Sklaven, die Ketten lieben
Über Jahrhunderte hat es Propaganda verstanden, die Unterwerfung des Bürgers als natürliche Folge der Überlegenheit von Herrschenden zu verkaufen.
Mächtige haben nicht immer lautere Motive. Macht ist vielfach Selbstzweck. Sie ist lustvoll und nährt sich von der Energie der ihr Unterworfenen. Solche Motive können den Bürgern eines Landes gegenüber jedoch unter normalen Umständen nicht ehrlich kommuniziert werden. Es braucht also eine Marketingstrategie, um Zustände als notwendig und hilfreich zu verkaufen, die für die allermeisten Mitglieder eines Gemeinwesens höchst schädlich sind. Es muss gelingen, den Unterworfenen die Unterwerfung, den Bestohlenen den Diebstahl, den Missbrauchten den Missbrauch als notwendig aufzuschwatzen. Zu den wichtigsten Hilfskonstruktionen, damit dies gelingt, gehört die Grundannahme, der Herrscher verkörpere eine Art höheres Menschentum im Vergleich zum Beherrschten. Es wird ein Niveaugefälle zwischen beiden Gruppen angenommen. Je größer man diesen „Höhenunterschied“ darstellt, desto leichter zu begründen ist Herrschaft. Ja, im extremen Fall gilt der Regierende nahezu alles, der Staatsbürger nahezu nichts.
„Freiheit? Ein schönes Wort, wer’s recht verstände.“ Der Herzog von Alba, Vertreter der spanischen Besatzungsmacht in den Niederlanden, hat nicht grundsätzlich etwas gegen Freiheit. Jedoch muss diese „richtig verstanden werden“. Das heißt, der Freie darf nur in einer von ihm definierten und eng begrenzten Weise frei sein. So legt es der große Diktator des 16. Jahrhunderts im Gespräch mit dem Rebellen Egmont, dem Titelhelden von Johann Wolfgang Goethes berühmtem Theaterstück, dar. „Was ist des Freiesten Freiheit? — Recht zu tun! — und daran wird sie der König nicht hindern.“ Solange Untertanen ihre Freiheit nutzen, um das Richtige zu tun, muss der König also nicht eingreifen. Aber wehe, wenn sie Unrechtes tun … Und dazu neigen Untertanen leider Gottes. „Nein! Nein! Sie glauben sich nicht frei, wenn sie sich nicht selbst und anderen schaden können.“
Wenn man Bürger sich selbst überlässt, werden sie dies zu ihrem und ihrer Mitmenschen Schaden missbrauchen, so Alba. Und genau deshalb braucht der Bürger ganz dringend die höhere Vernunft des Herrschers. „Weit besser ist’s sie einzuengen, dass man sie wie Kinder halten, wie Kinder zu ihrem Besten leiten kann. Glaube nur das Volk wird nicht alt, nicht klug; ein Volk bleibt immer kindisch.“
Darin liegt überhaupt die Essenz der gesamten Herrschaftsmentalität. Wir erleben es bis in die heutigen Tage des Kampfes gegen „Desinformation“ hinein. „Weit besser ist’s sie einzuengen …“ Und zu diesem höheren Zweck, darf, nein muss der Herrscher durchaus manchmal rabiat werden.
„Des Königs Absicht ist, sie selbst zu ihrem eignen Besten einzuschränken, ihr eignes Heil, wenn’s sein muss, ihnen aufzudringen, die schädlichen Bürger aufzuopfern, damit die Übrigen Ruhe finden, des Glücks einer weisen Regierung genießen können.“
Kind-Bürger und Herrscher-Vater
Diese von Goethe ersonnene kleine Rede eines Tyrannen enthält die Quintessenz aller Herrschaftsnarrative in Vergangenheit und Gegenwart:
- Der Kind-Bürger braucht den Herrscher-Vater, da er von sich aus nicht zu vernünftigem und rücksichtsvollem Handeln fähig wäre.
- Einschränkungen der Freiheit dienen dem „Besten“ derer, die diesen Beschränkungen unterliegen.
- Störende Elemente müssen ausgemerzt werden, damit die Angepassten ihr friedliches Leben genießen können.
