Sprache ohne Sein

In der Lingua Tertii Imperii (LTI) — der „Sprache des Dritten Reichs“ — analysierte Victor Klemperer den Totalitarismus als Zeitgenosse.

Es gibt Zeiten, da bietet Sprache den totalen Halt, und es gibt Zeiten, da wird Sprache haltlos totalitär. Vom Klima der Unterdrückung verglimmt und außerstande, dem Gewicht ihrer Worte etwas an Bedeutung entgegenzusetzen, zerfällt jeder Satz zurück in seine Einzelteile, unfähig, sich an etwas auszurichten, das sich einst noch als Gegenüber verstand. Denn hat das Schweigevakuum die Kehlen einmal zugeschnürt, trägt nichts, das ihnen noch zu entkommen vermag, auch nur noch den Hauch eines Befreiungsschlages. Zu schwer wiegt die Last der Schuld, in den Momenten, wo es noch möglich schien, nicht in der Lage gewesen zu sein, das Geschehene ins Gewand der eigenen Sprache gekleidet zu haben. Zu unüberwindbar ist das Gefühl, für das eigens Erlebte, für die eigene Wirklichkeit keine Worte mehr zu haben.

„Es gibt keine schlimmere Krankheit als den Verlust der individuellen Sprache, wenn ein Mensch eine kollektive Sprache gänzlich zu seiner privaten macht.“
— Olga Tokarczuk, Übungen im Fremdsein, Seite 94

Man kann auch in der Sprache sterben

Das Wort im Hals umgedreht zu bekommen ist nicht nur ein gut und gern beobachteter Gestus bei Narzissten, sondern zugleich eine Annäherung an das Lebensgefühl jener, die ― trotz allen inneren Widerstands ― die Sprache des Dritten Reiches zu ihrer eigenen machen mussten. Sie, die LTI, die Lingua Tertii Imperii, wie der Philologe Victor Klemperer sie in seinen Notizbüchern nannte, war schließlich mehr als ein Mittel der Kommunikation: Sie war Ausdruck und Distinktionsmerkmal der gesinnungsbasierten Zugehörigkeit der Rassenideologie unter Hitler, die zum Sprechchor gewordene braune Soße der Nationalsozialisten.

Eingesetzt als mentales Unterjochungsinstrument, verdrehte sie den ursprünglichen Sinn von Sprache, die Menschen zu verbinden, in sein Gegenteil. Anstatt Ausdruck menschlichen Bedürfnisses zu sein, hatte sich fortan alle Vernunft und jedes Gefühl allein an ihr auszurichten.

Es galt: Die LTI dient nicht, ihr wird gedient. Was ihr nicht passt, wird passend gemacht. Und das ganz gleich, ob Medium, Masse oder doch noch Mensch ― die LTI durchdrang jeden Winkel des sogenannten Miteinanders.

Die Kategorien von privat und öffentlich galten für sie nicht. Alles in der LTI war Rede und alles war Öffentlichkeit. Jede Mitteilung und jedes Gespräch, jedes Gebet, jede Bitte und jeder Befehl hatte nur noch einen Zweck: den des Anrufs, der Anrede und Aufpeitschung zur Beschwörung des ewigen Reiches.

„In Lehrlingsprüfungen ist eine tückische Fallstrickfrage nicht selten. Sie lautet: ‚Was kommt nach dem Dritten Reich?‘ Antwortet ein Ahnungsloser oder Übertölpelter: ‚das vierte‘, dann lässt man ihn (auch bei guten Fachkenntnissen) als unzulänglichen Parteijünger unbarmherzig fallen. Die richtige Antwort muss heißen: ‚Nichts kommt dahinter, das Dritte Reich ist das ewige Reich der Deutschen.‘“ ― LTI, Seite 172

Sprache als kollektive Gedächtnisumkehr

Ließ sich die von der LTI gewünschte, „gemeingermanische“ Wortbedeutung anfangs noch dadurch herstellen, sowohl dem Reden als auch dem Schreiben eine großzügige Prise „Volk“ beizumischen; alles als „volksnah“, „volksfremd“ oder „volksentstammt“ zu betiteln, verlangte das Bekenntnis zu ihr ein zwanghaft zunehmendes Maß an Wirklichkeitsverneinung: Aus den anfänglichen Euphemismen von „verreist“ oder „fehlend“ wurde das spätere „geholt“ oder „der Endlösung zugeführt“. Und wo früher noch von „Mord“ gesprochen worden wäre, wurden nun Menschen „erledigt“ oder für „beendet“ erklärt, als wären sie Sachwerte (1).

