Unerhörte Proteste

Die Nähe zur Macht bestimmt darüber, ob jemandem zugehört wird oder ob er totgeschwiegen und ausgegrenzt wird.

„Den Bürgern mehr zuhören“ — immer wieder versuchen Politiker mit diesem Slogan zu punkten, weil er beliebt ist. Es bleibt aber in der Regel bei der Simulation eines Gesprächs auf Augenhöhe. Vor allem sollen die Menschen gebannt den Herrschaftsdiskursen „ihrer“ Regierung lauschen. Und wer nicht hören will, muss fühlen. Den Medien soll zugehört werden, aber nur denen, die innerhalb eines schmalen erlaubten Denkkorridors bleiben, die sich nicht ungehörig verhalten oder Unerhörtes verlauten lassen. Wer aus der Phalanx der Rechtgläubigen ausschert, muss mit Sanktionen rechnen. „Dies ist keine Diktatur, denn alle dürfen ja noch sagen, was sie wollen.“ Ja, in diesem sauberen Land wird normalerweise nur der Ruf von Oppositionellen ermordet. Wer sich ein dickes Fell zugelegt hat, Diffamierungen an sich abregnen lässt, wer auf ein stabiles soziales und berufliches Umfeld keinen Wert legt, wer sich außerdem mit einem sehr kleinen Hörerkreis zufrieden gibt, weil sich ihm die größeren Foren nach und nach verschließen, der darf hier seine Meinung ziemlich frei äußern. Noch.

Gegenwärtig wird viel über das Zuhören geredet, aber wenig über einen seiner zentralen Aspekte: Macht. Das könnte man meinen angesichts der massiven Ablehnung, die Menschen mit teils großer Wucht entgegenschlägt, seien sie Wissenschaftler oder Ärzte, Juristen oder Journalisten, Fußballer oder Polizist, Person des öffentlichen oder des nicht-öffentlichen Lebens, wenn sie es wagen, die offizielle Lesart des Mainstream-Narrativs der Covid-Pandemie zu hinterfragen oder gar eine ganz eigene Draufsicht zu entwickeln. Im besten Fall werden Kritiker bloß ignoriert und totgeschwiegen. Vielleicht werden sie aber auch durch Deplatforming aus den öffentlichen Netzwerkverbänden gelöscht und so zum Schweigen gebracht.

Persönlicher Schaden entsteht, wenn die Integrität von Menschen beschädigt wird. Etwa indem ernsthafte Kritik öffentlich lächerlich gemacht oder als schäbig gebrandmarkt wird. Oder wenn Kritiker als wenig ernst zu nehmende Akteure, als „arme Schweine“ öffentlich bemitleidet werden, die nach Einschätzung von Kanzlerin Angela Merkel eine „Aufgabe für Psychologen seien“ (1). Im schlimmsten Fall können Kritiker jedoch weit größeren Schaden erleiden, etwa wenn sie von sogenannten „Faktencheckern“ im öffentlichen Mainstream-Diskurs als Faktenlügner (2) diffamiert werden. So kann es passieren, dass Kritiker, die sich außerhalb des Mainstream-Narrativs bewegen, heute vor den Ruinen ihrer beruflichen und sozialen Existenz stehen.

Daher hören wir diese Abweichler nicht durch das Sprachrohr der öffentlich-rechtlichen Medien zu uns sprechen. Sie werden nicht von den Gatekeepern, den Qualitätsredakteuren und -innen der öffentlich-rechtlichen Sender oder von all den Topjournalisten und -innen unserer breiten und etablierten Medienlandschaft befragt. Wenn überhaupt, ist ihnen allein die negative Aufmerksamkeit der sogenannten Qualitätsmedien gewiss. Die breite Öffentlichkeit erhält jedenfalls keine Kunde von ihren Gedanken und Überlegungen.

Es ist ein Bann, der damit von der etablierten Medienlandschaft über ihnen ausgesprochen wird. Sie alle verbindet das Schicksal, von den Mainstream-Medien für unwürdig befunden zu werden, sich mit einer vom offiziellen Narrativ abweichenden Meinung oder Expertise in den öffentlichen Diskurs einbringen zu dürfen.