Noch Richard David Precht nahm in seinem Buch „Von der Pflicht“ an, dass ein Volk, das frei schalten und walten dürfe, nur Chaos und Verwüstung anrichten würde. Er zeichnet ein desaströses Bild einer historisch nicht näher bezeichneten Epoche, in der der Mensch quasi als „des Menschen Wolf“ wütete. „Männer durften ihre Frauen und Kinder verprügeln, wie sie wollten, Sklaven halten, Bauern und Arbeiter ausbeuten und Sex mit Kindern praktizieren — all dies ging die Öffentlichkeit nichts an.“ Seine Schlussfolgerung: Es sollte weit mehr Dinge geben, die die Öffentlichkeit — und mithin den Staat — etwas angehen.
„Ob man eine Rente bezieht, seine Kinder in die Schule schickt, ob Männer ihre Ehefrauen verprügeln, ob man Altöl in seinen Gartenteich kippt oder ob man seinen Hund quält — all das geht den heutigen liberal-demokratischen Staat, anders als jenen im 18. Jahrhundert, durchaus etwas an.“
Nun ist es sicher unbestritten, dass all diese Handlungsweisen verwerflich sind und dass sie in „alten Zeiten“ wohl vorkamen — jedoch erstaunt der Kontext von Prechts pauschaler Bürgerbeschimpfung. Ursprünglich geht seine Argumentation nämlich davon aus, dass sich Corona-Maßnahmen-Gegner nach des Philosophen Ansicht ungebührlich „entpflichtet“ hätten. Man muss sich dies vor Augen halten: Menschen wollten ihre — „eigentlich“ vom Grundgesetz ja garantierten — Freiheitsrechte zurückhaben, die immer schon Schutzrechte gegen einen übergriffigen Staat waren — und Precht kommt ihnen im nächsten argumentativen Schritt mit Pädophilen und Sklavenhaltern.
Macht erschafft sich eine passende Philosophie
Macht schafft sich nicht nur ihr eigenes Recht, sie erschafft sich auch ihre eigene Philosophie.
Wo Macht ist, richtet sich das Denken der Mehrheit nach ihr aus wie Eisenspäne nach einem Magneten. Sobald Regierende etwas öffentlich als Wahrheit hinstellen, beginnt es in den Gehirnen von Millionen ihrer Untertanen zu arbeiten — mit dem einzigen Ziel, den eigenen Willen mit dem des Herrschers in Übereinstimmung zu bringen, seine große Erzählung zu der ihren zu machen.
Einzig eine wirkungsvolle, fast gleichstarke Oppositionsbewegung kann den Prozess vielleicht aufhalten. Fehlt diese — wie in der damaligen Corona-Situation — nehmen die veröffentlichte Meinung, nehmen Philosophie und Literatur, nimmt auch das Denken der meisten Einzelmenschen die Färbung der Macht an.
Dabei kann man unterscheiden zwischen Einzelnarrativen — zum Beispiel der Eigenverantwortungsideologie des Neoliberalismus oder dem Grundsatz „Sicherheit vor Freiheit“ — und dem einen, großen Narrativ, dass allen anderen zugrunde liegt: Diese Erzählung könnte man bezeichnen mit „Es ist richtig, dass jemand regiert und dass wir den Anweisungen dieser Regierenden folgen“. Ob Schwarz, Rot, Grün oder Gelb, ob in der Kirche oder im Betrieb — überall gilt diese Grundannahme. „Der Ober sticht den Unter“, heißt die Regel im Kartenspiel. Dahinter steht die Annahme, dass ein grundsätzlicher Qualitäts- und Niveauunterschied zwischen Herrschenden und Beherrschten bestünde — ein gewaltiges Gefälle, was Kompetenz und Einsichtsfähigkeit betrifft. Machtausübung ist demnach auch institutionalisierte Arroganz.
