Spaziergang in die Neue Zeit

Jeden Montag laufen unzählige Menschen in eine neue Woche und bald schon in eine bessere Zukunft.

Bundespräsident Steinmeier meinte, der „Spaziergang“ habe infolge der regionalen Demonstrationen der letzten Wochen seine Unschuld verloren. Da spricht der Richtige von „Schuld“ und „Unschuld“ Das Zitat deutet aber an, dass hier vermeintlich etwas Alltägliches geschieht: An einem Spaziergang ist sonst wahrlich nichts Sensationelles. Nun aber lehnen sich Tausende gegen das größte Menschheitsverbrechen seit dem Zweiten Weltkrieg auf, indem sie spazieren gehen — zumeist „bewaffnet“ mit Licht. „Na und?“, könnte man da fragen. „Was soll das auf Dauer denn bringen?“ Aber es gibt Bewegungen, die nicht der bloßen Überbrückung einer räumlichen Distanz dienen, sondern die bewusste Absicht des Herzens zum Ausdruck bringen. Das bewirkt mehr, als wir glauben, weil wir immer noch zu wenig in der einzig relevanten Kategorie denken: Energie.

Kürzlich, bei einem Spaziergang an einem Montagabend, als ich meinen etwas widerstrebenden Körper zum Weiterlaufen animierte, dachte ich noch, dass all diejenigen am Rand, die uns allen Ernstes immer noch für verrückt halten, eines scheinbar völlig ausblenden: Wohl so ziemlich jeder, insbesondere aber die Gebrechlichen und Alten, hätten unter anderen Umständen etwas Besseres zu tun, als Woche für Woche abends bei recht kühlen Temperaturen kilometerweit durch die Straßen zu laufen. Zudem nehmen sie dabei immer ein gewisses Risiko und die vereinzelten Beleidigungen und Diffamierungen maskierter Menschen in Kauf. Also müssen sie wohl einen guten Grund haben, es trotzdem zu tun. Bei diesen Gedanken traf mich folgende banale Erkenntnis wie der Blitz: Diese Spaziergänge sind so viel mehr, als dass eine wachsende Anzahl von Menschen einfach nur Präsenz zeigt. Und sie sind alles andere als ungenügend oder gar sinnlos, auch auf Dauer nicht.

Die Wahrheit hat das letzte Wort

Ich kann mir keine treffendere und schönere Bezeichnung für dieses landesweite Fieber vorstellen, ganz gleich, aus welchem Grund diese ursprünglich gewählt wurde: Der Spaziergang ist friedfertig, er ist Ruhe, er ist Muße und er kündet von einer intakten Welt. Wer geht schon im Krieg spazieren?

Dieses Wort — Spaziergang — gibt uns lediglich unsere semantische Unschuld zurück, die de facto von Anbeginn gegeben war und auch bleiben wird, denn kein verbales Aufrüsten kann daran etwas ändern, auch wenn so manche verlorene Seele auf dem sinkenden Schiff es mal wieder mit perverser Umkehrung versucht hat. Die Verzweiflung muss groß sein, wenn immer mehr Wörter als Bedrohung empfunden und kurzerhand von „höchster Stelle“ als „kontaminiert durch Kontaktschuld“ und somit zum Unwort deklariert werden.

Die vielen Lichter, die mitgetragen werden bei diesen Spaziergängen, könnten kein friedlicheres und erhabeneres Bild abgeben: Wie Hüter des Lichts erinnern wir an die Menschlichkeit, begehen mit jedem Schritt die Räume des alltäglichen Wahnsinns, legen unsere Herzen hinein und bespielen die Echokammern der Täuschung mit den Klängen der Wahrhaftigkeit. Wir verändern die Schwingung unserer Welt, denn alles ist Energie.

Der bewegte Mensch

Das Gehen um des Gehens willen — oder der Müßiggang im wahrsten Sinne des Wortes — hat auf den Menschen bekanntlich einen klärenden, ordnenden und sammelnden Effekt. Und Bewegung ist nicht gleich Bewegung, das Wie entscheidet über die Auswirkung. Spazierengehen erdet und reguliert die Energien in uns. Nicht nur der physische Körper wird bewegt, sondern auch, und gerade, der „Energiekörper“. Das schlichte Gehen des Menschen ist ein kleines Wunder, ein hochkomplexer Vorgang, den wir für so selbstverständlich halten.

Wenn nun der Geist das innere Ziel des Gehens bewusst definiert und es im Herzen verankert, macht der Mensch sich selbst zu einem starken, präzisen Sender und sät seine Absicht entlang der Umgebung, durch die er sich bewegt.

Er beackert sozusagen das Energiefeld und ist für sich allein bereits sehr wirksam. Doch wenn das viele Menschen gemeinsam tun, wenn diese Lichtermeere durch die Städte fließen, dann geraten die Marionettenspieler völlig zu Recht in Panik.

An dieser Stelle möchte ich folgendem zauberhaften Satz die Ehre erweisen, der für mich die Quintessenz alles Sagenswerten ausdrückt, mich schon als Jugendliche mitten ins Herz traf und bis heute tief berührt, auch wenn — oder gerade weil — ich ihn noch immer zuinnerst zu verstehen suche:

„Für mich gibt es nur das Gehen auf Wegen, die Herz haben, auf jedem Weg gehe ich, der vielleicht ein Weg ist, der Herz hat. Dort gehe ich, und die einzige lohnende Herausforderung ist, seine ganze Länge zu gehen. Und dort gehe ich und sehe und sehe atemlos.“ — Don Juan Matus (1)

Darf es auch einfach sein?

