Teilen wir unsere Vision!

Setzen wir dem „Weiter so!“ von oben ein „Es geht auch anders!“ von unten entgegen.

Wie ist es möglich, den demokratischen Erneuerungsprozess wieder anzufachen? – Wir brauchen dazu eine Ermutigung, die über unseren bisherigen Mut hinausgeht. Wir brauchen die Erinnerung an schon errungene Erfolge. Wir sind Teil einer langen Befreiungstradition. Sie zieht sich wie ein unterirdischer Strom durch die Geschichte und kann auch heute noch unsere Wurzeln tränken.

Befreiung ist ein langer, mühsamer und manchmal leidvoller geschichtlicher Prozess. Sich ihm anzuschließen, heißt, sich gegen alle Geschichtsvergessenheit zu erinnern, um an vergangene Erfahrungen anzuknüpfen und von ihnen zu lernen (1). Geschichtsverlust ist Gedächtnisverlust. Teil der Befreiungstradition zu werden, heißt: Wir müssen die Mauer der Privatheit, des bürgerlichen Individualismus („mein Haus, mein Auto, mein Glück“) durchbrechen und unsere persönlichen Hoffnungen, unsere eigenen Visionen von einem besseren Leben miteinander teilen. Hoffnung, die nicht geteilt wird, bleibt unwirksam. Im Weitererzählen aber entfaltet sie ihr Potential, ihre ansteckende Wirkung.

Wo Visionen fehlen, verkommen die Menschen.

Diesem Satz aus den Sprüchen Salomos hätte der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt sicherlich nicht zugestimmt (2). Denn von ihn stammt der Ausspruch: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.“ Hier irrte Herr Schmidt. Er verwechselte „Visionen“ mit „Halluzinationen“. Halluzinationen sind Realitätsverzerrungen, die durch Fehlsteuerungen im Gehirn entstehen. Visionen dagegen sind innere Bilder aus höheren, nichtdualen Bewusstseinsebenen. Es sind Ahnungen einer besseren Zukunft, die darauf wartet, durch uns Realität zu werden.

Der Begriff Vision ist dem der Utopie verwandt. Utopien gehen von einer wünschenswerten Gesellschaft aus, Visionen dagegen vom Individuum und seiner Fähigkeit zur Emanzipation. Beide sind Gegenentwürfe zum Status quo. Beide entlarven das Bestehende als das Veränderungsbedürftige.

Denn ohne die Vorstellung von etwas Besserem unterliegen wir der „normativen Kraft des Faktischen“. Das Bestehende erscheint uns dann, das einzig Mögliche zu sein.

Die visionären Bilder unserer Psyche, die Metaphern und Allegorien in der Kunst, den Religionen, den Mythen und Märchen der Völker – sie alle zeigen Lösungswege auf. Denn sie sprechen die Sprache der Hoffnung, die eine Sprache der Transzendenz ist. Sie beflügelt uns darin, nicht stehen zu bleiben, sondern das Bestehende zu überschreiten. Welche Aktualität steckt in diesen Bildern? Welches Licht werfen sie auf unsere heutige Situation? Was lehren sie uns hoffen?

Ein Leben im Exil

Eine der bekanntesten Befreiungserzählungen ist die mythische Geschichte vom Auszug des Volkes Israel aus der Fronherrschaft in Ägypten (3). Lassen wir uns auf ihren allegorischen Charakter ein, gibt sie ihre inspirierenden Wahrheiten frei. Rabbi Chanoch kommentiert diese Geschichte so:

„Das eigentliche Exil Israels in Ägypten war, dass sie es ertragen gelernt hatten“ (4). Nicht die Sklaverei an sich, meint der Rabbi, war das Exil, sondern die Gewöhnung daran. Das eigentliche Exil war, sich mit dem Zustand der Entfremdung und Entwürdigung arrangiert zu haben. Sich eingerichtet zu haben an den „Fleischtöpfen Ägyptens“.

Auch wir, so scheint es, haben das „Exil in Ägypten“ ertragen gelernt. Denn wir arrangieren uns mit einer politisch-ökonomischen Herrschaftsstruktur, die auf Anpassung, Unterwerfung und Ausplünderung unserer Lebensgrundlagen setzt. Auch wir ziehen das Warenangebot Ägyptens einem Leben in Freiheit und Selbstbestimmung vor. Gestresst durch unseren „Job“, dafür aber rund um die Uhr unterhalten, merken wir kaum noch, wie uns unser Leben entgleitet. Wie das Gefühl für unsere Würde, für unser Recht auf Freiheit und Unverletzlichkeit von Körper, Seele und Geist immer mehr verblasst.

