Schüler schießen nicht auf Schüler

Der Münchner Schülerstreik gegen Musterung, Rekrutierung und Wehrpflicht zeigte: Der „Aufruhr“ hält sich in Grenzen, das politische Bewusstsein mancher Teilnehmer auch.

Die Schulbank drücken mit Corona-Maske auf dem Gesicht. Dann exerzieren und ab in die Schützengräben. Und dann, falls man das überlebt hat, die Staatsschulden abarbeiten, die für astronomische Rüstungsausgaben „nötig“ geworden waren. So oder so ähnlich könnten die Biografien von Menschen aussehen, die heute 15 oder 20 sind. Sind sich Jugendliche dessen bewusst, dass sie für die fragwürdigen Projekte älterer Damen und Herren verplant und größter Gefahr ausgesetzt werden sollen? Wie es scheint, haben das inzwischen wenigstens einige verstanden. Der Widerstand gegen das „Wehrdienstmodernisierungsgesetz“ hat zumindest mal begonnen, wenn auch die Teilnehmerzahl gemessen am brisanten Anlass größer sein könnte. Nicolas Riedl hat einem Schülerstreik in München beigewohnt. Die Mentalität der jungen Leute war überwiegend links geprägt. Schaffen es die durch Klimabewegung und „Kampf gegen rechts“ Sozialisierten, ihren Horizont zu weiten und gemeinsam mit politisch Andersdenkenden sowie Älteren gegen die größte Gefahr unserer Zeit vorzugehen: die Vorbereitung auf einen großen Krieg?

Donnerstag-Vorabend

Aus sicherer Entfernung beobachte ich, wie sich am Vorabend vor der Abstimmung über das Wehrdienstmodernisierungsgesetz der Widerstand am Rosenheimer Platz in München zusammenfindet. Aus sicherer Entfernung deshalb, weil ein Nähertreten zur Folge haben könnte, dass ich vertrieben werde. Mit von der Partie ist in diesem Bündnis nämlich unter anderem die ver.di-Jugend. Und die duldet niemanden auf ihren Versammlungsflächen, der vor knapp vier Jahren gegen die Coronamaßnahmen protestiert hat. So viele Corona-Demonstrationen bin ich mitgelaufen, in die Kamerawinkel der Antifa-Fotografen hinein, dass man mein Gesicht dort erkennen würde und mich entsprechend verbannt.

Zwar bin ich komplett dunkel gekleidet, der Kragen ist bis zum Kinn hochgezogen und die Stirn von einem Beanie verdeckt, außerdem geben mir die Schatten der Nacht zusätzlichen Sichtschutz. Doch will ich heute keinen Ärger riskieren, will es nicht riskieren, ohne Eindrücke von der Demo oder dem angegliederten Marsch verscheucht zu werden. Es ist wahrlich skurril, dass selbst im bedrohlich nahen Donnerklang eines Kriegsdienstes derlei Differenzen wohl doch noch eine Rolle spielen. Solange Corona selbst aber nicht als eine Form der Kriegsführung begriffen wird, so lange wird sich das wahrscheinlich auch nicht ändern. Fairerweise muss dazu gesagt werden, dass ich in der Menge dann tatsächlich doch den einen oder anderen jungen Menschen erblickte, den ich regelmäßig bei den Münchner Corona-Demos wahrgenommen hatte.

Die Auftaktkundgebung war von Anbeginn stark besucht. Von den insgesamt 1.500 bis 2.000 Teilnehmern, bestehend aus Schülern, Studenten und Azubis, hatte sich pünktlich ein Großteil eingefunden und die überschaubare Versammlungsfläche am Rosenheimer Platz an ihre Belastungsgrenze gebracht.

Die Redebeiträge auf der von einem linken Bündnis organisierten Veranstaltung waren erstaunlich … links. In der neuen Normalität ist das keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Auf Gendern wurde größtenteils verzichtet, die Argumente und Redebeiträge waren nah an der Lebensrealität der arbeitenden Bevölkerung, und die ökonomischen System-Mechanismen hinter der Kriegsmaschinerie wurden gut beleuchtet. Wermutstropfen bildeten die wiederholten Forderungen, die Rüstungsausgaben sollten doch lieber in Klimaschutz gesteckt werden. Zwar war hin und wieder auch richtigerweise von „Umweltschutz“ die Rede, doch stach der Klimabegriff als das dominierende Wording hervor.

Es ist bemerkenswert, dass der Zusammenhang zwischen Klima — ergo Naturschäden — und Militarismus erst dann aufs Tableau gebracht wird, wenn eine Wehrpflicht droht. Bei den Fridays for Future und XR-Demos spielte dieser Aspekt überhaupt keine Rolle.