Dieser Bann greift auf all jene über, die es wagen, sogenannte „verquere“ Ideen aufzugreifen und in die Welt hinauszutragen. Schließlich sollte, wie von höchster Stelle kundgetan, das offizielle Narrativ „nie hinterfragt“ (3) werden. Andernfalls drohe das große Ganze, die Volksgesundheit, Schaden zu nehmen und dies sei doch sehr unsolidarisch. Wir lernen somit, nicht erst im Übertreten von Gesetzen, nein, schon im Selberdenken kritischer Gedanken zeigt sich ein das Gemeinwohl schädigendes, unverantwortliches, mithin unduldbares Verhalten.

Es ist sogar noch heikler: Bloß der Kontakt mit „verqueren“ Menschen und Gedanken reicht mitunter aus, Menschen als Gefährder zu brandmarken, was unmittelbar zu einer ganz besonderen Form der Schuld, der Kontaktschuld führt. Solcherart etikettiert fallen alle „Verquere“ und „verquer Kontaminierte“ dem Volkszorn anheim. Man darf sie öffentlich etwa als „Covidiot“ (4), als „asoziale Trittbrettfahrer“ (5), ja, sogar als „Volksfeind“ (6) bezeichnen, ohne sich dafür der Hatespeech schuldig zu machen.

Denn Anetta Kahane, Vorsitzende der Amadeu-Antonio-Stiftung, hat die Bürger bereits im November 2020 in einer Bundespressekonferenz breit darüber aufgeklärt, dass sich verquere Menschen mit Verschwörungsideologien gemein machen. Sie haben damit immer ein „antisemitisches Betriebssystem“ (7) und — so kann wohl getrost ergänzt werden – sind damit eindeutig dem Bösen zugehörig.

Dies erklärt, weshalb man öffentlich fordern darf, dass etwa Impfkritiker, sollten sie an dem Virus erkranken, selbst auf lebensrettende Maßnahmen verzichten müssten (8) oder dass sie aus dem Versicherungsschutz der Solidargemeinschaft auszuschließen seien (9). „Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen“ wünscht sich da der Leiter des Politkressorts bei rtl und n-tv, Nikolaus Blome am 7. Dezember 2020

Eine solch drastische Engführung und Polarisierung der öffentlichen Meinung kennzeichnet die wohl größte Krise seit Langem. War noch in der alten Normalität ein medialer Meinungspluralismus nicht nur möglich, sondern geradezu nötig, um als politisch korrekt zu gelten, haben wir, das Volk, die Lektion nach einem Jahr Pandemie gründlich gelernt, die da lautet: Wem man nicht zuhört, der hat Unrecht. Oder etwa nicht? Wir können doch darauf vertrauen, dass sich Wahrheit und Recht im pluralen und unabhängigen Diskurs unserer breit aufgestellten Informationssysteme von selbst durchsetzen … oder?

Es lohnt sich, hierzu einmal Michel Foucault, den Begründer der Macht- und wissenstheoretischen Diskursanalyse, zu befragen.

Nach Foucault unterliegt der öffentliche Diskurs Prozeduren der Kontrolle und Einschränkung, die den Machtsystemen der jeweiligen Epoche entspringen (10).

Mit ihren Setzungen entstehen Ausschließungssysteme, die das öffentlich Sagbare festschreiben und so öffentliche Meinung produzieren. Der Besitz von Wahrheit ist damit nicht nur Ausdruck, sondern zugleich Produkt von Macht, denn Macht macht Wahrheit. Wahrheit und Macht sind rückbezüglich, denn je rigider die Machtstrukturen mit ihren Ausschließungssystemen, desto größer ist der Absolutheitsanspruch der auf diesem Weg generierten Wahrheit (11).