„Pharao“ taktiert geschickt mit einer Mischung aus Verführung, Manipulation und Zwang. Sein Glücksversprechen ist der Zugang zu einer scheinbar unbegrenzten Warenwelt. Wer wollte bei diesem Angebot noch die Durststrecke durch die Wüste in die Freiheit antreten?

Schritt für Schritt wird unser Leben okkupiert und den Machtverhältnissen unterworfen, die „eine Minderheit von Besitzenden der Mehrheit von Nichtbesitzenden“ aufzwingt (5). Ihr Herrschaftsanspruch kommt seriös daher als „politische Notwendigkeit“, „technologische Alternativlosigkeit“ oder „ökonomische Vernunft“.

Die Formen der Unterwerfung sind umfassend. Sie ziehen sich durch nahezu alle Lebensbereiche: Arbeit, Bildung, Alterssicherung, Gesundheit, Pflege, Wohnen und so weiter. Sie fließen in die Rechtsprechung. So gelingt es einer kleinen Gruppe von Reichen ihre Privilegien auf Dauer zu sichern (6).

Wir aber lassen uns den ägyptischen „Way of life“ nicht madig machen. Wir bestehen auf der „freien Fahrt für freie Bürger“, auf unseren Flugreisen nach Australien, Amerika oder Fernost und auf Wochenend-Einkaufstrips nach Madrid, London oder Rom.

Sehen lernen

Solange wir die Entfremdung ertragen, reproduzieren wir sie und geben sie an andere weiter. Wie aber kann in Ägypten überhaupt ein Bedürfnis nach Befreiung entstehen? − Anders als im Mythos gibt es keinen Moses, keinen von Gott gesandten Führer, der uns befreien könnte.

Der Befreiungsprozess beginnt im Innern von uns selbst, bevor er sich in die Gesellschaft hinein fortsetzen kann. Er beginnt da, wo ich zur Bewusstheit meines Lebens komme. Wo ich sehen lerne.

Sehen lernen heißt: Ich beginne meine Situation zu durchblicken und erkenne, wie mein Leben manipuliert, benutzt, verwertet und an seiner Entfaltung gehindert wird. Mir wird klar: Wenn ich so weitermache wie bisher, verpasse ich mein Leben, habe ich nicht wirklich selbst gelebt.

Der Fremdherrschaft Pharaos zu entkommen, heißt: Ich verdränge oder beschönige nicht mehr. Ich lasse den Schmerz und die Wut zu, die mich diese Erkenntnisse kosten. Ich bekenne mich zu mir selbst und leiste Widerstand. Ich mache mich – trotz aller Ängste – auf den Weg und tausche die Versorgungssicherheit Ägyptens gegen die Unsicherheit eines lebendigen, selbstbestimmten Lebens ein. Ich reiße die Mauer der Apartheid nieder, die mich vom Andern trennt.

Denn lebendig sein heißt: Verbunden sein und trotzdem ganz ich selbst sein. Glück ist immer geteiltes Glück.

In den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts gründete der Maler Oskar Kokoschka in Salzburg eine „Schule des Sehens“. Er wollte darin nicht nur Maler ausbilden. Er hatte die Vision, einer „ethisch und ästhetisch allmählich erblindenen Menschheit“ wieder das Sehen beizubringen. Eine Bewegung bewusster, schöpferischer Menschen sollte entstehen, die sich der Enthumanisierung und Robotisierung widersetzt und „nicht zulässt, dass aus der Erde eine menschenleere Wüste wird“ (7).

Oskar Kokoschkas Vision trifft auch heute den Nerv unserer Zeit. Lassen wir uns von ihr inspirieren! Lassen wir den Individualismus unserer ägyptischen Erziehung hinter uns! Unterstützen wir uns gemeinsam geschwisterlich beim Sehen lernen!


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://kenfm.de/rainer-mausfeld/ (ab 1. Std. 22. Minute)
(2) Hebräische Bibel: Sprüche Salomos, Kapitel 29, Vers 18. Übertragung von Dorothee Sölle.
(3) Hebräische Bibel: Buch Exodus, Kapitel 1-18.
(4) Buber, Martin (1992). Die Erzählungen der Chassidim. Zürich: Manesse Verlag.
(5) ÖDP Vortrag 04. Juni 2018 Prof. Dr. Rainer Mausfeld: "Wie werden politische Debatten gesteuert?" https://www.youtube.com/watch?v=bw5Px3rR9Jo (ab 59. Minute)
(6) Prominentes Beispiel hierfür ist die Bertelsmann AG, die in Gestalt ihrer Stiftung das Drehbuch für die sogenannten „Hartz-Gesetze“, besonders für „Hartz IV“, schrieb. https://www.zdf.de/comedy/die-anstalt/die-anstalt-hartz-iv-undemokratisch-100.html
(7) Jungk, Robert (1994): Trotzdem. Mein Leben für die Zukunft. München: Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf.