Spiel mit dem Feuer

Deutsche Truppen in der Ukraine wären ein gefährlicher Irrweg.

Es ist ein kühler Morgen irgendwo in der Steppe der Ostukraine. Nebel liegt über den ausgebrannten Panzern. An den Straßenrändern stehen verlassene Häuser mit zerborstenen Fenstern. An einem Kontrollpunkt reiben sich Soldaten die Hände gegen die Kälte. Die Uniformen tragen das Abzeichen der Bundeswehr. Nur wenige hundert Meter entfernt, jenseits eines Erdwalls, stehen russische Truppen. Maschinengewehre im Anschlag, Raketenwerfer in Reichweite. Zwei Armeen, die sich seit Jahrzehnten geschworen hatten, einander nie wieder direkt gegenüberzustehen, und doch sind sie jetzt hier. Ein falsches Wort, ein falscher Schuss, und Europa stürzt in einen Krieg, den niemand kontrollieren könnte. Was wie eine düstere Fiktion klingt, ist inzwischen Teil einer ernsthaften politischen Debatte. In Berlin und Brüssel wird offen über einen Einsatz deutscher Soldaten in der Ukraine gesprochen. Offiziell soll es eine „Friedensmission“ sein. Tatsächlich aber wäre es der Tabubruch schlechthin und ein Schritt hinein in eine Eskalation, die Europa an den Rand eines Abgrunds führen könnte.

Noch vor wenigen Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass deutsche Soldaten erneut russischen gegenüberstehen. Heute aber schleicht sich das Undenkbare zurück in den politischen Diskurs, fast so, als hätte man vergessen, was dieses Land über Jahrzehnte zusammenhielt: die Lehre aus der Geschichte.

Seit 1945 galt in Deutschland ein ungeschriebenes Gesetz: Nie wieder deutsche Waffen gegen Russland. Es war keine Zeile im Grundgesetz, keine Resolution, sondern die tiefe Konsequenz aus der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. 27 Millionen Tote allein in der Sowjetunion, zerstörte Städte von Leningrad bis Stalingrad, Massengräber in Belarus und der Ukraine, all das stand wie ein stummer Schwur über der Bundesrepublik. Selbst in der Konfrontation des Kalten Krieges blieb dieses Tabu bestehen. Deutsche Soldaten standen in NATO-Kasernen, sowjetische in Ostdeutschland, aber man mied die direkte Front.

Es war Willy Brandt, der daraus eine politische Doktrin formte. „Wandel durch Annäherung“ bedeutete Verständigung statt Eskalation, Gespräch statt Konfrontation. Sein Kniefall von Warschau, sein Mut zum Dialog machten klar: Deutschland konnte Vertrauen nur gewinnen, wenn es glaubwürdig auf Aggression verzichtete.

Helmut Schmidt hielt diese Linie trotz NATO-Nachrüstung, Helmut Kohl nutzte sie als Voraussetzung für die Wiedervereinigung. Angela Merkel schließlich, so kritisch sie Wladimir Putin auch sah, wusste: Deutschland konnte nicht zugleich Vermittler und Kriegspartei sein. Das Tabu war über Jahrzehnte eine feste Leitplanke, moralisch wie strategisch.

Doch heute wird es Schritt für Schritt aufgeweicht. Bundeskanzler Friedrich Merz sprach im August davon, man müsse über eine europäisch koordinierte Mission „nachdenken“. Natürlich nur mit Bundestagsmandat, versteht sich. Aber schon dieser Satz bricht die bisherige Sprachregelung. Nicht mehr kategorisches Nein, sondern vorsichtige Offenheit. Nicht mehr Tabu, sondern Option.

Mit jedem Interview, mit jeder Talkshow, in der das Szenario „Friedenstruppe“ genannt wird, verliert das Undenkbare seinen Schrecken und rückt näher an die politische Realität.

Dabei reicht ein Blick auf die Bundeswehr, um zu erkennen, wie absurd diese Debatte ist. Seit Jahren klagen Wehrbeauftragte und Offiziere über den Zustand der Truppe. Von den rund 350 Leopard-2-Panzern ist regelmäßig weniger als die Hälfte einsatzbereit. Transporthubschrauber vom Typ NH90 standen monatelang am Boden, weil Ersatzteile fehlten. Der Bundesrechnungshof warnte, dass die Munitionsbestände kaum für wenige Tage reichen — NATO-Standard wären 30. Funkgeräte stammen teils noch aus den 1980er-Jahren, Schutzwesten sind so knapp, dass Soldaten sie untereinander weiterreichen müssen. Während Politiker in Berlin von einer „Zeitenwende“ sprechen, erleben Soldaten im Alltag eher Stillstand.