Ursprünglich als vierte Macht konzipiert

Mit der Einsicht über das verhängnisvolle Zusammenspiel von Macht und Wahrheit wurden als bedeutende Instrumente der Kontrolle staatlicher Macht die öffentlich-rechtlichen Medien in der BRD als sogenannte vierte, unabhängig konzipierte Gewalt, als sogenannte Gatekeeper im Staat fest installiert. Doch in dem Maße, in dem mediale Informationssysteme heute ihre Unabhängigkeit verlieren, indem sie die Interessen der Mächtigen bedienen, von denen sie zunehmend durchsetzt – etwa in ihren Aufsichtsräten oder Vorständen — und finanziert — etwa durch außerordentliche Geldzuwendungen – werden, werden sie vom Status unabhängiger öffentlicher Medien zu Wahrheit produzierenden Instanzen.

Das heißt: De facto werden sie zu Ausschließungssystemen im Foucault‘schen Sinne und damit zu Systemwerkzeugen. Es liegt in der Logik des Machterhalts, dass sich die Agitatoren dieser Verschiebungen bemühen, so lange wie möglich die breite Masse der — noch — informationssystemtreuen Wahrheitsgläubigen gegen diejenigen auszuspielen, die die schleichende Zersetzung der Informationssysteme schon wahrnehmen und als machtkonforme Ausschließungssysteme entlarven. Etwa mit der Behauptung des ARD-Vorsitzenden Tom Buhrow, dass die Bedeutung klassischer Medien durch die Corona-Krise deutlich gestiegen sei und das „Vertrauen in klassische Medien (…) zugenommen“ habe (12).

Werden dennoch kritische Stimmen medial hörbar, wie etwa durch die Aktion #allesdichtmachen, inszeniert von einer Reihe bekannter, „systemrelevanter“, da — bis dato — allseits beliebter Schauspieler, wird mit denkkritischen Geistern dieser selbst im Mediensystem Tätigen nicht gerade zimperlich umgegangen.

Der Sturm der Entrüstung reicht von wüsten Beschimpfungen als Nestbeschmutzer bis hin zu Morddrohungen. Garrelt Duin, SPD-Berufspolitiker und spannenderweise auch Mitglied des WDR-Rundfunkrats, forderte gar, die öffentlich-rechtlichen Sender müssten die Zusammenarbeit mit allen Künstlerinnen und Künstlern, die sich an #allesdichtmachen beteiligt haben, schnellstens beenden (13). Binnen Stunden distanzierten sich die ersten Schauspieler von ihren Videos oder zogen diese zurück, andere gaben öffentliche Rechtfertigungen ab.

Werden solche Drohgebärden, respektive Disziplinierungsversuche, die sich gegen Menschen richten, die große Sympathiewerte der Bevölkerung einfahren und daher als beliebte Identifikationsfiguren gelten, nicht nur öffentlich sag-, sondern auch bundesweit hörbar, löst dies Angst und Verunsicherung in der Bevölkerung aus. Solche medial inszenierten Diffamierungs- und Anprangerungsdynamiken unterdrücken, wie hier einmal mehr deutlich wird, nicht nur kritische Stimmen, mit den so ausgelösten Angstdynamiken wird die Gesellschaft zusätzlich in immer tiefere Lager gespalten. Dies mag erklären, weshalb der stete Zuwachs von als alternativlos etikettierten Maßnahmen öffentlich kaum oder nur wenig Gegenwehr erfährt.

Aber solange wir „frei“ sprechen können, leben wir noch in einer freien Gesellschaft??

Ohne Zweifel ist es ein Grundpfeiler demokratischer Gesellschaften, öffentlich frei sprechen zu dürfen. Mindestens ebenso fundamental für den Fortbestand einer Demokratie, das zeigt sich heute deutlicher denn je, benötigt das gesprochene Wort auch ein angemessenes Forum, damit es öffentlich hörbar und von den vielen der breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen wird. Viel wichtiger als die Frage: Wer soll sprechen? erscheint daher auch der Mitbegründerin der postkolonialen Theorie Gayatri C. Spivak die Frage: Wer wird zuhören? (14) Wird einer Person nicht zugehört, stellt dies ihr Existenzrecht bis hin zur konkreten physischen Existenz infrage, diese bittere Erfahrung machen heute so manche Menschen.