Hellsichtig schrieb der führende anarchistische Theoretiker Michail A. Bakunin über die Wesensähnlichkeit zwischen konservativer und „sozialistischer“ Herrschaft:
„Der ganze Unterschied zwischen revolutionärer Diktatur und Staatlichkeit besteht nur in den äußeren Umständen. Faktisch bedeuten sie das Gleiche: die Verwaltung einer Mehrheit durch eine Minderheit im Namen der angeblichen Dummheit Ersterer und der angeblichen Weisheit Letzterer. Deshalb sind sie auch gleich reaktionär und haben, die eine wie die andere, als unmittelbares und notwendiges Ergebnis die Sicherung politischer und ökonomischer Privilegien für die herrschende Minderheit und die politische und wirtschaftliche Versklavung der Volksmassen.“
Niveaugefälle zwischen Herrschenden und Beherrschten
Die Dummheit der Masse und die Weisheit der Herrschenden. Hitler begründete seinen eigenen Herrschaftsanspruch mit einer natürlichen Hierarchie, die er darauf zurückführte, dass der jeweils Übergeordnete im Vergleich zum Untergeordneten „weniger irren“ könne. Dies erwies sich nicht nur im Fall Hitlers eher als ein Zirkelschluss.
Die Macht setzt die Maßstäbe für Weisheit und applaudiert sich dann selbst, weil es ihr gelungen ist, diesen Maßstäben in glänzender Weise zu entsprechen. Nicht weil er gut ist, erlangt jemand jedoch Macht — vielmehr gilt als gut, was die Macht so definiert.
Mächtige haben nicht immer vollkommen lautere Motive. Macht ist vielfach Selbstzweck. Machtausübung ist lustvoll. Macht nährt sich von der Energie der ihr Unterworfenen. Wenn wir dies als gegeben voraussetzen, dann haben wir es mit Motiven zu tun, die unter normalen Umständen den Bürgern eines Landes gegenüber nicht ehrlich kommuniziert werden können. Es braucht also eine Marketingstrategie, um Zustände als notwendig und hilfreich zu verkaufen, die für die allermeisten Mitglieder eines Gemeinwesens höchst schädlich sind. Es muss gelingen, den Unterworfenen die Unterwerfung, den Bestohlenen den Diebstahl, den Missbrauchten den Missbrauch als notwendig aufzuschwatzen.
Zu den wichtigsten Hilfskonstruktionen, damit dies gelingt, gehört die Grundannahme, der Herrscher verkörpere eine Art höheres Menschentum im Vergleich zum Beherrschten. Es wird ein beträchtliches Niveaugefälle zwischen beiden Gruppen angenommen. Je größer man diesen „Höhenunterschied“ darstellt, desto leichter zu begründen ist Herrschaft. Ja, im extremen Fall gilt der Regierende nahezu alles, der Staatsbürger nahezu nichts. Der eine thront gottähnlich, der andere wuselt und wimmelt ameisenhaft vor den untersten Stufen dieses Throns.
„Der Erde Gott“
Ein treffliches Zeugnis dieser Herrschaftsmentalität gibt die Figur des Großinquisitors in Friedrich Schillers „Don Carlos“ ab — ein Stück, das annähernd in der gleichen Epoche spielt wie „Egmont“ und in dem der uns schon bekannte Herzog Alba ebenfalls einen Auftritt hat. König Philipp von Spanien hat sich mit dem Freigeist Marquis Posa angefreundet, der ihm furchtlos entgegenruft: „Geben Sie Gedankenfreiheit!“ Posa allerdings ist ein Aufrührer, den die Heilige Inquisition schon lange in ihr ausgedehntes Überwachungsprogramm aufgenommen hatte: „Sein Leben liegt angefangen und beschlossen in der Santa Casa heiligen Registern“ — den NSA-Akten sozusagen.
Der Inquisitor stellt den König zur Rede: Warum hast du diesem Wirrkopf dein Ohr geliehen? Der König gibt zu, er habe sich nach einem Menschen gesehnt. Darauf der Inquisitor: „Wozu Menschen? Menschen sind für Sie nur Zahlen, weiter nichts. Muss ich die Elemente der Monarchenkunst mit meinem grauen Schüler überhören? Der Erde Gott verlerne zu bedürfen, was ihm verweigert werden kann.“ Hier haben wir das größtmögliche Gefälle: „Der Erde Gott“ auf der einen, „nur Zahlen“ auf der anderen Seite.