Und dennoch soll diese Armee eine „Friedensmission“ mitten in einem Hochintensitätskrieg stemmen? Realistisch betrachtet würde jede solche Mission sofort zum Kampfeinsatz. Russland würde deutsche Soldaten niemals als neutral akzeptieren. Ein Konvoi, ein Checkpoint, ein Beobachtungsposten — und schon stünden deutsche Soldaten im Visier russischer Truppen.

Mit einem einzigen Schuss wäre das Tabu der Nachkriegsordnung Geschichte: Deutschland im Krieg mit Russland.

Um diese Debatte dennoch salonfähig zu machen, greift die Politik zu einem altbekannten Mittel: der Angst. Das Narrativ lautet: Wenn die Ukraine fällt, dann das Baltikum. Dann Polen. Dann stehen russische Panzer bald wieder vor Berlin. Es ist ein Satz, der dramatisch klingt, aber mehr mit Psychologie zu tun hat als mit Strategie. Denn die Realität sieht anders aus: Russland steckt seit Jahren in einem zermürbenden Krieg, mit hohen Verlusten und enormem Materialverschleiß. Selbst westliche Militärexperten bezweifeln, dass Moskau überhaupt die Kapazitäten für eine Offensive gegen NATO-Staaten hätte. Doch das Szenario ist politisch nützlich, als Begründung für Milliardenaufträge an die Rüstungsindustrie.

Tatsächlich sind es vor allem wirtschaftliche Interessen, die von dieser Eskalationslogik profitieren. US-Rüstungskonzerne schreiben seit 2022 Rekordgewinne. Lockheed Martin, Raytheon, Northrop Grumman — ihre Aktienkurse steigen mit jeder Waffenlieferung. Deutschland trägt seinen Teil dazu bei: Das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro fließt zu einem großen Teil in amerikanische Systeme wie den F-35-Kampfjet. Auch die Energiepolitik folgt dieser Logik: Statt billigem russischem Gas importiert Deutschland nun teures LNG aus den USA, ein Geschäft, das dortige Energiekonzerne reich macht, während deutsche Haushalte unter steigenden Preisen leiden. Und über allem steht der Name BlackRock, jener Finanzriese, in dessen Umfeld Bundeskanzler Merz jahrelang tätig war und der Anteile an nahezu allen großen Rüstungs- und Energiekonzernen hält.

Die deutsche Bevölkerung durchschaut diese Mechanismen längst. Mehr als die Hälfte lehnt einen Einsatz der Bundeswehr in der Ukraine ab, nur ein gutes Drittel ist dafür. Besonders im Osten, wo die Erinnerung an sowjetische Truppen noch präsent ist, ist die Ablehnung deutlich.

Viele spüren instinktiv, dass es hier nicht um Frieden geht, sondern um ein Abenteuer, dessen Preis sie selbst bezahlen würden: mit Steuergeld, mit schwindender Sicherheit, vielleicht sogar mit Menschenleben.

Während die Politik in geopolitischen Szenarien denkt, lebt die Bevölkerung im Alltag und weiß, dass Frieden nicht durch Panzer entsteht.

Die Gefahr liegt darin, dass schon kleine Zwischenfälle die Katastrophe auslösen könnten. Ein deutscher Konvoi, der unter Beschuss gerät. Ein Missverständnis an einem Checkpoint. Ein Hackerangriff, der falsche Befehle in die Systeme schleust. In einem Krieg, der längst auch digital geführt wird, reicht ein einziger Fehler, um eine Kettenreaktion loszutreten. Von einem „Friedenseinsatz“ zum offenen Krieg wären es nur Stunden. Genau deshalb war das Tabu „Nie wieder deutsche Soldaten gegen Russland“ so wertvoll: Es war die Einsicht, dass die Eskalation nicht beherrschbar ist.

Und doch scheint diese Einsicht heute zu verblassen. Dabei hat die deutsche Geschichte gezeigt, dass es Alternativen gibt. Brandts Ostpolitik, Kohls Verlässlichkeit in der Wiedervereinigung — das waren Beispiele dafür, dass Diplomatie wirkt. Nicht immer sofort, nicht immer perfekt, aber sie hielt die Tür offen. Heute dagegen dominiert der Kriegsrausch, als hätte man vergessen, dass dieser Kontinent nur in Gesprächen Sicherheit findet.

Wenn Deutschland eine Rolle hat, dann nicht als Speerspitze einer neuen Front, sondern als Vermittler, als Mahner, als Brückenbauer. Das hat unserem Land Stabilität gebracht, und nur so kann es sie auch in Zukunft bewahren.

Wer deutsche Soldaten in die Ukraine schicken will, spielt mit dem Feuer. Wer dagegen auf Verhandlungen drängt, hält die einzige Fackel in der Hand, die Europa noch aus der Dunkelheit führen kann.