Schweigen als Muttersprache

Der Widerstand gegen die Debatte um mehr Präsenz von Frauen im Journalismus, zeigt wie nötig sie ist.

Frauen an die Federn — Manovas Aufruf birgt Diskussionsstoff. Unverständnis hier, Entrüstung da. Das kann nur ein bedeuten: Gut, dass wir darüber sprechen. Die Meinungen gehen auseinander. Mancher fragt sich, warum das überhaupt thematisiert werden muss. Frauen können doch alles machen, was sie wollen. Frauen haben es doch geschafft, in typische Männerberufe vorzudringen. Brauchen wir etwa noch mehr Frauenquote? Wann kommen die Frauen endlich aus ihrer Opferrolle heraus? Tatsache ist: Jahrtausendelang waren Frauen Opfer von vor allem männlicher Gewalt. Mehr oder weniger subtil leben die Gewaltstrukturen in unserer Sprache und unserem Verhalten fort. Manche fallen uns gar nicht auf. Männliche Überheblichkeit und weibliche Giftigkeit scheinen uns normal. Beides muss nicht sein.

„Wie in allen Gemeinden der Heiligen lasset die Frauen schweigen in der Gemeinde.“ So heißt es im ersten Brief des Paulus an die Korinther. In etlichen neutestamentlichen Textpassagen wird den Frauen das Sprechen in der Öffentlichkeit verboten. Während der gesamten Geschichte des Christentums wurden die Frauen zum Schweigen verurteilt, einem Schweigen, das bereits mit der Etablierung der hebräischen Religion und der ausschließlich männlichen Priesterschaft einsetzte.

Und was hat das mit mir zu tun? mag sich mancher fragen. Heute ist es doch ganz anders. Heute ist das Sprechverbot für Frauen aufgehoben. Vor allem Frauen sind pikiert, wenn das schöne Bild von der Gleichstellung von Frau und Mann angegangen wird. Seit 1918 dürfen wir ja wählen, seit 1961 die Pille nehmen, seit 1962 ein eigenes Bankkonto eröffnen und seit 1977 auch ohne die Erlaubnis des Ehemannes arbeiten. Wir können sogar Außenministerin werden, Bundeskanzlerin und Präsidentin der Europäischen Kommission. Also, wo ist das Problem? Sind wir nicht die Leiter emporgestiegen? Haben wir es nicht geschafft, ein Stückchen vom Erfolgskuchen abzubekommen? Haben wir nicht auch die Hosen an?

Ja, das haben wir. Oft so eng, dass sie uns den Unterleib einquetschen. Wir können sogar während der Periode weiße Hosen tragen. Von den monatlichen Blutungen soll möglichst niemand etwas mitbekommen. Und auch nicht von den krampfartigen Unterleibsschmerzen, den Kopf- und Rückenschmerzen, dem Unwohlsein, der Übelkeit, dem Erbrechen und dem Durchfall, unter denen 50 bis 90 Prozent der Frauen leiden. Auch über immer häufiger auftretende Beschwerden wie Zysten, Myome und Endometriose wird nicht viel gesprochen. Ebenso wenig wie über umweltbedingte Zyklusstörungen, Stimmungsschwankungen, Wassereinlagerungen, unkontrollierbare Gewichtszunahme oder -verlust.

Uns geht es gut. Zwar leiden immer mehr Frauen unter Brust-, Eierstock- und Gebärmutterkrebs und sterben daran, zwar geht unsere Fruchtbarkeit geradezu dramatisch zurück, so dass viele eine künstliche Befruchtung und die damit einhergehenden gesundheitlichen Risiken riskieren, zwar liegt die Gehaltslücke bei Männern und Frauen immer noch bei 20 Prozent, zwar werden Frauen zunehmend von der LGBTQ-Bewegung verdrängt, zwar gehören alleinerziehende Mütter zu den am meisten benachteiligten Personen der Gesellschaft — doch das ist nicht so schlimm. Wir haben viel Schlimmeres durchgemacht.

Verachtet, verfolgt, verbrannt

Im antiken Griechenland hatten Frauen so gut wie keine Rechte. Sie lebten zurückgezogen im Haus und nahmen fast nicht am öffentlichen Leben teil. Auch im alten Rom waren Frauen das Eigentum der Männer, rechtlich dem Vieh gleichgestellt. Die ersten Opfer der Christenverfolgungen waren Frauen. Vor allem Frauen waren es, die der Inquisition zum Opfer fielen. Auf dem Scheiterhaufen wurden keine Hexen, sondern Frauen und Mädchen verbrannt.

Frauen galten als zerbrechlich, minderwertig und gefährlich. Sie durften weder Recht sprechen noch regieren, unterrichten oder predigen. Eingeschlossen in die häuslichen vier Wände oder ins Kloster, war ihnen der Unterricht in schulischen und religiösen Einrichtungen verboten. Unfähig, die Techniken der Sprache zu beherrschen, waren sie dem Manne untergeordnet und galten als intellektuell defizient.