Und je deklinierter die Sprache wurde, desto zementierter schien der Boden der Entmenschlichung: Je fester sich das Bild von „Niederrasse“ und „Gegenrasse“ oder „Untermenschen“ und „Germanen“ innerhalb der Sprache etabliert hatte, desto mehr Akzeptanz, oder desto weniger Widerspruch fand der Umgang mit denjenigen, für die die gesellschaftliche Norm keine andere Existenz mehr kannte. Die Auffassung „niederen Lebens“ unterband jede Assoziation von Menschlichkeit und legitimierte jede Form von Misshandlung.

Der Prozess einer kollektiven Gedächtnisumkehr hätte folglich nicht umfangreicher vollzogen werden können:

War ein Begriff wie „erledigen“ erst einmal von der Realität seiner Bedeutung eingeholt, sodass er nicht mehr unter farblosen und alltäglichen Benennungen versteckt werden musste, waren auch die Geschehnisse, die er bezeichnen sollte, so abstumpfend alltäglich geworden, „dass man sie eben als alltägliche und allgemeinübliche Vorgänge bezeichnet, statt sie in ihrer düsteren Schwere herauszuheben“ (2).

Damit war es für Klemperer diese Veränderung von Wortwerten und Worthäufigkeiten; die Beschlagnahmung dessen, was früher einem Einzelnen oder einer winzigen Gruppe gehörte; ihre Überführung ins Allgemeingut, in der er jenes Gift feststellte, das die Sprache durchtränkt und sie ungenießbar macht. Indem sie sich in den Dienst eines fürchterlichen Systems stellte, verkehrte sie sich aus seiner Sicht in ein gleichsam öffentliches wie geheimes Werbemittel (3) und verriet sich selbst.

Aus geschichtlicher Sicht bedeutete dies für Klemperer die erneute Auslöschung dessen, „was dauernd im Gedächtnis eines Volkes oder der Menschheit lebt, weil es unmittelbare und dauernde Wirkung auf das Volksganze oder die ganze Menschheit ausübt.“ Die Neubesetzung von Sprache war für ihn gleichbedeutend mit dem Auslöschen des kollektiven Gedächtnisses und der mit diesem verbundenen kollektiven Bedürfnisse.

Sprache im Dienst des Systems

„Das Gehirn ist so unfrei und das System, in das mein Gehirn hineingeboren worden ist, so frei, das System so frei und mein Gehirn so unfrei, daß System und Gehirn untergehen.“
— Thomas Bernhard, Sämtliche Gedichte, Suhrkamp

Bis heute gilt die LTI als die Sprache des Massenfanatismus. „Du bist nichts, dein Volk ist alles“, lautete eines ihrer Spruchbänder. Ihre Bedeutung zu ergründen, sie als das Mittel des Fanatisierens und der Massensuggestion festzumachen, das sie war ― darin lag das Anliegen Klemperers. So schrieb er als Zeitzeuge und Überlebender des Holocausts später als Einleitung in seine Notizbücher:

„Nein, die stärkste Wirkung wurde nicht durch Einzelreden ausgeübt, auch nicht durch Artikel oder Flugblätter, durch Plakate oder Fahnen, sie wurde durch nichts erzielt, was man mit bewusstem Denken oder bewusstem Fühlen in sich aufnehmen musste. Sondern der Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang und die mechanisch und unbewusst übernommen wurden“ (5).

„An dem verantwortlichen Meister der Propaganda und der LTI überhaupt (gemeint ist Joseph Goebbels, Anm. d. Red.) aber lässt sich deutlich erkennen, wie er um des Ganzen willen die ursprüngliche Verbindung von Tradition und Gefühl aufzulösen weiß. Daß man sich des Volkes nur durch Gefühlswirkung bemächtigt, ist ihm genau so selbstverständlich wie dem Führer“ (6).