Existentielle Dimension menschlichen Seins

Der OVALmedia Chef Robert Cibis äußerte kürzlich in einem Interview: „Das Wichtigste für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft ist das Zuhören“ (15). Auch wenn der Filmemacher — wie wohl die meisten Menschen — auf das besondere Potenzial des Zuhörens im Zwischenmenschlichen abzielt, thematisiert er damit die spezifisch adhäsiven Kräfte des Zuhörens, die in allen Bereichen unseres Lebens eine existenzielle Dimension menschlichen Seins und Miteinanders berühren, nämlich die der Zugehörigkeit. Wem wir zuhören, auf wen wir hören, dem fühlen wir uns zugehörig — oder eben nicht. Es wundert daher kaum, dass diese kommunikative Figur eine erhebliche Anziehungskraft für sehr viele Menschen hat, zuweilen gar als „Sehnsuchtsort“ (16) bezeichnet wird.

Das wissen auch Politiker. Nicht von ungefähr wurde im Wahlkampf zur letzten Bundestagswahl das Zuhören zum Wahlkampfslogan der CDU, wurden so kollektive Zugehörigkeitssehnsüchte geweckt: „Das große Ganze beginnt mit einem Ohr für die kleinen Dinge“ (17), war auf vielen Wahlplakaten der CDU zu lesen, die ein großflächiges Porträt von Angela Merkel schmückte. Als frisch gekürte Parteichefin zog kurze Zeit später Annegret Kramp-Karrenbauer mit ihrer „Zuhör-Tour“ (18) nach. Die Linken machten daraufhin mit ihrer Kampagne: „Zuhören bei Kaffee und Kuchen im Bus der Begegnung“ (19) von sich reden.

Ohne Zweifel wissen Politiker, dass sie mit solchen Kampagnen punkten und spontane Sympathie- und Zustimmungswerte der Bevölkerung „einfahren“ können. Doch wie verhält es sich mit dem Zuhören im realen bundespolitischen Alltag? Als verfassungsrechtlich verankerter, dem Bürger zugesprochener Hörraum gilt einzig die öffentliche Demonstration. Wird sie eingeschränkt oder gar verboten, wie dies zunehmend zur neuen Normalität wird, entfällt die letzte Möglichkeit des Bürgers, das politische Ohr und damit Bürgerhörzeit zu erwerben. Wird eine Demonstration verboten, laufen Bürger Gefahr, bestraft und damit kriminalisiert zu werden, wenn sie diese in der Verfassung verankerte Bürgerhörzeit im öffentlichen Raum demonstrativ einfordern.

Ähnlich ergeht es den privaten Hörräumen und Hörzeiten. Auch hier beschneiden Maßnahmen den privaten Kommunikationsraum oder er wird gleich ganz entzogen. Zuwiderhandlungen solcher Kontakt- oder auch Verweilverbote, die in der Konsequenz immer auch Kommunikationsverbote sind, werden empfindlich unter Strafe gestellt. So werden sie zu einer den öffentlichen Diskurs kontrollierenden Strategie des Silencing. Ganz im Sinne des schon von Foucault thematisierten Herrschaftsmotivs „Überwachen und Strafen“ (20), strafen sie nun schon den bloßen Versuch, Meinung öffentlich auszutauschen und zu Gehör zu bringen.

Pervertiertes Alibihören

Während den Bürgern das politische Ohr entzogen wird, etabliert sich zunehmend ein ganz eigenes Forum des Zuhörens, in dem ein „Stellvertreterzuhören“ praktiziert wird. Damit ist unter anderem die systematische Auslagerung politischer Hörräume und ihre Reinszenierung in Talkshows öffentlich-rechtlicher Medien und anderer VIP-Zirkel gemeint. Während der zumeist geschmeidigen und smarten Moderatorin oder dem Moderator der öffentlich-rechtlichen Medien den Politikern unter den Gästen stellvertretend für den gemeinen Bürger sein Ohr leiht, pervertiert solches „Showhören“ zur Werbeveranstaltung politischer Agenden und ihrer Akteure. Damit verkommt es zur leeren Zuhörfloskel, zum „Alibihören“ der Politik.