Wir sind die bewegte und bewegende Veränderung. Unser Bewusstsein und unseren Fokus können wir immer weiter schärfen und so lange daran feilen, bis wir unsere innere Macht am ganzen Leib spüren, bis wir durchdrungen sind vom Gefühl der Unbesiegbarkeit, wenn auch nur kurz. Wenn jeder Einzelne sein Bewusstsein auf das Spüren der eigenen inneren Macht fokussiert, ehe er zu einem Spaziergang aufbricht, könnte das ungeahnte Auswirkungen haben. Während des Gehens können wir uns vorstellen und dabei das lebendige Gefühl in uns hervorrufen, dass jeder Spaziergang uns in unsere neue Zeit führt, dass jeder Schritt zählt und uns ihr näherbringt. Was, wenn es tatsächlich so wäre? Es kann ganz einfach sein. Wenn wir wollen. Wollen wir?

Und doch frage ich mich immer wieder auch, wie die neue Zeit aussehen wird, wie ich sie mir vorstelle und wie genau der Übergang gestaltet werden soll, wobei wir uns ja bereits mittendrin befinden. Aber immer wieder winkt ein Teil von mir ab, sagt, dass die Details sich schon ergeben und es weiterhin tun werden. Dass erst einmal das Energiefeld geklärt und bereinigt werden muss, und dass man sich vom hiesigen Punkt aus die Dimensionen der Andersartigkeit der Neuen Zeit gar nicht vorzustellen vermag, dass dann womöglich bislang unbekannte Parameter greifen. Und dass sich die neue Zeit bereits in gewisser Weise von allein zu formen begonnen hat.

Das mag als verklärende Vereinfachung interpretiert werden oder verträumte Naivität, doch ich kann für mich nur sagen, dass ich mich für grenzenlose Naivität entschieden habe, so will ich es mal nennen. Warum denn nicht? lautet meine Frage auf jeden Einwand hier. Ich habe bislang noch keine Antwort erhalten, die mehr Validität oder „Beweisbarkeit“ vorweisen kann als irgendeine andere Prämisse, so eloquent und schlau sie auch daherkommen mag. Mein Appell an alle lautet daher: Träumt und glaubt wieder so grenzenlos wie nur irgend möglich, seid magisch, seid frei und naiv im allerbesten Sinne! Und lasst euch von den Größenwahnsinnigen nicht einreden, dass das Größenwahn sei.

Das Neue Denken

Mit den Gedanken der Alten Welt lässt sich die Neue Welt nicht denken. Und gerade erfahren sich die meisten von uns in einer Art Zwischenwelt, deshalb können wir das Neue Denken wohl nur teilweise zu fassen bekommen. Wie zu jeder anderen Zeit auch, hat jetzt jeder von uns eine andere Aufgabe; ich persönlich bin sehr froh über jeden Menschen, der bereit und fähig ist, sich über die möglichen Gestaltungen des Übergangs in die neue Zeit und ihre konkrete Ausformung handfeste Gedanken zu machen, der überhaupt in der Lage ist, in diesen Größenordnungen zu denken und sich den dafür notwendigen Überblick zu verschaffen.

Die Welt braucht jeden von uns. Doch ich glaube, dass nicht jeder sich in genau dieser Art mit den nötigen Veränderungen befassen muss und kann, damit die Neue Welt möglich wird. Ich kann mich nur wiederholen: Unsere Zeit ist gekommen, die Ära der Menschlichkeit längst angebrochen und die Neue Welt damit so oder so unausweichlich. Das Einzige, was „Fehler unsererseits“ jetzt noch bewirken könnten, wäre, die Dauer bis zur — für jeden eindeutigen — Erfahrung der Neuen Zeit unnötig zu verlängern.

Der Täuschung widerstehen

Ganz gleich, wie sehr die üblichen Verdächtigen die Spaziergänge in wohlbekannter Manier aufzuhalten und zu verleumden versuchen: Jetzt nicht der vorgetäuschten Oberhand anheimzufallen und nachzugeben, ist das Gebot der Stunde. Allerdings stets unter dem Vorbehalt, dass höchste Priorität nach wie vor der Selbstfürsorge im Sinne der eigenen Stimmigkeit gebührt. Denn dem Ganzen können wir nur dienlich sein, wenn wir zuerst für uns selbst bestmöglich sorgen und besonnen bleiben; das kann nicht oft genug wiederholt werden. Allenfalls können wir unseren inneren Schweinehund opfern, den wir sorgsam unterscheiden sollten von unserer Intuition, die immer richtig liegt. Diese Abwägungen sind ganz individuell und nicht selten knifflige Gratwanderungen, aber wichtige, lohnenswerte und vor allen Dingen bewältigbare Manöver.

Schreiten wir also in aller Ruhe aufrecht voran, erhobenen Hauptes, offenen Herzens und im Vertrauen darauf, dass wir genug sind — in jedem Sinne. Verzichten wir zunehmend auf Fingerzeige jeder Art, kehren wir stattdessen immer mehr in uns, um bei uns zu sein und zu bleiben, statt uns zu verlieren und lediglich Antagonist dessen zu bleiben, was wir zu ändern wünschen, aber es dadurch bloß aufrechterhalten. Das Licht in unseren Händen, an unseren Körpern, ist mehr als nur ein Symbol. Oder: Ein Symbol kann mehr, als wir vielleicht denken. Das Licht macht sinnlich sichtbar, was wir ohnehin alle in uns tragen, es erinnert und wärmt jedes Herz, das noch berührbar ist.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) „Die Lehren des Don Juan Matus. Ein Yaqui-Weg des Wissens“ von Carlos Castaneda