Sich erinnern, um zu vergessen
Lange Zeit wurde Erinnerungskultur großgeschrieben, aber nachhaltige Lehren wurden offenbar nicht aus ihr gezogen. Die konnte man auch am Hiroshima-Gedenktag 2025 sehen.
„Da ist der Schatten eines Mannes in Hiroshima“ heißt es im Lied der Band Wishful Thinking. Gemeint war ein Lichteffekt, verursacht durch die erste auf Menschen abgeworfene Atombombe durch die USA am 6. August 1945. Einen Schatten wirft auch die zumindest an Gedenktagen allgegenwärtige „Erinnerungskultur“. Sie hat ihr Versprechen, neuen Gefahren durch die Vergegenwärtigung des historischen Grauens zu vermeiden, nicht wahr machen können. Erinnern ist heute ist ein Akt der Selbstgerechtigkeit, vollzogen von Menschen, die sich selbst als Kraft des Guten inszenieren und ihren Schatten so auf politische Gegner projizieren. „Nazis“ sind immer die anderen, was das eigene Image reinwäscht, während man die Freiheitsrechte einschränkt und sich immer autoritärer gebärdet. Ermahnungen, ausgestoßen anlässlich des 80. Jubiläums der Hiroshima-Bombe, hinderten die Mahnenden nicht daran, im Schatten der Inszenierung die Weichen in Richtung auf einen neuen großen Krieg zu stellen. Setzt sich diese Entwicklung fort, werden die Toten der Kriege ein zweites Mal verraten.
Es gab eine Zeit, da wurde so gut wie jeden Tag an das erinnert, was sich in den zwölf Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft ereignete. Irgendwann in den 1990er Jahren setzten die Verantwortlichen des ZDF Guido Knopp auf die eigenen Zuschauer an. Man hatte den Eindruck, dass Knopp fast alleinverantwortlich für die TV-Erinnerungskultur war. Im politischen Betrieb gehörte es in jenen Jahren zum guten Ton, sich bei Festakten zurückzuerinnern und zu appellieren, dass es die Deutschen seien, die besondere Verantwortung trügen. Schnell bekam man jedoch als Rezipient das Gefühl, dass die Gedanken und Aussagen, die sich dem Erinnern widmeten, in Floskeln erstarrten, die überdies stets im Wortlaut genau gleich klangen, so als wären sie stupide auswendig gelernt worden. Ein Soziolekt der Erinnerungskultur entstand, die Verantwortung als deutsches Erbe wurde dabei besonders häufig zitiert.
Die Verantwortlichen in der Politik indes sonnten sich meist sonntags im Glanz des Erinnerns. Ihre Reden waren schwülstig, wollten den Anschein denkerischer Schwere vermitteln. Wochentags sah es anders aus, die Sozialdemokraten gingen damals daran, die sozialstaatliche Agenda der alten Bundesrepublik aufzuweichen und die Union feuerte zu noch mehr Schandtaten im Sinne des sozialen Kahlschlages an. Wer heute von der Spaltung der Gesellschaft spricht, führt das gerne auf die Corona-Jahre zurück, vielleicht noch auf die Flüchtlingskrise von 2015.
Aber das greift tatsächlich zu kurz:
Die Reformjahre Anfang des Jahrtausends legten den ersten Grundstein, den sogenannten „kleinen Leuten“ ging eine Alternative zur Politik des Big Business verloren. Die Alternativlosigkeit erhielt Einzug in ein System, das sich selbst zur Postdemokratie herunterwirtschaftete.
Die Erinnerungskultur ging zugleich aber nicht so weit, die sozialen Verwerfungen verhindern zu wollen, die auch damals, in den dunklen Jahren deutscher Geschichte, zur gesellschaftlichen Erosion führten.
Bürgerliche Lebenslügen
Dennoch war das Land mächtig stolz auf das, was es leistete: In der öffentlichen Debatte wurde kein Blatt mehr vor den Mund genommen — man arbeitete auf, wollte wissen, was in den Jahren von 1933 und 1945 geschah. Vorgeschichte? Ja, auch auf dieses Terrain tastete man sich vor — aber viel schüchterner, denn eine Gewissheit gab es in Erinnerungsdeutschland durchaus weiterhin: Hitler war ein Unfall der Geschichte. Etwas, das dem Bürgertum übergestülpt wurde — von wem auch immer. Vielleicht auch nur von der unsichtbaren Hand, die angeblich die Märkte führt und vielleicht ja auch die Geschichte.
Ulf Poschardt spricht in seinem aktuellen Essay davon, dass sich das deutsche Bürgertum in der Nachkriegszeit von der Schuld abgespalten habe — daher hatte es mit dem, was damals geschah, auch nichts zu tun. Es trennte das Böse vom eigenen Selbst und war fein raus — dass ein Großteil des Bürgertums heute als „die Guten“ durch die Welt schweben, nahm seinen Anfang mit dieser Reinwaschung nach dem Krieg. Diese Tendenz scheint sich selbst in die Bundesrepublik der 1990er hinübergerettet zu haben, in der das programmatische Erinnern kultiviert wurde.