Statt offene und für alle zugängliche Hörräume zu schaffen, fesselt und lenkt die Politik ihre Bürger durch „Herrschaftshören“

Mit diesem Begriff kennzeichnet die Erziehungswissenschaftlerin Christina Thürmer-Rohr (21) das exklusive Privileg dominanter Gruppen, sich jederzeit Gehör verschaffen zu können, und unterscheidet ein Zuhören nach oben von einem Zuhören nach unten. Für den Machtkontext gilt die einfache Formel, Herrschende haben das „Zuhören nach unten“ nicht nötig, außer zum Zweck des Abhörens und Aushorchens. Umgekehrt kennzeichnet es die bittere Realität beherrschter Gruppen und Minderheiten, auf ein offenes Ohr der Mächtigen kaum hoffen zu können, sondern — im Gegenteil — zum Überleben und zum eigenen Schutz auf ein „Zuhören nach oben“ angewiesen zu sein.

Das nennt man auch Gehorsam. Je stärker die Machtkonzentration der Regierenden, umso mehr kennzeichnet es die Realität der Regierten, nur schwer das Ohr der Mächtigen erreichen zu können. Und umso wichtiger wird es schon aus Gründen des Selbstschutzes, gehorsam zu sein. Wenn, wie die Foucault‘sche Diskursanalyse zeigt, Wahrheit nicht außerhalb der Macht steht, etabliert solches Herrschaftshören schmale Meinungskorridore, die zu Verwerfungen und Spaltungen der Gesellschaft führen, wie wir sie heute beobachten.

Es passt ins Bild politischer Doppelgesichtigkeit, dass Papst Benedikt XVI. bei seinem Besuch im Deutschen Bundestag am 22. September 2011 ein „hörendes Herz“ als Maßgabe politischen Handelns empfohlen hat (abgeleitet aus 1 Kön 3,9, das heißt, dem ersten Buch der Könige Vers 3,9) (22). Seine Worte müssen auf taube Ohren gestoßen sein; dass sie ungehört verklangen, beweist die politische Realität dieser Zeit. Bemühungen der Bürger, ihre Anliegen zu Gehör zu bringen, werden vielmehr mit Demonstrationsverboten beantwortet, die unter dem Einsatz verstörender Polizeigewalt durchgesetzt werden.

Wie viel Gehör die Meinung Andersdenkender im öffentlichen Diskurs findet, zeigt sich daher als Gradmesser einer lebendigen und gesunden Demokratie. In einer Demokratie darf es nicht dem persönlichen Ermessensspielraum weniger überlassen werden, ob, wann, wem das öffentliche Ohr gewährt wird. Meinungs- und Deutungshoheit an die Organe der Macht, beziehungsweise machvoller Medien zu koppeln, birgt die Gefahr, dass unpopuläre Stimmen systematisch „überhört“ oder, wie wir es zurzeit erleben, gar vorsätzlich der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Dies schürt Hass und Häme und zersetzt die Gesellschaft. Vielmehr sollte es verbindliche Pflicht und nicht bloße Kür im Zuge von Wahlwerbung der Regierenden sein, öffentliche Hörräume zu schaffen, die auch gesellschaftlichen Dissens zu Gehör bringen, während sie die Integrität Andersdenkender zu schützen vermögen.

Fazit: Für die Wahrung einer Demokratie reicht es keinesfalls aus, dass jeder seine Meinung frei sagen darf.

Warten wir nicht darauf angehört zu werden, hören wir selber zu

Kommunikation ist nicht nur eine der größten Kulturleistungen des Menschen. Begreifen wir Kommunikation auch als bedeutende Handlungsmacht, über die jeder Mensch ab dem Zeitpunkt seiner Geburt frei verfügt, und verstehen wir Öffentlichkeit als Resultat der Gesamtheit aller Kommunikation des Menschen — die sich auch jenseits öffentlicher Foren ereignet —, werden sofort unzählige Möglichkeitsräume zur Gestaltung gesellschaftlicher Wirklichkeit wahrnehmbar. Was kann das heißen?

