Souverän in die Eskalation
Wie demokratisch ein Staat ist, zeigt sich daran, wie leichtfertig er in den Krieg zieht.
Wer glaubt, der Wählerwille sei das A und O in der Demokratie, der wird spätestens in Fragen von Krieg und Frieden eines Besseren belehrt. Schon Immanuel Kant schrieb in „Zum ewigen Frieden“, dass, wenn die Staatsbürger selbst entscheiden könnten, ob ein Krieg stattfinden solle oder nicht, sie sich gut überlegen werden, ob sie „ein so schlimmes Spiel“ anfangen. Heute scheinen viele Staaten leichtfertig bereit zu militärischen Mitteln zu greifen — immer im Namen der Demokratie, aber nicht nach ihren Regeln.
Ausgerechnet von demokratisch gewählten Regierungen werden allemal und allenthalben Kriege im Namen der Demokratie und zur Befreiung von andern Völkern zur Demokratie geführt — aber nie nach ihren Regeln! Die Völker fragen, was sie vorziehen: Krieg oder Frieden? Bombardements oder Diplomatie? Das eine Volk entscheiden lassen, ob es denn durch Krieg „demokratisch befriedet“ werden will oder nicht? Und das andere, ob es das bezahlen will oder nicht, mit Geld und/oder dem Blut seiner Soldaten-Söhne? Ja, wo kämen wir denn da hin!
Hingegen tragen Regierungen — und seien sie noch so demokratisch — selten die Konsequenzen von Kriegsentscheiden, dafür aber regelmäßig und ausnahmslos die angeblichen Souveräne: die Völker. Immerhin kommen dabei die demokratisch verfassten Völker meist noch relativ milde davon, weil die Demokraten-Regierungen es mit ihren Hightech-Wunderwaffen bisher nur auf Völker abgesehen haben, die angeblich von Tyrannen blutig unterdrückt werden.
Damit stellen diese Staatenlenker jedes Mal aufs Neue ihre hohe Ethik unter Beweis, eine Ethik, die so hoch ist, dass sie durch das Einholen einer Volksmeinung offenbar nur herabgemindert werden könnte.
Während die Demokraten-Kriege also den Demokratien „nur“ sozialen Abbau und schlechte Stimmung bescheren, machen sie den Unterdrückten dieser Welt ihr ohnehin schweres Leben vollends zur Hölle. Und das ist gut so — sagt man uns.
Beispiel Atombombe
Auch wenn sich demokratische Völker nach Meinung ihrer Regierungen „nur“ zum Kriege rüstig zu machen haben, ist Volkes Meinung regelmäßig überflüssig, weil anscheinend der Sache abträglich. Die Völker sind, so ist zu befürchten, zu dumm für den wahren Frieden, den es nur zum Preis von Krieg gibt. Ein bedeutungsschweres Beispiel der jüngeren Geschichte ist der technologische Quantensprung, der in Sachen industrieller Vernichtungseffizienz nur drei, vier Monate nach der Befreiung der Nazi-Vernichtungslager im Frühjahr 1945 mit dem Atombombenabwurf über Hiroshima und Nagasaki erzielt wurde: Vor dem Verdampfen Zehntausender in zwei Sekundenbruchteilen am 6. und 9. August 1945 hatte kein einziger Mensch in der Welt außer den direkt am Projekt Beteiligten auch nur den blassesten Schimmer vom Manhattan Project der US-Regierung; erst da erfuhr das US-Volk, dass es zur damals einzigen Atommacht geworden war – damals Jubelbotschaft, denn die demokratische US-Regierung stärkte ihr Volk und die Völker überhaupt im Glauben, die Bombe sei das Wundermittel gewesen, das den Weltkrieg glücklich beendete, und eröffnete damit der Menschheit die Aussicht, in Bälde alle Kriege beenden zu können. Wer sich Sorgen machte wegen der entsetzlichen Verheerungen, welche diese Heilsbringer in Teufelsgestalt in der Bevölkerung anzurichten imstande sind, oder wegen der Unausweichlichkeit, mit der über kurz oder lang andere Regierungen fast zwangsläufig nachziehen und ein atomares Armageddon heraufbeschwören würden, war ein Idiot, Schwarzmaler oder Nestbeschmutzer und auf jeden Fall selber schuld.
Und so sorgte in der Folge die Weisheit und absolute Verschwiegenheit weiterer Regierungen dafür, dass das weltweite atomare Overkill-Potenzial bis heute auf ein Tausendfaches angewachsen ist: UdSSR/Russland, Großbritannien, Frankreich, China, Indien, Pakistan, Israel, Nordkorea — immer ohne dass ein einziges Volk ein Wörtchen dabei mitzureden gehabt hätte.
Die Bombe Israels wird sogar bis heute von sämtlichen demokratischen Regierungen als absolutes Tabu behandelt, als wäre bloßes Wissen darum nicht nur für das israelische Volk von Schaden, sondern für die ganze Weltbevölkerung.
Umgekehrt propagierte Nordkoreas Regierung ihre Atombombe von Anfang an so lautstark, dass ihre Existenz schon befürchtet werden musste, bevor sie überhaupt real war, allerdings ebenfalls, ohne je das eigene oder ein anderes, etwa das südkoreanische, Volk dazu zu befragen.