Mit diesem Impuls ließ es sich leichter aufarbeiten. Zwar ließ man zu, dass die eigenen Großeltern im Zuge der Erinnerung und Aufarbeitung schlecht wegkamen, aber wie es möglich wurde, dass eine solche Bewegung eine derart politische Durchschlagskraft entwickelte, kümmerte schon damals herzlich wenige Menschen — und auch wenn es so scheint: Auch heute interessiert sich kaum jemand dafür. Zwar wird viel von einer Machtergreifung salbadert, aber welche Dynamiken den Sturz der Weimarer Republik begünstigten, bringt kaum jemand aufs Tapet. Eine nüchterne Analyse hätte auch wenig Sinn im Trommelfeuer moralingetränkter Platzpatronen — denn das will niemand hören.
Der Zeitsprung zurück endet also immer im Jahr 1933; alles, was vorher war, wird stiefmütterlich behandelt. Als haben gerade die sozialen Verwerfungen nichts mit dem zu tun, was danach kam — wer sich ernstlich erinnern möchte, dem könnten dumme Fragen in den Sinn kommen.
Etwa solche: Hat die ungleiche und ungerechte Verteilung gesellschaftlich erwirtschafteten Wohlstandes nicht auch eine Wirkung auf die Entscheidungsfreudigkeit von Wählern? Radikalisiert sich die Stimmung innerhalb der Gesellschaft nicht vor allen Dingen deswegen?
Hier haben wir es mit einer bürgerlichen Lebenslüge der Nachkriegszeit zu tun, die sich auch im später aufklärungsfreudigen Deutschland der 1990er Jahre manifestiert hat. Zwar hatten die Deutschen nun eine Erinnerungskultur, aber gewisse Aspekte fanden darin einfach keine Beachtung — Hitler faszinierte als abgrundtief Böser, als Inkarnation des Teufels. Aber er war in Wirklichkeit eine Gestalt aus der Mitte der damaligen Gesellschaft. Als Unfall, der ins bürgerliche Idyll einbrach, konnte das Bürgertum, das den Krieg überlebt hatte, besser mit den Ereignissen umgehen. Hitler war demnach ein Verführer — und die Bourgeoisie die Verführte, das hilflose Opfer eines Satans. Jahrelang gab es Dokus zu allen Aspekten von Hitlers Deutschland, das ZDF legte immer wieder nach. Von Hitlers Helfern ging es zu Hitlers Frauen und zu Hitlers Kindern. Und es schien, als hätte das Land begriffen, dass es eine Verantwortung hat, der es sich stellen muss.
Nie wieder Atombomben?
In den 1990ern fing der emsige Erinnerungskult an — in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends ebbte er wieder etwas ab. Selbstverständlich nahm man eine würdige Betrachtung jener zwölf Jahre weiterhin als dringend geboten wahr und mahnte in Reden gerne zu Anstand und Sitte, aber gleichzeitig verschärften sich die sozialpolitischen Fronten im Lande und ganze Landstriche verloren den Anschluss. Nach einiger Zeit modifizierte sich das Erinnern: Es wurde zu einem irrationalen Fetisch.
Plötzlich galten Menschen, die real existierende Problematiken ansprachen, etwa die Unausgewogenheit bei einem starken Übermaß von Einwanderung, als verdächtig. Sie wurden zu Wiedergängern der damaligen Jahre herabgewürdigt. Das wiederum sorgte für eine weitere Spaltung im Lande.
Bis heute erlebt das Land die Folgen dieser fehlgeleiteten Aufarbeitungs- und Erinnerungskultur: Sie wird von teils grotesken Gestalten in geradezu infantiler Form ausgelebt — diese Menschen sorgen für eine sich verstetigende Zerrissenheit im Lande. Dass sie das Land vor dem Übergriff durch „das Böse“ retten würden — was immer sie damit gerade meinen —, wie sie gerne und laut von sich behaupten, ist jedoch nur eine weitere Lebenslüge.
So sehen diejenigen, die heute nicht selten via regierungsnahen Nichtregierungsorganisationen an damals erinnern und das im Heute anmahnen wollen, noch nicht mal, wie sich besorgniserregend das ultimative Bedrohungsszenario, ja das finale Böse, wenn man es so ausdrücken möchte, vor der Gesellschaft auftürmt: Der Krieg. Zwar berichteten zum Beispiel Zeitungen vom 80. Jahrestag des Atombombenabwurfes auf Hiroshima, zeigten Bilder, ließen Zeitzeugen und deren Nachfahren zu Wort kommen, erzählten nochmal die Geschichte des Abwurfes und der Folgen, aber wagten keinen Rückschluss auf die heutige Situation.
