Staatszersetzende Pseudo-Freiheit

Ein Springer-Artikel behauptet, es hätte während der Pandemie eine Unterdrückung des wissenschaftlichen Diskurses gegeben — wer kommt denn auf so was? Eine Satire.

Eine Unterdrückung des wissenschaftlichen Diskurses während der Pandemie? Nicht doch! Böse Zungen sind es, die faktenwidrig solch ungeheure Behauptungen aufstellen. Dramatisch ist es, wenn eine von diesen bösen Zungen aus dem Pferd des Springer-Logos kommt. So wird in einer neuen Publikation aus ebendiesem Hause Springer doch genau diese Ungeheuerlichkeit kühn behauptet. Eine aufmerksame wie engagierte Verteidigerin des „Team Science“ konnte da nicht tatenlos zusehen, sondern griff beherzt zur Stift und Papier und schrieb einen LeserInnen-Brief der Empörung, in welchem sie das Zurückziehen dieser antiwissenschaftlichen Schrift forderte.

an SpringerLink

Betreff: Verschwörerische Falschinformationen auf Wissenschaftsportal publiziert! (1)

Sehr geehrte Managing Director:innen,

heute muss ich mich direkt an Sie wenden, den unten verlinkten (1), sogenannten „Artikel“ betreffend, um meiner Fassungslosigkeit, meiner Empörung, ja meinem Entsetzen Luft zu machen.

Seit fast drei Jahren stehen wir alle, Medien, die Wissenschaft und alle vernünftigen, solidarischen Mitbürger:innen gemeinsam zusammen gegen diese schreckliche Pandemie. Wir wehren Verschwörungstheorie-Ideologen und rechtsextreme Nazifaschisten ab, wir informieren uns in den seriösen Medien und lesen wissenschaftliche Studien unter anderem hier auf Ihrem Portal. Und ja, wir alle haben Kompromisse machen müssen und fast täglich Abstriche, die nicht selten schmerzhaft und blutig waren. Wir mussten uns in einer absoluten Notsituation an neue Standards gewöhnen. Jedoch haben diese Standards unseren breiten wissenschaftlichen Konsens weitergebracht, ja, ihn überhaupt erst ermöglicht! „Follow the Science“ ist keine leere Phrase mehr. Die Wissenschaft ist sich heute — zum Glück! — in allen Punkten einig, auch mit der Politik!

Doch nun das! Eine Publikation auf Ihrem Portal, die völlig faktenfrei ideologisch verzerrte Unwahrheiten über den Umgang mit vermeintlich wissenschaftlichen Gegenstandpunkten in der Pandemie unter dem Deckmäntelchen seriöser Forschung verbreitet. Ungeheuerliche Behauptungen werden schamlos als Tatsachen präsentiert. Eine Fälschung? Ein schlechter Scherz? Mitnichten!

Der Hauptautor dieses schwindeligen windigen Pamphletes, Yaffa Shir-Raz vom Department of Communication der University of Haifa, bohrt schon seit Jahren dünne, pseudowissenschaftliche Bretter. Im Mai 2022 irrlichterte er über die „Unterdrückung des wissenschaftlichen Diskurses über Impfstoffe? Selbstwahrnehmung von Forschern und Praktikern“ (2). Er spekulierte 2017 über die Immunisierung schwangerer Frauen (3) sowie über „Die Aktivitäten hinter den Kulissen des elterlichen Diskurses über Impfungen im Kindesalter“ (4). Ahnen Sie es? Ja, dieser Mann ist ein gefährlicher Impfleugner und Pandemiegegner.

Wer finanziert so etwas eigentlich? Kein anständiges Pharmaunternehmen würde doch nur einen Cent für solch hanebüchenen und geschäftsschädigenden Unsinn aus dem Fenster werfen.

Sein neuestes Elaborat ist der Gipfel der pseudowissenschaftlichen Scharlatanerie. Shir-Raz et.al. behaupten ohne jede Ironie, in der Pandemie habe es Zensur und die Unterdrückung von Gegenstandpunkten gegeben!