Das überhöhte Selbstbild der Macht erlaubt keinerlei Fraternisierung mit dem Pöbel. Ein König muss mehr als menschlich, ja allen menschlichen Bedürfnissen und Gefühlen enthoben sein. Er darf nicht brauchen, was ihm verwehrt werden kann — gemeint ist, was nicht erzwungen oder anbefohlen werden kann: Liebe vor allem und Freundschaft. Bleibt ein Regent in den Geistesniederungen des allzu Menschlichen — mit welchem Recht stellt er sich dann über seine Untertanen? Im Umkehrschluss bedeutet das: Alles, was der König dennoch braucht, muss erzwingbar sein: Respektbezeugungen, Gehorsam, Steuerzahlungen …
„Ich beherrsche dich, weil ich weiß, was für dich das Beste ist, und du solltest mir in deinem eigenen Interesse widerstandslos folgen.“ So fasst Erich Fromm in „Die Furcht vor der Freiheit“ den Habitus der Macht zusammen. Oder in den Worten des Psychologen und Buchautors Arno Gruen: „Wir verfügen über dich, weil es zu deinem Besten ist.“
Sklaven ihre Ketten schmackhaft machen
„Ein wirklich leistungsfähiger totalitärer Staat wäre ein Staat, in dem die allmächtige Exekutive politischer Machthaber und ihre Armee von Managern eine Bevölkerung von Zwangsarbeitern beherrscht, die zu gar nichts gezwungen zu werden brauchen, weil sie ihre Sklaverei lieben.“
So Aldous Huxley im Vorwort zu seiner berühmten Dystopie „Schöne neue Welt“. Und er sagt auch, wem die Aufgabe zukommt, Menschen zu solchen Untertanen abzurichten: „Ihnen die Liebe zu ihr beizubringen, ist in heutigen totalitären Staaten die den Propagandaministerien, den Zeitungsredakteuren und Schullehrern zugewiesene Aufgabe.“ Propaganda ist die Kunst, Bürgern quasi die Liebe zur Sklaverei schmackhaft zu machen. Auf den folgenden Seiten will ich versuchen, transparent zu machen, wie Machthaber dies bewerkstelligen.
Machtausübung über die Seelen macht Machtausübung über die Körper — also Gewalt — unnötig und wird deshalb mit Vorliebe eingesetzt.
Die feinsinnigeren unter den autoritären Führern scheuen Bilder von blutenden Demonstranten, von Polizisten, die auf den Boden liegende Bürger treten, oder vom herausquellenden Augapfel eines von einem scharf gestellten Wasserwerfer schwer verwundeten Demonstranten. Sie zielen auf die Unterwerfung aller ab, bevor dergleichen geschieht und damit es nicht geschieht. Insofern waren die Prügelszenen auf diversen Demonstrationen der Corona-Opposition 2020 und 2021 eher ein Signal dafür, dass die Propaganda nicht vollständig durchzudringen vermochte. Sie war stark, erwies sich jedoch als nicht allmächtig. Daher musste ein stärkeres Signal her: „Wir können auch anders. Die Unversehrtheit deines Körpers steht zur Disposition, wenn du nicht spurst!“
Destruktive Macht erschafft ihr eigenes Moralsystem, wonach Regeltreue gut und Zuwiderhandlung böse ist. Überall, wo Mächtige versuchen, andere Menschen zu kontrollieren, stößt man auf die Dynamik von Regel, Verstoß und Strafe. Die „Zuwiderhandlung“ erscheint nach dieser Logik als die böse Handlung schlechthin. Dabei bedeutet Zuwiderhandlung nur: Eine Person entscheidet sich, anders zu handeln, als es eine zweite Person von ihr verlangt hat. Diese zweite Person ist jedoch mächtiger als die erste, verfügt also zum Beispiel über die Mittel der körperlichen Gewaltanwendung, der Beraubung und Verschleppung in Gefängnisse. Mit „Moral“, die dem Schuldbegriff immer anhaftet, hat das nicht immer etwas zu tun.
Es gibt Verbrechen, die tatsächlich welche sind — Mord an erster Stelle. Nicht selten aber ist die Strafe, die die „Guten“ verhängen, das größere Verbrechen. Man denke etwa an die Zustände in Saudi-Arabien, wo der Blogger Raif Badawi aufgrund des Vorwurfs, er habe Muslime, Juden, Christen und Atheisten als gleichwertig bezeichnet, zu 1000 Peitschenhieben verurteilt wurde — langfristig also zum Tod. Strafen sind Machtmittel, die mit einem Schuldvorwurf vergiftet wurden.