Das Unterfangen, dem Einzelnen einzutrichtern, er sei nie mit sich selbst, nie mit den Seinen allein, sondern stehe immer im Angesicht seines Volkes, wertete Klemperer nicht als Appell an den Willen des Einzelnen. Ganz im Gegenteil: Für ihn war die LTI „ganz darauf gerichtet, den Einzelnen um sein individuelles Wesen zu bringen, ihn als Persönlichkeit zu betäuben, ihn zum gedanken- und willenlosen Stück einer in bestimmter Richtung getriebenen und gehetzten Herde, ihn zum Atom eines rollenden Steinblocks zu machen“ (7).

Damit war die LTI mehr als bloße Gleichschaltung: In ihrer materialistischen Denkart wurde der Mensch nicht mehr mit Maschinen verglichen, er war die Maschine.

Das Ziel ihres technisch-toten Vokabulars war nicht die Ausbildung des Charakters. Dieser ergäbe sich schließlich, gleich der Auffassung Hitlers, mehr oder minder von selbst, sobald das Körperliche die Beziehung beherrsche und das Geistige zurückgedrängt habe.

Es war der Wunsch nach einem Menschen, der vor lauter verbaler Fremdbesetzung keinen eigenen Gedanken mehr fassen konnte, der neben all der Mechanisierung und Volksbegeisterung kein eigenes Gefühl mehr fühlen konnte. Es war der Wunsch nach einem Menschen, der sein Gegenüber unter keinem anderen Aspekt mehr wahrzunehmen vermochte als unter dem des Volksgenossen.

Der Wunsch nach Entindividualisierung und Entgeistigung, der Gefühlshärte gegenüber sich selbst, neben der nichts mehr zu bestehen vermochte als die Glorifizierung des eigenen Reichs. Doch warum und wozu der Mensch nicht mehr Herr seiner eigenen Lebensentwürfe sein durfte, erklärte Victor Klemperer anhand des Philosophierens. Dieses bedeutete schließlich für die Nazis:

„ ... systematisch denken. Gerade das aber ist es, was der Nationalsozialist aus dem Innersten seines Wesens heraus ablehnen, was er aus dem Trieb der Selbsterhaltung verabscheuen muss.

Wer denkt, will nicht überredet, sondern überzeugt sein; wer systematisch denkt, ist doppelt schwer zu überzeugen. Deshalb liebt die LTI das Wort Philosophie beinahe noch weniger als das Wort System. Dem System bringt sie negative Neigung entgegen, sie nennt es immer mit Missachtung, nennt es aber häufig. Philosophie dagegen wird totgeschwiegen, wird durchgängig ersetzt durch ‚Weltanschauung‘.

Anschauen ist niemals Sache des Denkens, der Denkende tut etwas genau Gegenteiliges, er löst seine Sinne vom Gegenstand, er abstrahiert; Anschauen ist auch niemals Sache des Auges als Sinnesorgans allein. Das Auge sieht nur. Das Wort ‚anschauen‘ ist im Deutschen einem selteneren, feierlicheren, ahnungsvoll verschwommenen ― ich weiß nicht, sage ich Tun oder Zustand vorbehalten: es bezeichnet ein Sehen, an dem das innere Wesen des Betrachtenden, an dem sein Gefühl beteiligt ist, und es bezeichnet ein Sehen, das mehr sieht als nur die Außenseite des betrachteten Gegenstandes, das seinen Kern, seine Seele auf eine geheimnisvolle Weise miterfasst. ‚Weltanschauung‘, schon vor dem Nazismus verbreitet, hat in der LTI als Ersatzwort für ‚Philosophie‘ alle Sonntäglichkeit verloren und Alltags-, Metierklang bekommen“ (8).

„Denn Philosophieren ist eine Tätigkeit des Verstandes, des logischen Denkens, und ihm steht der Nazismus feindlich als seinem tödlichsten Feind gegenüber. Der benötigte Gegensatz zum klaren Denken ist aber nicht das richtige Sehen (…); auch das stünde ja den ständigen Täuschungs- und Betäubungsversuchen der nazistischen Rhetorik im Wege. Sondern sie findet in dem Wort Weltanschauung das Schauen, die Schau des Mystikers, das Sehen des inneren Auges also, die Intuition und Offenbarung der religiösen Ekstase. Die Vision des Erlösers, von dem das Lebensgesetz unserer Welt ausgeht: das ist der innerste Sinn oder die tiefste Sehnsucht des Wortes Weltanschauung, so wie es im Sprachgebrauch der Neuromantiker auftauchte und von der LTI übernommen wurde“ (9).