Welche Gegenstandpunkte sollen das eigentlich sein?!

An 13 (dreizehn!) teilnehmenden Forschenden will man dies bewiesen haben via Interview! Ein Teilnehmender gibt vor, seine Arbeiten seien ohne Angabe von Gründen nicht mehr publiziert worden. Aber vielleicht waren sie einfach zu schlecht oder sogar lebensgefährlich?

Nun ja, SpringerLink, Sie hätten mit diesem unsäglichen Wisch exakt so verfahren können: ihn geräuschlos verschwinden lassen, Ablage „P“. Und wenn das nicht hilft, gibt es noch viele andere Möglichkeiten. Die Anleitung, wie man mit impfgegnerischem Unsinn umgeht, steht doch direkt in besagtem Paper! Aber wahrscheinlich haben Sie das abstruse Geschreibsel dieses geltungssüchtigen Wirrkopfes gar nicht gelesen. So ist Ihnen weder der verschwörungsmythologische Inhalt aufgefallen, noch die Möglichkeiten und Methoden, sich dessen professionell zu entledigen.

Und obwohl sich der Antisemitismus-Vorwurf in diesem Falle nicht erheben lässt, wären etliche andere Maßnahmen möglich gewesen: Sie hätten, genau wie es im Paper beschrieben ist, die Expertise der Autoren anzweifeln können — nein, müssen! — ihren Ruf in Frage stellen, die übliche Kritik auf Social Media organisieren und prüfen, ob die Beteiligten mit Rechtsextremisten in Verbindung zu setzen sind. Sie hätten Talkshows lanzieren (sic!) können, wo der Autor mit seinen abwegigen Ansichten allein einer Expertenmehrheit nebst informiertem Publikum gegenübersteht. Einschlägige Faktenchecker einzuschalten haben Sie versäumt! Allein die rustikal vorgetragene Meinung eines bekannten Sportlers oder Schauspielers genügt oft, um pseudowissenschaftliche Verschwörungserzählungen publikumswirksam zu entkräften. All das können Sie ausführlich im Paper nachlesen. Es ist doch so einfach, so unfassbar einfach …

Aber noch ist es nicht zu spät! Begrenzen Sie den Schaden für die Gesellschaft, indem Sie den Artikel zurückziehen. Details dazu finden Sie im verlinkten PDF (5) auf Seite 13 „Retraction of Scientific Papers“. Sollte es bereits unliebsame Reaktionen in den Medien gegeben haben, organisieren Sie Gegendarstellungen. Verweisen Sie auf die Millionen geretteter Menschenleben und darauf, dass die Freiheit von Forschung und Lehre kein Selbstzweck ist und nicht bedeuten darf, dass jeder noch so abwegige Unsinn publiziert werden kann, im Gegenteil!

Sehr geehrte Managing Director:innen von SpringerLink!

Ich appelliere an Ihre Vernunft. Lassen Sie uns — die Wissenschaft — zusammenstehen mit Politik, Medien und Wirtschaft. Wir dürfen keine zersetzerische, antidemokratische Pseudo-Freiheit in unseren Reihen dulden, wenn wir die jetzigen und kommenden Krisen erfolgreich durchführen wollen.

Es mag schon sein, dass dafür auch drastischere Mittel ergriffen werden müssen. Aber bedenken Sie bitte, es geht um das große Ziel.

Und nur weil etwas existiert, bedeutet das schließlich nicht, dass diese Evidenz wissenschaftlich bewiesen und publiziert werden muss (6).


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://link.springer.com/article/10.1007/s11024-022-09479-4
(2) https://link.springer.com/article/10.1007/s10730-022-09479-7
(3) https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/28063725/
(4) https://www.researchgate.net/publication/310235892_The_behind-the-scenes_activity_of_parental_decision-making_discourse_regarding_childhood_vaccination
(5) https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/s11024-022-09479-4.pdf
(6) https://twitter.com/ChristinaBerndt/status/1534223502043234306