„Die Reichweite der Gedanken verkürzen“
Als noch effektiver erwies es sich, schon die Gedanken der Staatsbürger so zu formen, dass selbst die Drohung mit Gewalt unnötig erscheint. Die Sprache der Propaganda hat nach George Orwell die Aufgabe, „die Reichweite der Gedanken zu verkürzen.“
Zweck der politischen Beeinflussung durch den Staat ist es, bei den Bürgern eine Art Schrumpfungsprozess zu initiieren — und zwar sowohl auf der geistig-mentalen Ebene als auch, was Mut und Integrität betrifft. Der leichtgläubige, unselbständige und denkfaule Bürger ist nicht nur das auf Seiten der Machthaber erwünschte Exemplar — er ist auch die einzige Sorte Mensch, die in der Lage wäre, sich unter den Bedingungen einer autoritären Herrschaft wohlzufühlen.
Hierzu heißt es in „1984“:
„In gewisser Weise ließen sich diejenigen am leichtesten von der Parteidoktrin überzeugen, die ganz außerstande waren, sie zu verstehen. Diese Menschen konnte man leicht dazu bringen, die offenkundigsten Vergewaltigungen der Wirklichkeit hinzunehmen, da sie nie ganz die Ungeheuerlichkeit des von ihnen Geforderten begriffen und überhaupt nicht genügend an politischen Fragen interessiert waren, um zu merken, was gespielt wurde.“
Orwell verwendet hier einen anschaulichen Vergleich:
„Dank ihrer Unfähigkeit, zu begreifen, blieben sie ganz unbeschadet. Sie schluckten einfach alles, und das Geschluckte schadete ihnen nicht weiter und ließ nichts zurück, genau wie ein Getreidekorn unverdaut durch den Magen eines Vogels hindurchgeht.“
An diese Sätze sollten wir denken, wenn wir beobachten, wie viele Menschen sich selbst unter den Bedingungen schlimmster Wahrheitsverdrehung und Rechtsbeugung offenbar in vollendeter Harmonie mit ihrer Regierung befinden.
Propaganda in Kombination mit Überwachung ist die Kunst, „allen Untertanen nicht nur vollkommenen Gehorsam gegenüber dem Willen des Staates, sondern auch vollkommene Meinungsgleichheit aufzuzwingen.“ Auflehnung ist, wenn die Meinungsangleichung gut funktioniert hat, stets nur ein Minderheitenprogramm. Die Mehrheit der Menschen geht nur sehr selten mit den Rebellen mit, die ihrem eigenen Selbstverständnis nach so etwas wie die Hefe in einem aufquellenden Revolutionsteig sind. Aufmüpfige werden gerade von denjenigen, für deren Freiheit sie sich einsetzen, nicht selten verhöhnt und aus der Herde ausgestoßen.
„Die Massen revoltieren niemals aus sich selbst heraus und lehnen sich nur deshalb auf, weil sie unterdrückt werden. Tatsächlich werden sie sich, solange man ihnen keinen Vergleichsmaßstab zu haben erlaubt, überhaupt nie auch nur bewusst, dass sie unterdrückt sind.“ (George Orwell).
„Verbrechenstop“ — so Orwells Umschreibung für Gedankenblockaden, mit denen Unterworfene vermeiden, sich ihre klägliche Situation bewusst zu machen — ist „schützende Dummheit“.
Schützende Dummheit
Einen etwas anderen, aber ebenso plausiblen Ansatz verfolgt Kai Strittmatter in „Die Neuerfindung der Diktatur“, einem Buch, das nicht nur ein kritisches „China-Buch“ ist, sondern eine vielseitig anwendbare, hellsichtige Analyse jeder Art von politischem und geistigem Despotismus. Die Methoden gleichen einander aller Erfahrung nach in sehr vielen Ländern, Epochen und Regierungssystemen. Laut Strittmatter hat es die chinesische Partei gar nicht so sehr darauf abgesehen, ihre Staatsbürger bis in ihre innerste Seele mit der Parteidoktrin zu infiltrieren. Dies erscheint wohl selbst einem so hoch entwickelten Parteiapparat schwer durchführbar. Vielmehr sei es die Absicht, den Bürger einzuschüchtern und jede Regung der Kritik durch Erzeugung eines Gefühls absoluter Aussichtslosigkeit zu ersticken.