Die Bevölkerung bearbeiten, nicht befragen
Und die NATO-Oberen in den letzten Tagen, allesamt erklärte Demokraten? Sind sich vollkommen einig, dass künftig fünf Prozent unserer Bruttosozialprodukte in Aufrüstung, sprich: in unsere Kriegstüchtigkeit, zu investieren seien, was immer das konkret bedeuten mag. Reine Regierungswillkür ohne einen Hauch von Volksbefragung, ohne echte Debatte gar! Und unsere demokratischen Medien nicken den Entscheid ab, gießen über den „Brutalo“-Präsidenten Donald Trump ihre obligaten Schimpftiraden aus und machen uns derweil vergessen, dass er in seiner ersten Amtszeit seine NATO-„Partner“ noch mit der Forderung nach nur zwei Prozent vor den Kopf stieß — und so hat uns heute unsere „Sicherheit“ so ungefragt wie damals das 2,5-Fache wert zu sein, mal eben so. Die dafür nötigen Abstriche in unserem künftigen Alltag, Bildung, Soziales, Gesundheit ...? Haben wir in Kauf zu nehmen! Und meine liebe Musterdemokratie Schweiz? Wetten, die Regierung will da auch einfach nur mitmachen, ohne mich und uns zu fragen? Dabei sind wir nicht mal Mitglied in dem Club …
Weiteres Beispiel aus den letzten Wochen: Aufs Ausgiebigste wurden wir mit der iranischen Atombombe traktiert, besonders nachdem zwischen Israel und Iran lautstark die Waffen zu sprechen begonnen hatten, aber kein Sterbenswörtchen über die israelische! Zwar wusste von der iranischen alle Welt — bestimmt auch Bibi Netanjahu —, dass es sie nicht gab, während die Existenz der israelischen spätestens seit 1986 bekannt ist: Damals nämlich hat Mordechai Vanunu das strengste israelische Staatsgeheimnis zu einem offenen gemacht. Weil sich aber seither noch keine einzige israelische Regierung je den leisesten Bruch dieses Tabus geleistet hat — es sei denn, man wertet als solchen Vanunus prompte Entführung durch den Mossad 1986 und seine bis auf den heutigen Tag anhaltende Inhaftierung —, halten es die andern demokratischen Regierungen für unbedingt nötig, dass die ganze Welt dieses Schweigespielchen mitspielt, wider besseres Wissen.
Und so kann man den demokratischen Heilsbringer Netanjahu nur dafür bewundern, wie absolut souverän er im Namen seines ungefragten Volkes der ganzen Welt konventionell auf der Nase herumtanzt, immer den Finger am unkonventionellen roten Knöpfchen — ein Tanz für das Wohl der Welt, wie uns unsere demokratischen Regierungen versichern, ohne sich für unsere Meinung zu interessieren. Ja, sogar die sechs Millionen jüdischer Holocaust-Opfer müssen — naturgegeben ungefragt — als Rechtfertigung für den Völkermord in Gaza herhalten. Zwar kennt jedermann den einzig wahren Grund für Netanjahus blutige Spiele — nämlich dass das Ende seiner Kriege das Ende des Politikers Netanjahu wäre —, aber die demokratischen Regierungen wissen, dass es besser ist, wenn niemand davon weiß, und so sorgen sie nach Kräften dafür, dass vom einen wie vom andern geschwiegen wird.
Weisheit der Atommächte
Zwölf Tage nur hat er offiziell gedauert, der jüngste Krieg der Demokratien: Israel und USA gegen den Iran. Die demokratischen Regierungen reklamieren ihn als vollen Erfolg für sich, das iranische Atomprogramm sei zerstört — radioaktiver Fallout hin oder her, danach wird nicht gefragt. Wirklich sicher ist vorläufig nur: Zur bisher einzigen atommächtigen Angriffskooperative USA/GB/F gesellt sich neu auch Israel, und zu den Völkern, die in einem einzigen Krieg von mehr als einer Atommacht angegriffen worden sind, das iranische. Die bisherigen: das irakische, das serbische, das libysche, das afghanische, das jemenitische …
Nun sind aber die Iraner natürlich so schlau wie alle andern auch und wissen genau, dass ihnen das nicht passiert wäre, hätte es die beschworene iranische Atombombe tatsächlich gegeben. Und so haben in diesen zwölf Tagen die Heilsbringer Trump und Netanjahu endgültig den künftigen Kurs vorgegeben: Alle Nicht-Atommächte dieser Welt müssen sich schleunigst die Bombe besorgen, sonst geht's ihnen wie den Iranern. Die nordkoreanische Regierung hat es vorgemacht, die andern müssen folgen. Denn was immer die Völker davon halten mögen — nicht die Atommächte bedrohen die Welt atomar, nein, sie bestimmen, wer von den Nicht-Atommächten eine atomare Bedrohung ist, die dann natürlich flugs mit Krieg, Krieg, Krieg durch sie, die Atommächte, abzuwenden ist. Erst wenn alle, alle, alle, auch Liechtenstein und die Fidschi-Inseln, ihre Atombombe haben, erst dann wird die Welt eine sichere sein! Eine wirklich bombensichere! Und eine derart sichere Welt ist am Ende natürlich auch jeden, wirklich jeden Preis wert.
Bedenket dies, oh Völker, schweiget zu allem und bezahlet es freudig, sei's mit Geld oder Blut! Oder mit beidem.