Stumme Intelligenz
Die Kommunikation nonverbaler Autisten hat das Potenzial, unser Verständnis der Realität grundlegend zu verändern.
Das Autismusspektrum reicht weit. Da gibt es Menschen, denen man ihre Neurodivergenz von außen nicht anmerken würde, die teils ohne Diagnose und lediglich mit leichten Einschränkungen im sozialen Umgang ihr Leben bewältigen, und es gibt solche, deren Autismus ihr gesamtes Dasein und das ihrer Mitmenschen bestimmt. Der Autor beschreibt seine Begegnungen mit sogenannten nonverbalen Autisten, die wenig oder gar nicht sprechen und doch eine besondere Art der Intelligenz aufweisen. Besonders faszinierten ihn ihr gedanklicher Reichtum und ihre Präsenz genauso wie die alternativen Kommunikationsmethoden dieser Menschen, die trotz wissenschaftlicher Zweifel fast schon an Telepathie erinnern.
Ich hatte kürzlich einige Treffen mit „Spellern“ und Menschen, die mit ihnen arbeiten. „Speller“ (Buchstabierende) sind, wie die meisten von euch wissen, nonverbale autistische Menschen, die gelernt haben zu kommunizieren, indem sie nacheinander auf Buchstaben auf einer Buchstabentafel zeigen.
Nach diesen Treffen war mir klar, wie wichtig die Speller für die Zukunft der Menschheit sind. Diese Intuition war mir zum ersten Mal gekommen, als ich Anfang des Jahres den beliebten Podcast „Telepathy Tapes“ hörte, aber durch das persönliche Treffen wurde sie zu etwas Konkreterem.
Zunächst einige Hintergrundinformationen. Moment, nein, vorher noch eine Warnung: Die Hintergrundinformationen, die ich Ihnen gleich geben werde, sind in der Autismusgemeinschaft nicht allgemein anerkannt. Ich werde später mehr dazu sagen.
Viele Jahre lang ging man allgemein davon aus, dass nonverbale autistische Menschen zu schwach begabt seien, um sprechen zu können. Tatsächlich besteht das Problem jedoch in einer mangelnden Feinmotorik sowie verschiedenen Diskrepanzen zwischen Geist und Körper. Sie können ihren Körper nicht so kontrollieren wie die meisten Menschen.
Sie stehen vielleicht plötzlich auf und drehen sich im Kreis, schlagen auf den Tisch oder stammeln eine Reihe von unsinnigen Silben oder Wörtern. Nach außen hin wirken sie wie Verrückte. Wenn sie jedoch das Buchstabieren lernen — was in der Regel eine sehr schwierige Aufgabe ist, die viel Übung und Konzentration erfordert, ähnlich wie das Erlernen des Einradfahrens —, zeigen sie ein Intelligenzniveau, das dem von normalen Menschen entspricht und es manchmal sogar weit übersteigt.
Darüber hinaus zeigen sie auch erstaunliche telepathische Fähigkeiten. Ich bekam eine Demonstration zu sehen, die mich mit Freude erfüllte. Ich schrieb ein Wort auf ein Stück Papier und zeigte es der Lehrerin. Sie sah es sich an und bat einen der Speller zu buchstabieren, was er gesehen hatte. Er tat dies, scheinbar ganz beiläufig, ohne dass er gesehen haben konnte, was ich geschrieben hatte. Das Wort war „squeebit“. Niemand weiß, was das heißt.
Die gängigste Erklärung ist, dass die Lehrerin ihm subtil signalisiert hat, auf welche Buchstaben er zeigen soll. Diese Interpretation hängt mit einer allgemeineren Ablehnung der Speller zusammen, die besagt, dass sie gar nicht buchstabieren, sondern nur mit dem Zeigestock herumstochern und ihre Betreuer ihre Hand führen oder die Tafel bewegen, damit es so aussieht, als würden sie Buchstaben auswählen. Das ist nur Wunschdenken seitens ihrer Lehrer und Eltern, so lautet diese Erklärung. Sie buchstabieren nicht, sie denken nicht, in ihrem Inneren geht nichts vor sich.
Eine andere gängige Erklärung wäre: Betrug. Jeder Bühnenmagier könnte diesen „Trick“ leicht nachmachen, vielleicht mithilfe von Spiegeln oder einer Art von Stichworten. Ich behaupte also nicht, dass ich einen „Beweis“ für Telepathie gesehen habe.
Aber ich suche auch nicht nach Beweisen. Man kann Beweise immer so zurechtbiegen, dass sie zu den eigenen Überzeugungen passen. Was man glaubt, ist letztlich eine Entscheidung. Man sollte Beweise nicht ignorieren, aber man kann sich auch nicht vollständig von ihnen leiten lassen.
Die leichtfertige Ablehnung von Spelling beruht auf Unkenntnis über die Geduld und das Engagement, die zum Lehren und Lernen erforderlich sind. Ich habe einer Unterrichtsstunde beigewohnt, in der Tutoren nonverbalen jungen Menschen Spelling beibrachten. Die Freundlichkeit der Lehrer und die Ausdauer der Lernenden haben mich tief bewegt. Es ist nicht so, dass die Tutoren viel Geld dafür bekommen, dass sie Stunde um Stunde dort sitzen und ihre Schüler ermutigen: „Hebt eure Augen.“ „Konzentriert euch.“ „Du schaffst das.“ Niemand würde für 20 Dollar pro Stunde so viel Zeit aufwenden, um Wunschdenken zu bedienen.
Um eine konventionelle Sichtweise aufrechtzuerhalten, die Speller und ihre Fähigkeiten ablehnt, müsste ich auch glauben, dass ihre gesamte Gemeinschaft eine Ansammlung von Betrügern, Schwindlern, Trotteln und Wahnsinnigen ist.
Ich müsste die Vorführungen mit einer Haltung des Misstrauens und der selbstgefälligen Überlegenheit über mich ergehen lassen. „Seht euch diese Narren an!“ Oder bestenfalls mit herablassender Toleranz. Die gegensätzlichen Deutungen, die ich über die Speller haben könnte wie „Es ist eine Wahnvorstellung“ versus „Es ist authentisch“, passen jeweils zu den Messdaten. Sie sind intellektuell gleichwertig, aber emotional nicht gleichwertig. Der Zustand des Glaubens ist ein Seinszustand.
Ich kam auch mit einer Gruppe von Spellern ins Gespräch. Die Intelligenz hinter ihren prägnanten Botschaften war spürbar. Ich konnte sie spüren, eine Art Präsenz. Sie wissen doch, wie man die Präsenz einer Person spüren kann? Aber als ob das noch nicht genug wäre, zeugte auch der Inhalt ihrer Kommunikation von tiefem Denken und Verständnis. Sie waren sehr gebildet — manchmal verwendeten sie einen Wortschatz, der den ihrer Lehrer übertraf. Einer demonstrierte, wie schnell er lesen kann. Er hatte genug motorische Kontrolle, um mit dem Finger über einen Bildschirm zu streichen, wie man es beim Lesen auf einem Tablet tun muss. Wischen, wischen, wischen ... schneller als eine Seite pro Sekunde, mit vollständiger Erinnerung.
Was mich ebenfalls bewegte, war das Ausmaß des Leidens, das diese Menschen ertragen müssen. Mir wurde gesagt, dass es weltweit 30 Millionen nonverbale Autisten gibt. Da sie als geistig behindert gelten, erhalten sie kaum die Art von Bildung oder Anregung, die ein intelligenter Geist braucht, um sich zu entfalten.
Sie werden manchmal körperlich fixiert. Sie werden teilweise in speziellen Tagesstätten untergebracht, wo sie vor den Teletubbies oder Sponge Bob [nervtötende amerikanische Kinderserien] sitzen müssen. Auch die Eltern leiden darunter. Die Betreuung dieser Kinder oder Erwachsenen ist praktisch ein Vollzeitjob.
