beobachtet zu fühlen, als wir im Vorschulalter waren!

Bei meinem schulbezogenen Praktikum in einem Kindergarten hat mich überrascht, wie wenig sich dort im Laufe der Jahre eigentlich verändert hat: Die Kinder spielten mit Bauklötzen, Puppen, Lego, es gab verschiedene Puzzle und Brettspiele, einen Maltisch und eine Verkleidungsecke. Die Jungen und Mädchen spielten genauso, wie Kinder in ihrem Alter vor zehn, vor zwanzig und vor vierzig Jahren gespielt hatten: voll von Kreativität, naiver Fröhlichkeit und lebendigen Gefühlen.

Die Kinder beim Spielen zu beobachten, stimmte mich allerdings auch traurig. Was wird von diesen kleinen Freigeistern auf dem Weg ins Erwachsenenalter übrigbleiben? Sehr wenig, vielleicht gar nichts, denn mit dem Schulanfang beginnt auch der Prozess der Anpassung. Die Schulkinder werden zu Menschen geformt, die nach Leistung streben und Ergebnisse bringen sollen.

Sind die Kids vor ihrer Einschulung noch voller Energie und Zuversicht, schwindet diese mit den Jahren im Schulalltag. Nach und nach lernen sie, an sich selbst zu zweifeln, ihr Können infrage zu stellen, sich mit anderen zu vergleichen.

Sie lernen, dass das Leben ein Wettbewerb ist und sie stets danach streben sollten, zu den Besten zu gehören. Alles ist auf Leistung aus in unserer Gesellschaft. Bringst du gute Leistungen, bist du ein fleißiger, ein guter Mensch. Bringst du keine Leistungen, bist du ein fauler, ein schlechter Mensch.

Wo bleibt die Individualität?

Diese psychische Raffinesse ist den meisten von uns nicht mal bewusst, weil wir sie selbst über uns ergehen ließen. Unser Schulsystem macht aus großen Kindern kleine Erwachsene.

Das Selbstwertgefühl schrumpft mit den Jahren, und das, was nach zwölf Jahren Schule bleibt, sind Jugendliche voller Selbstzweifel und Zukunftsängste. Diese Gefühle sollten jedem bekannt vorkommen, werden sie uns doch von da an ein Leben lang begleiten.

Den Kindern beim Spielen zusehend, wollte ich sie am liebsten für immer in diesem Moment leben lassen und vor der lauten Welt beschützen, die sie irgendwann vereinnahmen wird.

Wir alle waren selbst mal Kinder mit großen Gedanken, wahrscheinlich größeren als in unserem Erwachsenenalter.

Man stelle sich eine Welt vor …

Man stelle sich eine Welt vor, in der alle Menschen ein fundamentales und unerschütterliches Grundvertrauen in sich selbst hätten. Keine Idee scheint zu groß und alles, was man tut, ist im Bereich des Möglichen. Wie weit könnten wir sein, wenn wir alle frei von bremsenden Selbstzweifeln wären? Welche großartigen Dinge hätten wir schon erreichen können, wenn wir viel mehr Bestärkung und Zuspruch von außen bekommen hätten?

Natürlich kann nicht jeder Mensch mit unerschütterlichem Selbstvertrauen geboren werden — auch wenn wir alle Voraussetzungen dafür hätten. Aber wir könnten zumindest versuchen, dieses menschliche Selbstvertrauen nicht ständig anzugreifen und bis zur Erschöpfung darauf herumzutrampeln. Aber genauso funktioniert unser „Schulsystem“.

Schon allein die Idee, von allen Schülern die gleichen Ergebnisse zu erwarten, ist absurd und mit einem Zitat von Albert Einstein kurzgefasst:

„Jeder ist ein Genie! Aber wenn du einen Fisch danach beurteilst, ob er auf einen Baum klettern kann, wird er sein ganzes Leben glauben, dass er dumm ist.“

Tatsächlich gibt es sieben verschiedene Formen der Intelligenz:

  1. Logisch-mathematische Intelligenz,
  2. verbal-linguistische Intelligenz,
  3. räumlich-mechanische Intelligenz,
  4. musikalische Intelligenz,
  5. körperlich-kinästhetische Intelligenz,
  6. interpersonal-soziale Intelligenz und
  7. interpersonale Intelligenz (Selbstkenntnis).

Von diesen sieben Bereichen sind in der Schule ausschließlich die ersten drei von entscheidender Bedeutung. Da es nur sehr wenige Menschen gibt, die in diesen drei Bereichen über eine gleich hohe Intelligenz verfügen, haben es die meisten Schüler schwer — entweder in den Naturwissenschaften oder in den sprachlichen Fächern. Das ist absolut logisch, ist es doch menschlich, nicht vollkommen zu sein.

Was nützt es allerdings einem Kind, außerordentlich sensibel und feinfühlig gegenüber anderen Menschen zu sein, wenn es schlecht in Mathe ist? Nichts.

Doch welche der Fähigkeiten — die mathematische oder die sensible — würden Sie als wichtiger empfinden?

Schon in den jüngsten Jahren stempeln wir uns selbst als „dumm“ oder „unfähig“ ab, wenn wir merken, dass wir nicht die erwünschte Leistung bringen können. Dass Intelligenz nicht nur per Notendurchschnitt definiert werden kann, hat uns niemand beigebracht. Wie viel ungenutztes Potenzial eigentlich in uns steckt, wissen wir gar nicht. Aber so ist es: Der Mensch ist zu viel mehr fähig, als er glaubt. Im Grunde sind wir zu allem fähig, wenn wir daran glauben.

Das Warten auf eine grundlegende Sanierung des Lehrplans ist vergebens. Doch bleibt zu hoffen, dass mancher Schüler, nach dieser Zeit, die Irrfahrt zu einem Schulabschluss zumindest mit etwas mehr Energie fortsetzen kann.


Marta Mautone, Jahrgang 2000, absolviert zur Zeit ein Freiwilliges Kulturelles Jahr an einem Theater als Regiehospitantin. Sie schreibt in ihrer Freizeit Geschichten und unvollendete Romane, seit sie gelernt hat, einen Stift zu halten und sieht sich als zukünftige Regisseurin in der Pflicht, Missstände in der Gesellschaft aufzuklären und die Menschen zu einer besseren Welt zu inspirieren. Sie interessiert sich außerdem für Musik und Psychologie und möchte sich als Älteste von vier Geschwistern vor allem für einen Wandel im Schulsystem einsetzen und auf die daraus resultierenden psychischen Folgen aufmerksam machen. Ihre Weltanschauung mag manchmal hoffnungslos romantisch wirken, doch sie ist überzeugt, dass es nie zu spät ist für eine Veränderung.