Der Urgrund unseres Menschseins

Eine signifikante Stellschraube der Gestaltung ist die Kraft der Verbindung, die in den vielschichtigen Zugehörigkeitsnetzen unserer Gesellschaft zirkuliert und die durch offenes Zuhören und Kommunikation entfesselt wird. Auf wen ich höre, wem ich zuhöre, mit dem bin ich verbunden.

Mit dem Zuhören entstehen die Zugehörigkeitssysteme unserer Gesellschaft, weshalb sich mit dem Zuhören — umgekehrt — immer auch Möglichkeitsräume der Gestaltung unserer Gesellschaft öffnen.

Auch wenn manche dieser Zugehörigkeitssysteme tief gespalten sein mögen und manche Beziehung Schaden genommen haben mag, bildet es doch den Urgrund unseres Menschseins, dass wir jederzeit mit einer Vielzahl von Menschen mehr oder weniger eng verbunden sind. Es ergibt Sinn, uns ihnen zuzuwenden und ihnen zuzuhören. Warten wir nicht darauf, angehört zu werden, hören wir selber zu. Setzen wir — ganz entgegen des medialen Trends — ein Gespräch der Verführung entgegen, den anderen abzuwerten, gerade und ganz besonders, wenn wir nicht einer Meinung sind.

Nutzen wir die einzigartige Chance in der Familie, mit Freundinnen und Freunden, Nachbarn und Kolleginnen und Kollegen zu sprechen und dem zuzuhören, was sie in dieser Zeit bewegt. Hören wir ihre Perspektiven, vielleicht gerade weil sie anders sind als unsere, und fragen wir nach. Teilen wir unsere Gedanken mit ihnen im Gespräch. Der primäre Gewinn eines solchen Austauschs liegt nicht darin, zu überzeugen, sondern zu erleben, was uns menschlich und einzigartig macht: die Möglichkeit, unser Dasein im Austausch mit anderen intensiv zu spüren, es mit Energie füllen und immer wieder transformieren zu können.