Babylonische Sprachverirrungen

„Die Furcht ist deshalb die gefährlichste der Leidenschaften, weil ihr erster Angriff gegen die Vernunft ist. Sie lähmt Herz und Verstand.“
― Ernst Jünger, Rivarol, Seite 138

Neben all der Blutgier und Grausamkeit war es für Klemperer der Fanatismus in seiner Reinform, den es für die Nazis als Leidenschaft in den Herzen der Menschen zu entfachen galt. Wollte man sie die Verachtung vor dem Tode lehren, war es die Leidenschaft, die es zu lenken und der es als erhabenste Tugend die eigenen Interessen abzugewinnen galt. Klemperer ging hier so weit, diesen gesellschaftlichen Entkernungsprozess durch Sprache als Erniedrigung der Seelen zu bezeichnen. Die Ausklammerung des Lebens verdrehe gemeine Privatinteressen in einen verwerflichen Egoismus, verneine das individuell Menschliche und leugne damit die wahren Grundlagen jeder Gesellschaft. Ein für Klemperer schleichender, aber gründlicher Prozess, den er mit der kontinuierlichen Einnahme winziger Arsendosen verglich:

„ ... sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da. Wenn einer lange genug für heldisch und tugendhaft: fanatisch sagt, glaubt er schließlich wirklich, ein Fanatiker sei ein tugendhafter Held, und ohne Fanatismus könne man kein Held sein“ (10).

Die dringlichste Frage lautet dementsprechend für mich: Was können wir tun, um uns unsere eigene Sprache, unser eigenes Denken und Fühlen zu bewahren? Wie können wir sicher sein, dass unsere Gedanken die unseren sind, dass wir eben nicht heimgefallen werden von fanatischen Begriffsanhaftungen oder ihnen bereits anheimgefallen sind?

Wie oft rede ich mit Menschen, nur um schon bei den ersten Fragen und „Gedanken“-Austäuschen feststellen zu müssen, dass mein Gesprächspartner über die Dinge, über die wir reden, noch nie selber nachgedacht hat. Diese Welt ist so voll von Floskeln und Fremdeinflüssen. Wer ist da noch bei sich? Wer kann da noch bei sich bleiben? Und wie merken wir, dass wir noch bei uns sind und nicht schon woanders? Und wo sind wir, wenn wir nicht mehr bei uns sind? In unserem Kopf, in Theorien und Ideologien, oder bereits in der Manipulation oder Simulation? Kurzum: Wie langsam wirkt das Gift und wer hat es uns aus welchem Grund und zu welchem Zweck verabreicht?

Ich meine: Was mit den Einwohnern Babylons passiert ist, als sie aufhörten, das sein zu wollen, was sie waren und stattdessen anfingen, gottgleich werden zu wollen? Der Versuch, die Spitze des Turmes ihrer Stadt bis in den Himmel reichen zu lassen, wurde dadurch bestraft, dass sie sich einander nicht mehr verstanden und zu dem wurden, was sie nie sein wollten: verteilt und vereinzelt in allen Ländern dieser Erde.

Wenn wir aufhören, das sein zu wollen, wer und was wir sind, treten wir unser Recht auf unsere eigenen Gedanken und Gefühle ab. Wir geben uns einem Ideal hin, einem Fremdbild, das wir versuchen, zu unserem eigenen zu machen – das wir aber niemals sein werden.

Und in dieser Fremde, innerhalb dieses Nicht-Seins, werden wir Dinge sagen, die wir weder denken noch fühlen. Schlichtweg, weil sie nicht unserem eigenen Denken und Fühlen entspringen. In dieser Fremde haben wir zwar Kontakte, wir sind unseren Mitmenschen aber nicht nahe. Denn Nähe, wahre Nähe entsteht durch die emotionale wie mentale Berührung, die Resonanz der Verbundenheit zwischen zwei Menschen, verursacht durch ihre Einzigartigkeit ― und nicht durch ihren Konformismus. Nähe und Fremdheit werden einander immer ausschließen.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen. Stuttgart Reclam 1993, Seite 229.
(2) Ebenda, Seite 198 folgende.
(3) Ebenda, Seite 22.
(4) Ebenda, Seite 234.
(5) Ebenda, Seite 21.
(6) Ebenda, Seite 254.
(7) Ebenda, Seite 29.
(8) Ebenda, Seite 106.
(9) Ebenda, Seite 153.
(10) Ebenda, Seite 21.