Eine hervorstechende Rede hielt der mittlerweile bekannte Münchner Trambahnfahrer, der sich weigerte, die mit Camouflage überzogene Panzertram durch die Münchner Straßen zu fahren. Er beleuchtete ebenso die divergierenden Klasseninteressen zwischen den Kriegsbefürwortern und jenen, die letztlich den Krieg ausführen sollen. Er schwor die Menge darauf ein, dass Arbeiter nicht auf Arbeiter schießen.

Der anschließende Demonstrationszug schlängelte sich durch München-Giesing sowie das Glockenbachviertel. Trotz „Alerta Alerta Antifaschista“-Rufen sowie gezündeter Feuerwerkskörper und Bengalos, die die Straßenschluchten einräucherten, blieb der Protestmarsch friedlich.

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Foto: © Nicolas Riedl

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Foto: © Nicolas Riedl

Fridays for Frieden

Es gibt Schülerstreiks und es gibt Schülerstreiks. Die einen sind nur der Bezeichnung nach ein Streik. Denn ein Streik bedeutet schließlich, etwas gegen den Widerstand einer Autoritätsinstanz niederzulegen, also Arbeit oder Unterricht zu verweigern. Wenn Lehrkräfte und Eltern das Fernbleiben von der Schule jedoch proaktiv unterstützen — so geschehen vor sieben Jahren bei den „Fridays for Future“-Demos — und damit die Hemmschwelle der Teilnahme absenken, bedarf es wenig Mut und Rebellionsgeist, um die Schule zu bestreiken.

Vor diesem Hintergrund stellte sich am Freitagmorgen die spannende Frage, ob man die Schülerinnen und Schüler wieder derart freigiebig gewähren lassen würde, wie es dereinst bei den Klima-Demos gehandhabt wurde. Schließlich ging es indirekt immer noch um „das Klima“, auch wenn man entideologisiert richtigerweise von Naturschutz sprechen müsste. Die ausgerufene Zeitenwende und ihre Apologeten hatten zuvor in den knapp vier Jahren hinreichend bewiesen, dass vormals zu hehren Zielen erklärte Werte, wie etwa der CO2-basierte„Klimaschutz“, kurzerhand auf dem Altar des „current thing“ geopfert werden können.

Und in der Tat wurden in diesem Falle die Schüler, anders als bei den Klima-Demonstrationen, nicht hofiert, nicht mit dem SUV oder im Geleit der Lehrkräfte zur Demo gebracht, sondern mussten sich ihren Weg dorthin selbst bahnen. Teils gegen starke Widerstände. Einer der Sprecher des Münchner Schülerstreiks gegen die Wehrpflicht kam zu spät zur Versammlungsfläche vor dem Giesinger Bahnhof. Lehrkräfte des nahegelegenen ASAM-Gymnasium hatten ihn aufgehalten. Vielfach wurde in den Redebeiträgen von zu erwartenden Repressionen gegen die streikenden Schüler in Gestalt von Schulverweisen berichtet.

Kurz nach 12 Uhr hatte sich der Bahnhofsvorplatz schnell gefüllt. Bereits auf dem Hinweg waren größere Schülertrauben vor den Schulbunkern zu beobachten. 2.500 Teilnehmer, so hieß es seitens der Veranstalter, hätten sich dem Protest angeschlossen.

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Foto: © Nicolas Riedl

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Wenngleich die Menge an Schüler mehr als ausreichte, um den Giesinger Bahnhofsvorplatz zu fluten, so muss die Zahl relativ, also im Verhältnis zu allen Schülern in München — und wohl auch in allen anderen Städten —, gesehen werden. München verfügt — Stand 2022/23 — über rund 350 öffentliche und allgemeinbildende Schulen mit insgesamt rund 135.000 Schülern. Auf Plakat und Flyer waren gerade einmal drei teilnehmende Schulen gelistet. Und die visuell vor Ort Eindruck machenden 2.500 Schüler wirkten im Lichte der Gesamtzahl aller Schüler dann leider doch sehr überschaubar.

In anderen Worten beziehungsweise Zahlen: Gerade einmal 1,9 Prozent aller Münchner Schüler haben gegen die Wehrpflicht den Unterricht bestreikt.

Wie viele mehr es gewesen wären, hätten Lehrkräfte weniger oder keine Steine in den Weg gelegt, darüber lässt sich nur mutmaßen. Die möglichen Gründe dafür, warum die übrigen 98,1 Prozent ferngeblieben sind, sind vielfältig.

Friedlich Nazis hassen

Unverkennbar entstammten diese knapp zwei Prozent der Schüler aus einem einschlägigen Milieu: links, sozialistisch und woke. Und das hatte durchaus sein Gutes: Denn es wurden wie schon am Vorabend die ökonomischen Wechselwirkungen zwischen Krieg, Verarmung und Profitinteressen profund beleuchtet. So gesehen, tat der seichte Hauch des verbalisierten (Alt-)Linksintellekts dringend not.

Wen man hingegen auf diesem Streik kaum bis gar nicht zu sehen bekam: Schüler mit Migrationshintergrund. Dabei sind diese nicht minder betroffen. Letztes Jahr erst wurde laut darüber nachgedacht, Migranten im Gegenzug für einen abgeleisteten Militärdienst beim Bund einen deutschen Pass auszustellen.

Wer ebenfalls — zumindest augenscheinlich — nicht zugegen war: Schüler aus dem politisch konservativen Spektrum. Zugegebenermaßen müsste man innerhalb dieses Milieus die antimilitaristische Haltung mit der Lupe suchen. Doch wer sich als junger Mensch weder mit Militarismus noch mit Sozialismus anfreunden konnte, der hatte an diesem und wohl nicht nur an diesem Tag keine Plattform. Zwar heißt es in dem offenkundig zur Bewegungshymne erhobenen K.I.Z.-Lied „Frieden“ in einer Textzeile: „Jan ist Patriot / und Fabian ist woke / ist egal, denn hier im Schützengraben sind wir alle Bro’s“, doch war der politisch linke Ausschlag des Streiks überdeutlich. Nachdem zum Beginn noch äußerst friedliche Lieder angestimmt wurden, schallte später „Alle hassen Nazis“ von KAFVKA über den Bahnhofsplatz.

Hier entbehrt es in München und sicherlich auch anderorts nicht einer gewissen Ironie, dass seit 2022 Menschen konsequent als Nazis beschimpft wurden, die damals schon, bevor es cool war, für den Frieden auf die Straße gingen und damit implizit auch gegen jene Wehrpflicht, die an diesem Tag die Schüler auf die Straße trieb.

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Foto: © Nicolas Riedl

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Foto: © Nicolas Riedl

So schwebte durchgehend und unaufgegriffen ein Fragezeichen über der Rednerbühne und dem Demozug: Warum erst jetzt? Warum gehen Schülerinnen und Schüler erst dann auf die Straße, wenn es fast schon zu spät ist? Jetzt erst, wo weite Teile des Landes von Kriegstrunkenheit berauscht sind und das Wehrpflichtmodernisierungsgesetz während des Marsches beschlossen wurde?

Ein Teil der Antwort mag darin bestehen, dass es wohl erst der Schmerz des nahenden Einschlags ist, der Menschen, unabhängig von ihrem Alter, in Bewegung setzt. Ein anderer Teil der Antwort lautet wohl, dass dieses Themenfeld ein ertragreiches Politikum ist. Auf den bundesweit ausgehängten Plakaten und den verteilten Flyern ist die genannte Verantwortliche im Sinn des Pressrechts Andrea Hornung, ihres Zeichens Bundesvorsitzende der zur DKP angegliederten SDAJ, der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend.

Die Einbettung in den dazugehörigen Dunstkreis aus Antifa, Linksjugend und Gewerkschaften verdeutlicht eines: Der Protest gegen die Wehrpflicht ist von Anfang an in systemische und damit unschädliche Bahnen hineinkanalisiert worden.

Für jemanden, der sich in der Coronazeit desillusioniert von der politischen Linken abwandte, bleibt nach diesem Schülerstreik ein fader Beigeschmack, ein Hin- und Hergerissensein. Da ist einerseits beinahe so etwas wie das Gefühl, politisch nach Hause zu kommen. Bei den Redebeiträgen würden wohl die meisten, die mit den 2014-Mahnwachen politisiert wurden, hinter fast jeden Satz im Geiste einen grünen Haken setzen. Vollste Zustimmung! Doch zugleich sind da diese Momente, die einen zusammenzucken lassen. Etwa wenn skandiert wird: „Es gibt … kein Recht … auf …“ Als Corona-Demo-Veteran vollendet man im Geiste den Ausruf mit „Nazi-Propaganda“. Schließlich war man während der Verteidigung der eigenen Grundrechte als Nazi stigmatisiert worden. Doch nun endet der Chor mit dem Wort „Kriegspropaganda“.

Die nächsten Wochen und Monate werden zeigen, wohin sich die „Fridays for Frieden“ bewegen werden, welche Mittel der kognitiven Kriegsführung zum Einsatz kommen, um die Bewegung zu spalten oder anderweitig unschädlich zu machen.

So oder so wird sich eines immer deutlicher herauskristallisieren: Frieden ist nicht allein im Außen, auf der Straße zu erringen, sondern erfordert in erster Linie eine ernste und konsequente Innenarbeit.

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Frieden statt Friedhof. Foto: © Nicolas Riedl