Hier zeigte sich die eben schon angesprochene Abspaltung vom eigenen Selbst erneut:
Dass die Bedrohung durch einen Atomarschlag mitten unter uns, mitten in diese zeitgenössische Gesellschaft hineinwirkt, findet keine Beachtung — man machte die Nutzung der Atombombe zu einem Relikt aus der menschlichen Geschichte. Die deutschen Mainstream-Medien erinnern sich zwar, mahnen aber nicht — sie spalten sich von der Mahnung ab, weil sie lästige Fragen aufwerfen könnte, die zu beantworten sie sich nicht wagen.
Mit Ablauf des geschichtsträchtigen Datums setzte dann wieder das Vergessen ein — was nicht stimmt, denn eigentlich war es viel schlimmer, denn diesen Qualitätsmedien gelang es in der Tat, neben den Berichten grauenhaftester Kriegsfolgen durch die Atombombe auch weitere Meldungen zu platzieren, die der deutschen Kriegstüchtigkeit das Wort redeten. Sich zu erinnern, um im selben Moment zu vergessen: Das ist eine Abspaltungsmeisterleistung.
Die Erben der Lebenslüge
Oder erinnert man sich gar, um zu vergessen? Ausgeschlossen ist das nicht. Orwell hat dieser Tage bekanntlich Hochkonjunktur. So bekommt der Historiker Karl Schlögel, der schon früh auf Russlands imperialen Feldzug verwies, damit Russland Drang nach Westen vorgab und recht eindeutig Deutschland kriegsbereit sehen möchte, den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zugesprochen.
Marie-Agnes Strack-Zimmermann wurde indes mit einem Preis für ihre Menschlichkeit bedacht: Dass deren Name und das Wort „Menschlichkeit“ überhaupt in einem Satz geschrieben werden kann, ohne dass sich der Erdboden auftut, hätte bis neulich kein Mensch für möglich gehalten. Wenn Krieg Frieden und Freiheit Sklaverei ist — warum sollte dann Erinnerung nicht Vergessen sein können? Wer nun einwerfen möchte, dass das ziemlich unlogisch klinge, dem sei nur eines mitgeteilt, was heute im Sinne von Orwells Verdrehungen stimmig sein sollte: Unlogik ist Kohärenz.
Was hat letztlich all dieses Gedenken gebracht, auf das sich Deutschland besonnen, ja geradezu spezialisiert hatte? Einzigartig wollte man in der Welt sein, indem man sich angstfrei der schlimmen Vergangenheit stellt und sie nicht mehr wegschiebt und ausblendet. Am Ende mündeten die Bemühungen in einen kruden Kult, der nicht aufarbeitete und verstehen wollte, sondern die Erfahrungen von damals nutzte, um sie im Heute als Keule zu missbrauchen. Die Erinnerungskultur erstarrte zuerst und wurde dann von Aktivisten belagert — heute kann man daher guten Gewissens feststellen: Das Erinnern hat nichts Positives bewirkt.
Kollektiv über die Zeitenläufte hinweg Vergangenes heranzuziehen, um damit ein Verantwortungsgefühl in der Zukunft zu nähren: Das mag der feuchte Traum von Theoretikern sein — doch so funktioniert Gesellschaft nicht.
Diejenigen, die heute „im Dienst des Erinnerns“ stehen wollen und mit ihrem angeblichen Erbe politische Kontrahenten stigmatisieren, haben nicht den Widerstandsgeist gegen den Nationalsozialismus in sich, sondern die bürgerliche Abspaltungshaltung, die simuliert, dass sie mit dem Bösen nichts zu tun hätten.
Anders gesagt: Sie leben die Lebenslüge der Bürgerlichen weiter. Für sie ist nun die AfD der Unfall der Geschichte, so wie es Hitler für die Bürgerlichen der alten Bundesrepublik war — Hitler kam für sie aus dem Nichts, als hätte ihre bürgerliche Gesellschaft alles richtig angestellt und dennoch verunfallte sie. Die heutigen Erinnerungsbürger wenden diesen Kniff nochmals mit der AfD an. Sie lassen es so aussehen, als sei die liberale Gesellschaft großartig gewesen, bis die AfD gegründet wurde.
Diese Erinnerungsbürger haben damit nicht die Bereitschaft zur Erinnerung übernommen, sondern einfach nur die besagte Lebenslüge aufgegriffen. Und diese führt dazu, dass sie die gesamte heutige Gesellschaft anlügen. Denn um das Erinnern geht es ihnen nicht — und damit auch nicht um Verantwortungsbereitschaft. Wäre dies das Motiv, müssten sie empört aufschreien, wenn Regierung und Staat immer mehr verschmelzen und immer lauter nach Totalmilitarisierung und Russland als ewigem Feind schreien. Das tun sie aber nicht. Im Gegenteil, ihr Schweigen ist von irrer Lautstärke.