„Dem Autokraten ist es letztlich egal, ob man ihm glaubt. Er will gar nicht einen jeden überzeugen — sehr wohl aber will er einen jeden unterwerfen. Es liegt im Wesen der Macht, dass sie, egal wie stark, ihrer selbst nie vollkommen sicher ist. Die Paranoia, die Angst vor der Schwächung und dem Verlust seiner Macht, liegt in der Natur des Mächtigen. Deshalb sein Drang, die Masse immer wieder aufs Neue zu überwältigen. Dazu dient ihm die Lüge.“ (15)
Strittmatter schreibt dann über Propagandakitsch und stellt die Frage, warum die Staatsmacht sehr oft versucht, mit Behauptungen durchzukommen, die peinlich, unglaubwürdig und übertrieben wirken. „Gerade weil die Inszenierungen oft so haarsträubend sind und noch dem letzten Anschein von Rechtsstaatlichkeit hohnsprechen, projizieren sie umso eindrücklicher die Allmacht und die Willkür einer Staatsgewalt, mit der sich nur ein Verrückter anlegt.“
Die Botschaft an unzufriedene Bürger ist: Wer in der Lage ist, an jeder Straßenecke ein Plakat und in jeder Fernsehsendung flächendeckend Slogans zu verbreiten, die ganz offensichtlich abstoßender Unsinn sind, hat mit Sicherheit auch die Macht, jeden zu zerquetschen, der es wagt, diesen Unsinn in Frage zu stellen.
Die sture Wiederholung der immergleichen Botschaften auf allen Kanälen hat auf den menschlichen Geist eine auslaugende Wirkung. „Ermüdungstaktiken brechen noch den letzten Widerstand des Geistes. Man verliert jede Neugier und Abwehrkraft und lässt sich ‚mit Müll‘ vollstopfen.“ Offensichtlich unsinnige Parolen brechen Untertanen also mitunter wirksamer als solche, die diesem noch relativ sinnvoll erscheinen. Die Macht, einer ganzen Gesellschaft eine falsche Ideologie aufzuzwingen, ist ein Zeichen von Stärke. Stärke jedoch ist eine Einladung an die ohnehin zur Konformität Neigenden, schutzsuchend unterzukriechen, und sie ist eine Drohung allen gegenüber, die sich mit dem Gedanken an Rebellion tragen.
Die Mückenstiche der Tyrannei
Zwinge ein ganzes Land dazu, etwas eigentlich Lächerliches und Entwürdigendes zu tun, und du wirst zweierlei erreichen: ungläubiges Staunen darüber, dass niemand von „den anderen“ sich dieser Zumutung verweigert, und eine Art Willenslähmung, die bewirkt, dass fast jeder mitspielt. Jeder Einzelne wird somit selbst zum Teil einer Konformitätskulisse, von der sich alle anderen entmutigt fühlen. Die schiere Masse der Mitläufer lässt den Dissidenten mit der Zeit an seinem Verstand zweifeln.
„Es ist, von außen betrachtet, im wahrsten Sinne des Wortes eine verrückte Welt. In ihrem Inneren aber ist sie so gestaltet, dass sich am Ende derjenige, der als Einziger noch glaubt, die Erde drehe sich um die Sonne, fragen soll, ob er der Irre ist.“ (Strittmatter)
Ein wertvoller Zeitzeuge des heraufdämmernden und später voll installierten „Dritten Reichs“ war der Literaturwissenschaftler und Politiker Viktor Klemperer. In seinem Buch „LTI — Notizbuch eines Philologen“ spürte der Angehörige der jüdischen Minderheit den schleichenden Veränderungen und alltäglichen Diskriminierungserfahrungen unter der Diktatur nach. Dabei analysierte er vor allem die Sprache des Nationalsozialismus („Lingua Tertii Imperii“). Ihm zufolge war es an einem bestimmten Punkt der Entwicklung nicht mehr nötig, dass sich die Bevölkerung bewusst zum Nationalsozialismus bekannte, denn „er glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfacher Wiederholung aufzwang und die mechanisch und unbewusst übernommen wurden.“
Klemperer beschreibt in einer anderen Schrift, seinem Tagebuch, auch eine Art Politik der Nadelstiche seitens der Staatsmacht: „Es kommt nicht auf die großen Sachen an, sondern auf den Alltag der Tyrannei, der vergessen wird. Tausend Mückenstiche sind schlimmer als ein Schlag auf den Kopf.“