Schwarz-Weiß-Bunt

Eine krampfhaft zur Schau getragene „Diversität“ kann leicht in eine militante Vereinheitlichung des Meinungsspektrums münden.

„Du musst tolerant sein — und wehe, wenn nicht!“ So lautet oft die verwirrende Botschaft, die uns das „woke“ Milieu kredenzt. Man ist tolerant allen gegenüber und begrüßt islamistische Reden in der Fußgängerzone ebenso freudig wie Drag Queens im Kindergarten. Nicht tolerierbar sind dagegen konservative Ansichten, ist der Wunsch nach einer weitgehend homogenen Gesellschaft, wie sie vor einigen Jahrzehnten in Deutschland noch üblich war. „Bunt statt braun“ heißt die verbreitete Ansage, womit gemeint ist: Wer eine möglichst diverse Gesellschaft nicht kritiklos akzeptiert, muss ein Nazi sein. Dabei kennzeichnen zwei andere Farben den momentanen Zeitgeist weitaus mehr als „Bunt“, und das sind Schwarz und Weiß. Schwarz-weiß-Malerei nämlich ist ganz groß im Kommen. Entweder sind Menschen ganz und gar böse — zum Beispiel AfD-Mitglieder — oder sie besitzen ein Abonnement auf Güte — Vertreter des links-liberalen Milieus. Anknüpfend an einigen biografischen Erfahrungen entlarvt der Autor in diesem Beitrag die inneren Widersprüche, die in einem Zwang zur Toleranz und in der Errichtung einer Monokultur der „Buntheit“ liegen.

Nach zehn Jahren Abstinenz besuche ich mit meiner Tochter ein Festival in meiner Heimat, das für seine Familienfreundlichkeit bekannt ist. Aber schon am Eingang bin ich irritiert: Das traditionelle Logo erstrahlt in Regenbogenfarben. Der Regenbogen ist längst mehr als ein bestimmtes gesellschaftliches Symbol, mehr als ein Code, er ist ein Bekenntnis. Ginge es nach mir, würde am Eingang ein Schild hängen: „Politik muss draußen bleiben!“. Es geht aber nicht nach mir; wenn ich bis hierher geglaubt hatte, einen Schonraum der Normalität zu betreten, sollte ich eines Besseren belehrt werden.

Ich habe mich daher zu einer bunten Reflexion entschlossen.
Auf einer Tafel lese ich ein Zitat von Brecht, bei dem ich mir nicht sicher bin, ob er seine Verwendung an dieser Stelle befürwortet hätte:

„Wenn das so bleibt, was ist, seid ihr verloren. Euer Freund ist der Wandel, euer Kampfgefährte der Zwiespalt. Aus dem Nichts müsst ihr etwas machen. Aber das Großmächtige soll zu nichts werden. Was ihr habt, das gebt auf und nehmt euch, was euch verweigert wird!“

Geht es um den Wandel? Gut, aber geschieht er, oder ist er installiert? Und der Zwiespalt: Ist er innerlich oder entlehnt man ihm die Legitimation zur Formung eines Feindbildes? Und was ist in diesem speziellen Fall das „Großmächtige“, das man loswerden will?? Die Aufforderung, sich „zu nehmen, was uns verweigert wird“ bleibt auch ohne Konkretisierung stehen. Was soll diese Botschaft also?

Es ist intellektuell unredlich, zusammenhangslos Zitate für die eigene Sache zu konstatieren, aber genau das geschah hier, wie ich bald feststellen musste.

Mein Blick fällt kurz darauf auf eine Art Wegweiser: bunte Schilder in Pfeilform, auf denen schöne Werte wie „Toleranz“, „Leichtigkeit“, „Solidarität“, „Vertrauen“ und „Gemeinschaft“ prangen. Eigentlich typisch für dieses Festival — aber irgendwie will es sich heute nicht stimmig anfühlen. Diese fehlende Stimmigkeit in meinem Gefühl bekommt auch gleich Nahrung:

Mein Blick fällt auf einen Stand der „Omas gegen Rechts“. Ein Stück weiter einer der Antifa. Was haben solche Institutionen auf einem Familienfestival überhaupt zu suchen? Warum sitzen die Omas nicht mit ihren Enkeln in den Bastel-Workshops?

Es wird noch eindeutiger: Ich entdecke Aushänge mit Aussagen, wie die AFD angeblich emotionalisiert und manipuliert. Ausgehängt vom „Förderkreis Kultur. e.V.“

Ich stehe also nicht auf neutralem Boden. Ich stehe auf dem Boden der Guten. Immerhin, da fühle ich mich doch gleich viel besser. Oder?

Nein, die Unstimmigkeit bleibt.

Ein anderes Plakat verkündet: „Für Toleranz und ein respektvolles Miteinander“, während direkt nebenan Aufkleber mit „FCK AFD!“ auch an Kinder verschenkt werden. Die Absurdität darin ist schon unsichtbar geworden. Überzeugungen sind eben in der Regel nicht mehr als Blinkwinkelverengungen.

„Sei tolerant!“ — diese Aufforderung ergibt nur Sinn im Modus der Intoleranz. Toleranz ist der Raum, dem ich dem Anderen zugestehe, solange er den meinen nicht verletzt.