Auch wenn wir nicht immer zustimmen mögen. Was macht das schon? Entscheidend ist doch die Haltung, in der wir uns begegnen. Kommunikation und hier insbesondere das Zuhören macht uns lebendiger und reicher. Es kann höchst inspirierend sein. Lassen wir uns nicht spalten und aus unseren Zugehörigkeitssystemen vertreiben, arbeiten wir lieber ein Stück weit an mehr Ambiguitätstoleranz. Bleiben wir im Gespräch — und hören wir zu.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Bundeskanzlerin Angela Merkel diskutierte im „Bürgergespräch mit Studierenden, die sich in Corona-Zeiten einem neuen Hochschulalltag gegenüber sehen“. Während des Gesprächs sprach Sami S., ein Student aus Passau, auch Verschwörungstheorien und die Querdenken-Bewegung an und bezeichnete deren Anhänger als „arme Schweine“, die ihm „extreme Angst“ machen würden. (…). Merkel antwortete: „Das ist ja im Grunde ein Angriff auf unsere ganze Lebensweise.“ Diese Menschen seien ihrer Meinung nach „vielleicht auch eine Aufgabe für Psychologen (…).“: https://www.youtube.com/watch?v=tNvrM2arFgc
(2) Als Behauptungen von „Faktencheckern“ soll hier beispielhaft angeführt werden: „Dr. med. Wolfgang Wodarg lügt, wenn er erklärt, dass SARS-CoV-2 PCR-Tests auch wenn sie positiv sind noch nichts über das Vorhandensein von infektiösen Viren oder über deren Ursächlichkeit für Krankheitssymptome aussagen“ oder: „Dr. med. Wolfgang Wodarg leidet an Gehirnschwund“ oder: „Dr. med. Wolfgang Wodarg bringt für Geld die Menschenleben der verwundbarsten Mitbürger und Mitbürgerinnen in Gefahr“ entnommen aus: https://corona-ausschuss.de/wp-content/uploads/2020/11/Klage-LG-Berlin-231120-anonym.pdf
(3) RKI-Chef Norbert Wieler, 28. Juli 2020: „Diese Regeln werden wir noch monatelang einhalten müssen (…). Die müssen also der Standard sein. Die dürfen nie hinterfragt werden. Das sollten wir einfach so tun.“ https://www.deutschlandfunk.de/mehr-covid-19-faelle-in-deutschland-rki-praesident-die.676.de.html?dram:article_id=481382
(4) Saskia Esken, 1. August 2020 https://twitter.com/eskensaskia/status/1289518034621612032?lang=de
(5) Eckart von Hirschhausen, 27. April 2018: https://www.welt.de/debatte/kommentare/article175833877/Eckart-von-Hirschhausen-Wer-sich-nicht-impfen-laesst-ist-ein-asozialer-Trittbrettfahrer.html
(6) RolfSchwartmann, 13. April 2020: https://web.de/magazine/news/coronavirus/privilegien-pandemie-sozialen-netzwerken-posten-contra-35700064
(7) BPK, 24. November 2020: https://www.youtube.com/watch?v=xnPhqDYfO9s
(8) Wolfram Henn, Humangenetiker und Mitglied des Ethikrats der Bundesregierung, fordert Verweigerer einer Corona-Impfung dazu auf, auf Notfallmaßnahmen im Krankheitsfall zu verzichten. 19. Dezember 2020: https://www.n-tv.de/panorama/Impfgegner-sollen-auf-Beatmung-verzichten-article22246339.html
(9) Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, schlägt vor, „Querdenker“ aus Versicherungsschutz ausschließen: 7. Dezember 2020. http://staseve.eu/?p=152714
(10) Foucault, Michel (2007): Die Ordnung des Diskurses. Erw. Ausg., 10. Aufl.
Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag.
(11) Goebel, Bernd ; Müller, Fernando Suarez: Kritik der postmodernen Vernunft: über Derrida, Foucault und andere zeitgenössische Denker. Darmstadt: WBG, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2007.
(12) Tom Buhrow: „Vertrauen in klassische Medien hat extrem zugenommen (…). Wir sind im Dienst der Gemeinschaft und haben etwas Wertvolles zu bieten“, äußerte der Intendant des Westdeutschen Rundfunks (WDR), 23. April 2021: https://www.welt.de/vermischtes/article230608873/Tom-Buhrow-Vertrauen-in-klassische-Medien-hat-extrem-zugenommen.html
(13) WDR-Rundfunkrat Garrelt Duin, ehemals SPD-Landesvorsitzender in Niedersachsen und Minister in NRW, fordert die öffentlich-rechtlichen Anstalten sogar auf, die Zusammenarbeit mit den fraglichen Schauspielern „schnellstens“ zu beenden: https://www.cicero.de/kultur/aufregung-corona-allesdichtmachen-liefers-makatsch
(14) Spivak, Gayatri Chakravorty (2008): Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien: Turia + Kant.
(15) Robert Cibis: „Das Wichtigste für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft ist das Zuhören“ 6. April 2021: https://www.epochtimes.de/politik/deutschland/ovalmedia-chef-robert-cibis-interview-das-wichtigste-fuer-den-zusammenhalt-unserer-gesellschaft-ist-das-zuhoeren-a3485509.html
(16) Bernhard Pörksen: „Zuhören ist der Sehnsuchtsort par excellence“: https://www.deutschlandfunkkultur.de/philosophie-der-kommunikation-zuhoeren-ist-der.2162.de.html?dram:article_id=391788
(17) https://archiv.cdu.de/artikel/plakate-zur-bundestagswahl
(18) https://archiv.cdu.de/zuhoer-tour
(19) https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-08/protestkultur-rechtpopulismus-dialog-aktivismus-bundestagswahl
(20) Foucault, Michel (1994): Überwachen und Strafen: die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
(21) Thürmer-Rohr, Claudia (2006): Achtlose Ohren – Zur Politisierung des Zuhörens. In: Bernius, Volker/Kemper, Peter/Oehler, Regina (Hg.): Der Aufstand des Ohrs – die neue Lust am Hören. Reader neues Funkkolleg. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 267-274.
(22) https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/benedict/rede-250244