Im 19. und 20. Jahrhundert war zwar die Inquisition vorbei, bei der ein minimaler Verdacht, ein kleiner Hinweis ausreichten, um eine Frau als Hexe zu foltern und zu ermorden. Doch nun reichte ein winziger gesellschaftlich nicht geduldeter Fauxpas oder etwa die Forderung nach mehr Bildung, um eine Frau mit der Diagnose „Hysterie“ in eine psychiatrische Klinik einzuweisen. Frauen, die Probleme mit dem ehelichen Pflicht-Beischlaf hatten, liefen Gefahr, sich einer Klitoridektomie unterziehen zu müssen, um zu vaginaler Lust umerzogen zu werden.

Das sitzt

Über Jahrtausende wurden Frauen unterdrückt, als Gefäß der Sünde verachtet oder als Lustobjekt missbraucht. Diese Geschichten sind nicht einfach mit der Zeit verschwunden, sondern stecken uns tief in den Knochen. Sie sind in unseren Zellen und unserer DNA verankert. Auch heute noch werden Frauen vergewaltigt, verstümmelt und ermordet. Auch heute noch hat es mehr Gewicht, wenn Männer sprechen. Auch heute werden wissenschaftliche Errungenschaften von Frauen weniger wertgeschätzt als die von Männern.

Es ist, als würde mancher immer noch glauben, Männer hätten die größeren Köpfe und folglich mehr Verstand.

Vor diesem Hintergrund bekommen wir vielleicht eine Antwort darauf, warum Frauen in der Öffentlichkeit heute immer noch wesentlich zaghafter sind als viele Männer. Aus meiner Sicht liegt es nicht allein daran, dass Frauen ja auf andere Weise schöpferisch sind als Männer, dass Frauen es einfach nicht so brauchen, sich öffentlich darzustellen, oder dass Frauen eben per se zurückhaltender sind und sich lieber mit anderen Dingen beschäftigen, als öffentlich das Wort zu ergreifen. Frauen sind immer noch weit davon entfernt, ihre tiefen Verletzungen geheilt zu haben.

Es ist das Leid, der uralte Schmerz, der uns daran hindert, vertrauensvoll in die Welt hinauszugehen und unseren Beitrag zum öffentlichen Leben nicht nur hinter verschlossen Türen zu leisten, sondern auch auf großen Plätzen. Wenn Frauen mehr im Hintergrund wirken, dann mag das einerseits daran liegen, dass ihr Streben nach Macht weniger ausgeprägt ist. Andererseits verbirgt sich hinter ihrer Zurückhaltung ein tiefes Trauma, eine nur schwach gebändigte Angst, für ein falsches Wort, einen kleinen Fehltritt schwer bestraft zu werden.

So mangelt es an weiblichen Beiträgen zu der Frage, wie wir aus dem aktuellen Schlamassel wieder herauskommen. Ausnahmen bestätigen die Regel. Es mangelt an konstruktiven, praktischen, umfassenden Initiativen, an gesundem Menschenverstand, der mit Machtstreben nicht vereinbar ist. Es mangelt an Wärme, Weichheit und weiblicher Zuversicht.

Es mangelt an Mütterlichkeit, an Fürsorge und Zärtlichkeit. Es mangelt an einer offenen Diskussion darüber, was das überhaupt ist, weiblich und männlich.

Auf unseren Straßen flanieren Männer, die sich als Frauen, und Frauen, die sich als Männer ausgeben. Der Verkleidung fließt alle Aufmerksamkeit zu. Doch nicht dem, was dahintersteht.

Alles muss raus

Während das Männliche mit dem Eindringenden verbunden ist, steht das Weibliche für das Empfangende. Hier ist keines dem anderen über- oder untergeordnet. Es braucht beide, um kreativ, schöpferisch zu sein und neues Leben hervorzubringen.

Männliche Attribute wie Kampf, sich aneinander messen und das Streben nach Macht sind dem Weiblichen weitestgehend fremd. Weibliche Energie strebt nach Verbundenheit. Sie ist nicht wie die männliche Energie linear, sondern zyklisch ausgerichtet und steht für Kreativität, Gefühle, Weichheit, Intuition und Hingabe. Das Weibliche gibt eher nach und hört zu. Doch auch wenn Frauen sich im Laufe der Jahrtausende daran gewöhnt haben, die zweite Geige zu spielen, braucht es jetzt, inmitten des Chaos, genau diese Eigenschaften. Sie gilt es, nach vorne zu bringen und sichtbar zu machen.

Das vorpreschende Männliche braucht das zurückhaltende Weibliche, um nicht überheblich, rücksichtslos und brutal zu werden.

Die Männerwelt, in der wir immer noch leben, braucht Frauen, die sich ihrer Weiblichkeit und ihrer Empfindsamkeit nicht schämen, die es wagen, mit ihren Ideen an die Öffentlichkeit zu treten. Es braucht die Stimmen der Frauen, die nicht mit Daten und Fakten um sich werfen, sondern die sich trauen, Fragen zu stellen, in Frage zu stellen, Frauen, die ihre Verletzlichkeit und ihre Grenzen deutlich zeigen.

Wir brauchen keine Platzhirsche und Besserwisser, sondern Menschen, die sich in ihrer Menschlichkeit zeigen und die auch die ganz heißen Eisen anfassen: die Missachtung, die Missgunst, den Missbrauch, die Machenschaften, mit denen wir uns gegenseitig versucht haben, gefügig zu machen. Ob Frau oder Mann: Wer jetzt ehrlich ist, der spürt, dass er nur allzu oft ein falsches Spiel gespielt hat. Wir haben einander getäuscht und uns etwas vorgelogen. Darüber empört zu sein, ist unser gutes Recht!

Sprechen wir es aus. Bringen wir zum Ausdruck, was sich so tief in uns eingeprägt hat. Lassen wir die Angst raus, die Trauer, die Wut, und schämen uns ihrer nicht! Die erstickten, ertränkten, zerstückelten Gefühle wollen rausgelassen werden, rausgeschrien, rausgeheult, rausgeschluchzt. Lassen wir unseren Körper sprechen! Schütteln wir die alten Verletzungen von uns ab, streifen wir sie ab wie ein altes Gewand und schämen wir uns nicht, uns zu entblößen. Schämen wir uns unserer Nacktheit nicht, die sichtbar wird, wenn wir die alten Schichten, die alten Geschichten hinter uns lassen, die uns den Blick versperrten.

Im Spiegel des anderen

So werden wir sehend. Der Mann sieht, wo er dominiert, manipuliert, erniedrigt, die Frau nicht ernst genommen hat. Er hat sie im Stich gelassen und seine Kraft missbraucht. Seine Wut hat er gegen sie gerichtet, seinen Hass, seine Verachtung. Seine eigene unterdrückte Sexualität hat er in ihr bekämpft. Er spürt die Verzweiflung der Frau so wie die eigene Angst, alleine zu sein. In ihr erkennt er sein Spiegelbild. Seine eigenen Schatten hat er auf sie geworfen. Seine Angst vor Schwäche und Impotenz hat ihn dazu getrieben, nur ein schwaches Gegenüber zu ertragen, das es nicht wagt, ihn herauszufordern.

Die Frau erkennt, wie verzweifelt sie die Suche nach wirklicher Liebe gemacht hat, wie unruhig und verloren.

In Äußerlichkeiten hat sie sich verrannt, in übertriebener Anpassung, und es sich in ihrer Opferrolle bequem gemacht.

Ich würde gerne anders. Aber ich darf nicht. In ihrem Wunsch nach Sicherheit hat sie das Machtspiel mitgemacht und wurde innerlich unerreichbar für den Mann. Hinter Hohn, Spott und Verachtung hat sie sich versteckt und den Mann manipuliert, ohne dass er es bemerken konnte (1).

Auch wenn die einen die anderen dominiert haben: Beide sind verletzt. Beide sind enttäuscht voneinander. Beide haben aneinander vorbeigelebt, seit wir einander nicht mehr auf Augenhöhe und in echtem Vertrauen begegnen. Und beide sind getrieben von dem Wunsch nach Wiedervereinigung und dem Ende des Kampfes. Beide wollen heilen.

Wir müssen reden

Der erste Schritt ist getan, wenn uns bewusstwird, wie tief die Verachtung der einen für die anderen sitzt. Die kleinen, abfälligen Bemerkungen zeigen es, die uns oft gar nicht auffallen, die wegwischenden Gesten, die Weigerung, den anderen ernst zu nehmen und ihm Aufmerksamkeit zu schenken, die abwesende Neugier, die mangelnde Bereitschaft zuzuhören, das fehlende Interesse daran, sich überhaupt mit einem anderen Standpunkt zu beschäftigen. „Der spinnt ja.“ „Die soll sich nicht so anstellen.“

Immer noch tickt die Angst, etwas „Falsches“ zu sagen oder zu tun. Die Enttäuschung ist noch da, die Scham, die tiefe Unzufriedenheit, die Sehnsucht, dass es einmal anders sein könnte. Oder ist es das schon? Beginnt die Annäherung nicht schon dort, wo ein Thema auf den Tisch kommt und wo wir beginnen, uns aneinander zu reiben? Gibt es nicht schon Verbindungen, in denen wir uns bemühen, einander besser zu verstehen?

Hören wir uns nicht schon zu? Stellen wir uns nicht schon gegenseitig ein Feld zur Verfügung, auf dem sich der andere frei bewegen kann, ohne dass wir ihn abwerten oder verurteilen? Tasten wir uns nicht schon langsam voran, indem wir uns auf das Wagnis neu gestalteter Partnerschaften einlassen, indem wir überhaupt den Mund aufmachen, wenn uns etwas anstößt, und nicht mehr schweigen, weil wir denken, der andere würde es sowieso nicht verstehen? Sind wir nicht schon auf gutem Wege?