Wird dieser Begriff allerdings in einem „Double Bind“ vermittelt, entsteht eine „kognitive Dissonanz“. Denn die Forderung der Toleranz beinhaltet die Intoleranz gegenüber denen, die nicht derselben Meinung sind, weil sie das Geschehen anders beurteilen und vom Mainstream abweichen.

Toleranz und Respekt sind anscheinend von grundlegenden, universellen und allgemeingültigen Werten zu ideologiedefinierten Verhaltensvorgaben verkommen. Sie haben ihre Quelle nicht mehr im Bürger selbst, der Kraft seiner intuitiven Sittlichkeit und Reife selbst weiß, wo und wie er sie konkret anzuwenden hat. Diese Fähigkeit wird ihm nur in Systemen abgesprochen, die ausschließend sind — totalitär will ich es nicht nennen..

Ein ausschließendes System braucht Feindbilder, das wissen wir inzwischen zu gut. Der Mensch, der nicht die Überzeugungen teilt, die offiziell als richtig oder „politisch korrekt“ deklariert sind, hört auf, ein Individuum zu sein und wird pauschal zum Träger aller Inhalte und Eigenschaften, die vom Mainstream negativ konnotiert sind. Er ist ungeachtet seiner tatsächlichen Haltungen Projektionsfläche dessen, was undifferenziert als verurteilt gilt. Alles Unerwünschte landet in derselben Kiste. Dieses Undifferenzierte ist das wirklich Unangenehme: Als ich die Sekte verlassen habe, in der ich aufgewachsen bin, wurde ich zum Träger des „Bösen“ — ohne tatsächlich etwas „Böses“ getan zu haben. Daher erübrigte sich auch jedes Gespräch seitens meiner ehemaligen Geschwister mit mir.

Ich war froh, aus diesem engen System in eine offene und tolerante Welt hinüber wechseln zu können — und stehe nun, auf einem Musikfestival, erschrocken wieder dicht am Rand.

Am Rand — dort ist es gefährlich, das wissen wir. Da kann man herunterfallen. Oder herausfallen.

Da „draußen“ will man nicht sein, da ist alles und jeder, der noch nicht weiß, was wahr und gut ist. Da sind die Irregeleiteten, die Unwissenden oder die Dummen.

Klar: Denken funktioniert nur durch Relativierung, also durch Trennung. So arbeitet der Verstand. Und wir leben in der Epoche des Verstandes, und entsprechend definieren wir Individualität. Leider muss darunter zwangsläufig das Gemeinsame leiden.

Dabei impliziert Individualität Toleranz: Ich bin anders als du — und umgekehrt.. Das macht die Welt vielfältig und bunt. Man bräuchte das nämlich nicht explizit hervorheben, wäre es echt.

Dann bräuchte es keine Plakate mit Belehrungen wie:

„Unser Awareness-Team ist jederzeit vor Ort — weil Diskriminierung, übergriffiges Verhalten oder sexualisierte Gewalt bei uns nichts zu suchen haben.“

Ist das nicht selbstverständlich? In welcher Zeit leben wir eigentlich? Sind „Diskriminierung, übergriffiges Verhalten und sexualisierte Gewalt“ wirklich derart häufig geworden, dass wir uns laut zu deren Verurteilung bekennen müssen? Halten Plakate wie diese Täter davon ab? Ich weiß es nicht.

Vielleicht. Denn ich sehe viele queere Menschen, viel mehr als früher. Ein Zeichen der Befreiung lange unterdrückter Wahrheiten? Oder ist die Sehnsucht nach Authentizität in die Selbstdarstellung diffundiert? Ich empfinde es persönlich zumindest nicht als ein Plus an Vielfalt, denn es liegt etwas Krampfhaftes, Künstliches in der Darstellung vieler dieser Personen.

Nicht mehr „cool“, nicht „hip“ oder „hippie“, nicht alternativ oder kreativ wirkt es auf mich, sondern eher wie ein Contest zu einer Bad-Taste-Party. Eine Generation, die gesehen werden möchte, die wahrgenommen werden möchte und dazu opportunistisch das politisch eingeleitete und promotete Mittel der Diversität nutzt?

Ein neues „Normal“, künstlich geschaffen und in Wahrheit eine Nivellierung echter Vielfalt von innen? Ich zumindest habe nicht den Drang, meine Sexualität zum Lifestyle zu machen und über mein Äußeres zu kommunizieren. Sie ist intim und selbstverständlich Privatsache und sie existiert ganz gut ohne laute Selbstdarstellung.

Meine zehnjährige Tochter war auch irritiert. Ob „Kindermund tut Wahrheit kund“ noch gelten darf in dieser „aufgeklärten“ Zeit?

Ich bin tolerant. Ich brauche keine Erinnerung daran. Ich bin respektvoll, aber niemand muss mir sagen, wo Respekt zu enden hat. Ich möchte Gemeinschaft, aber keine, die allein zu wissen glaubt, was Recht und was Unrecht ist. Ich bin Pazifist, deshalb schließe ich mich keiner gewaltsamen Unterdrückung Andersdenkender an. Versöhnung entsteht nicht durch die Auflösung von Traditionen und die Erschaffung neuer gesellschaftlicher Regeln, sondern durch Verständnis, das bekanntlich auf Kommunikation beruht. Das habe ich auf diesem Festival nicht gefunden. Ich hoffe inständig, dass sein Rahmen nicht die Wirklichkeit seiner Besucher abbildete.