Stellen Sie sich vor, Sie wären einer dieser Eltern, denen jahrelang gesagt wurde, dass ihr Kind dement ist, die vielleicht sogar selbst davon überzeugt waren — und die eines Tages hinter dem Schleier ein Genie entdecken.
Ich habe beschlossen, einen Teil meiner Zeit und Energie den Spellern zu widmen. Mitgefühl ist nur ein Teil meiner Motivation, denn sie sind nicht die einzigen auf dieser Erde, die schrecklich und unnötig leiden. Mein anderer Grund ist, dass ich glaube, dass die Menschheit ohne sie und ihre Gaben den vor uns liegenden Übergang nicht bewältigen kann.
Wenn wir uns auf die menschlichen Fähigkeiten beschränken, die innerhalb der Grenzen der konsensualen Realität liegen, und nur diejenigen einbeziehen, die innerhalb dieser Realität „normal” sind, werden wir die Initiation der Metakrise nicht bestehen.
Was für nonverbale Autisten gilt, gilt auch für alle anderen, die an den Rand der Realität gedrängt wurden. Zum Beispiel Menschen, die in Gefängnissen inhaftiert sind. Und einige der außergewöhnlichsten Menschen, denen ich je begegnet bin, waren im Gefängnis. Einige von ihnen haben extreme Traumata durchlebt und wurden durch sie nicht gebrochen, sondern davon geheilt, und sie besitzen eine außergewöhnliche geistige Gesundheit und moralische Klarheit.
Ich empfehle jedem, der es noch nicht gehört hat, sich „The Telepathy Tapes“ anzuhören. Wir müssen beginnen, das gesamte Spektrum der Realität wahrzunehmen. Es liegt in der Natur einer authentischen Initiation, dass sie Fähigkeiten hervorbringt, von denen man nicht wusste, dass man sie besitzt. Das ist es, was wir derzeit gemeinsam brauchen.
Natürlich sind telepathische Fähigkeiten und übernatürliche Intelligenz nicht auf die Speller beschränkt. Diese Fähigkeiten und viele andere sind seit Langem im Exil — verbannt aus der Gesellschaft und auch aus uns selbst. Welche Fähigkeiten und welche Arten des Menschseins werden akzeptiert, belohnt und gefeiert? Und welche werden verspottet, unterdrückt und pathologisiert? Viele von uns haben — in geringerem Maße — eine ähnliche Situation wie die der Speller erlebt. Vielleicht gehören Sie auch dazu.
Dennoch — an den Spellern spüre ich immer noch etwas Besonderes. So als seien sie Seelen, die noch nicht vollständig inkarniert sind und gerade erst beginnen, in die Realität unserer Wahrnehmung einzutreten. Sie wurden eingesperrt, ausgeschlossen und in eine Realität eingeschlossen, die wie eine Hölle ist. Sie selbst erzählten mir, wie sehr sie leiden. Doch jetzt bröckeln die Mauern zwischen ihrer Realität und unserer. Wir wissen jetzt von ihnen. Einige von uns sehen sie jetzt jedenfalls. „Du siehst uns wahrhaftig“, sagte mir einer der Speller. Und es gibt viele andere, die das tun, immer mehr. Was wir bereit sind zu sehen, lassen wir zu und machen es real.
Noch etwas: Dieser Übergang, diese Revolution, diese große Wende ist nicht von der Art, bei der es einige schaffen und andere nicht. Es ist keine, bei der einige Menschen von denen zurückgelassen werden, die die Mission, die Welt zu retten, für so wichtig halten, dass wir uns den Luxus nicht leisten können, uns um diejenigen zu kümmern, die sie belasten würden. Unsere gegenwärtigen Geld- und Machtsysteme erkennen nicht, was wahrer Wert und wahre Macht ist. Wahre Macht, die Macht der Transformation, wartet dort, wo wir noch nicht hingeschaut haben.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text wurde von Christa Dregger übersetzt und von Ingrid Suprayan korrekturgelesen. Die englische Originalfassung dieses Essays ist hier zu finden.
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